Elie Ayaches und Suhail Maliks heterodoxe Konzeptionen der Finance: Der Taumel der Kontingenz

  1. Suhail Malik

Die heterodoxen Positionen von Elie Ayache und Suhail Malik zur gegenwärtigen Finance werden öfters in den Dunstkreisen des Akzelerationismus wahrgenommen, wenn auch nicht breiter diskutiert. Wenden wir uns zuerst der Prosition von Suhail Malik zu. Für uns sind die kontingenten Preisbewegungen der Basiswerte/Underlyings und die ebenfalls kontingente derivative Preisgestaltung selbst als interdependente Prozesse der Kapitalisierung von Zahlungsversprechen im Kontext der differenziellen Kapitalakkumulation zu verstehen. Wie sieht es bei Malik aus? Die kontingente Preisbewegung der Derivate, die sich auf sich selbst beziehen, muss zunächst den Faktor Endlichkeit einbeziehen, insofern der Pay Off des Derivats zum fälligen Termin den Verfall des jeweiligen Derivatvertrags bedeutet. (Malik 2014: 410) Fälligkeit inhäriert aber zugleich eine konstitutive Verschiebung, die der differenziellen Preisgestaltung der Derivate per se zu eigen ist, und deswegen ist sie letztendlich aus der Perspektive der immanenten Features des Derivats selbst, und nicht aus einer exogenen Perspektive zu betrachten, die aus der Bewegung der Basiswerte herrührt. Es dominiert hier die Kontingenz, die sich in der ständig möglichen Revision der Derivatverträge anzeigt, die Endlichkeit. Die »Momente« der Endlichkeit und der Kontingenz bleiben schließlich immer an die Preisbewegungen und »Gesetze« des Kapitals gebunden, wobei dessen Art der monetären Gestaltung der Ökonomie erst die Austauschbarkeit der Derivate und ihrer zukünftigen Geldströme ermöglicht, während die Jagd des Kapitals nach dem Profit entscheidend bleibt.

Die indefinite Variabilität des Preises des Derivats hängt zwar von der ebenfalls variablen Endlichkeit des Vertrags ab (Pay Off, Schedule, Dauer etc.), aber zugleich bleibt diese umgekehrt auf die indefinite Marktvariabilität der derivativen Preisbewegung bezogen. Derivate verschieben die Preise gemäß einer differenziellen Logik der Temporalisierung: Der Marktpreis, der am Ende der Fälligkeit eines Derivatvertrags (Optionen, Futures etc.) vorgefunden wird, stimmt eben gerade nicht mit demjenigen Preis überein, der im Vertrag selbst fixiert wurde, was nichts anderes heißt, als dass es ohne die temporale Nicht-Koinzidenz zwischen Marktpreis (spot price) und fixiertem Preis (strike price) ein Derivat überhaupt nicht geben kann, sondern eben nur den Kauf/Verkauf von gewöhnlichen Waren. Wer beispielsweise Derivate auf Rohstoffe kauft, erwirbt nicht die Rohstoffe selbst, sondern handelt auf einer zweiten Ebene ein preislich stets fluktuierendes spekulatives Kapital, infolgedessen sich Preise auf Preise und eben nicht auf die zugrunde liegenden Basiswerte von Waren beziehen. Die duale Variabilität der Derivate, die in erster Linie die der immanenten Preisbewegung der Derivate selbst ist, nennt Malik die »Plastizität des Derivatvertrags« (Ebd.: 406ff.), ein Begriff, der insbesondere die endogene derivative Preisgestaltung (in ihrer Kontingenz) operationalisiert. Die Plastizität ist hier als konstitutive Bedingung für die Indefinition der derivativen Preisbewegung zu verstehen. Ein Trader, der an den Future-Märkten hedgt oder spekuliert, kann den Vertrag jederzeit verkaufen bzw. auflösen oder zumindest einer Revision unterziehen, indem er während der Laufzeit des Vertrags einen dem ursprünglichen Vertrag entgegengesetzten Deal realisiert. Dabei nimmt der Trader eine Long Position und eine Short Position auf den in Frage kommenden Deal ein. Mit dieser Art der Positionierung, die man als »flat« bezeichnet und bei der keine Auslieferung des Underlyings notwendig ist, kann der Trader entweder Verluste oder Gewinne realisieren. Der Trader nimmt hier eine rekombinante Subjekt-Objekt Position ein, die einerseits durch den subjektiven Opportunismus, der darin besteht, ständig von einer Position in die andere wechseln zu können, und andererseits durch die objektive Relationalität der derivaten Preisgestaltung selbst gekennzeichnet ist (unter Dominanz der letzteren). Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass gerade der Sachverhalt, dass man mehr als nur eine Position auf dasselbe Asset halten kann, die nominellen Größen der Umsätze an den Finanzmärkten weit über ihre aktuellen Kreditexpositionen hinaus inflationiert.

Es lassen sich laut Malik vier Sachverhalte feststellen, die für die Ökonomie der differenziellen Preisgestaltung der Derivate wichtig sind. (Ebd.: 404)

  1. Der Derivatvertrag inkludiert Konditionen, die sich auf die Preisbewegungen des externen Referenten (Underlying) beziehen.

  2. 2) Die Konstitution der Derivate beinhaltet komplexe Modi einer intrinisisch temporalen Bindung und Spaltung der Gegenwart, wobei allerdings die Ungewissheit der Zukunft die entscheidende Rolle spielt, sodass stets das Risiko eingeschätzt werden muss, mit dem alle Preisentscheidungen kontinuierlich überarbeitet werden.

    3) Die derivative Preisgestaltung erzeugt einen neuen Modus der Optionalität, mit dem sich die Preisgestaltung intrinsisch auf die Operationen an den eigenen Märkten bezieht, und zwar mit Hilfe von kontraperformativen Akten, welche die singulären Bedingungen der exogenen Referenz des Basiswerts für die Preisgestaltung explizit machen.

    4) Die derivative Preisgestaltung erfordert definitiv das Moment der Kontingenz, mit dem die Endogenität der Preisgestaltung der Derivate selbst auf jegliche Preisprozesse ausgedehnt wird – und diese vierte Dimension bezeichnet Malik als die »apriori-Finanzialität« der Kapitalisierung.

Die differanzielle Preisbewegung unterscheidet sich von der Wette, insofern die Preisbewegungen der Derivate endogene Operationen mit einer indefiniten Plastizität (mindestens bis zum Verfallsdatum der jeweiligen Verträge) implizieren, für die der exogene Referent (der Basiswert) sogar operationalisiert werden kann. (Bei der Wette bleibt hingegen das exogene Wettereignis von der Wellte selbst unabhängig.) Die derivative Preisgestaltung, die sich ja nicht nur in einem indefiniten Prozess vollzieht, sondern diesen auch gestaltet, integriert und bestimmt sogar die Preisbewegungen der Basiswerte. Was letztendlich an den Derivatmärkten ausgepreist wird, das ist der Preisbildungsprozess der Derivate selbst. Diesen Prozess sollte man Malik zufolge als einen durch den »Infrawager« (ebd.. 417f.) konstituierten immanenten Prozess bezeichnen und dies heißt, dass die Terme der derivativen Preisgestaltung in erster Linie eben nicht von extern determinierten Bedingungen abhängig sind, sondern von den internen Bewegungen der eigenen Parameter, Koeffizienten und Variablen. Die Realität des Infrawagers, die sich in und mit der derivativen Preisgestaltung manifestiert, existiert Malik zufolge innerhalb einer zweifach gefalteten Kontingenz: Kontingenz der Abstraktion (Variabilität des Derivatvertrags und generelle Fungibilität des Underlyings) und Kontingenz der Revision (indefinite Plastizität der differenziellen Preisbewegung selbst, das heißt potenziell ständige Verschiebung des Preises). (Ebd.: 420) Diese kontingenten Bedingungen des Auspreisens bleiben stets an die institutionell-materiellen Machtpraktiken des finanziellen Kapitals, die an den Derivatmärkten vorzufinden sind, sowie an die monetäre Architektur der quantitativen Kapitalisierung gebunden.

Die Preisgestaltung der Derivate ist für Malik als immanent und als kontingent einzuschätzen, wobei sie eine spekulative Dimension hinsichtlich der unbekannten Zukunft installiert. Unter diesem Aspekt konstituiert das Derivat die dritte Komponente der Kontingenz, die thetische Kontingenz. Die thetische Kontingenz führt die Ent-identifizierung der Preisbewegung nicht nur in Bezug auf das Underlying vor, sondern sie beinhaltet innerhalb des derivativen Preisbildungsprozesses die Ent-identifizierung des Preises in sich selbst, das heißt, jeder Preis ist möglich, er könnte aber auch je schon anders sein. Die temporale Verschiebung der Preisbewegungen der Derivate ist keineswegs nur als eine rein zeitliche Ausdehnung der Gegenwart (Antizipation) zu verstehen, sondern sie beinhaltet das endogene Splitting der Gegenwart selbst. Zugleich ist die Preisbewegung Teil der futuristischen Kontingenz, die allerdings auf die Aktualisierung des Derivtas nicht verzichten kann. Die Fälligkeit wiederum ist der Zeitpunkt, an dem der Preis des Derivats mit dem Preis des Underlyings konvertibel ist, oder, um es anders zu sagen, Äquivalenz erfordert zu diesem Zeitpunkt einen gemeinsamen Preis für das Derivat und das unterliegende Asset. Diese Übereinstimmung könnte man als die Bewertung des Derivatvertrags bezeichnen, die immer qua Geld realisiert wird. Bewertung ist der Abschluss, die Erschöpfung und das Fazit des Preisbildungsprozesses der Derivate; sie artikuliert die Aufhebung der Differenz zwischen strike price und spot price am Ende der Vertragsperiode.

1) Wegen seiner exogenen Referenzialiät ist der Wert, der je schon in Geld ausgedrückt wird, gegenüber dem derivativen Preis zunächst der determinierende Term, um überhaupt den Sachverhalts des Kaufs oder Verkaufs von Derivaten festhalten zu können. 2) Die Bewertung des Derivats und des Underlyings wird schließlich durch die derivative Preisgestaltung vorgenommen, und diese wird im Zuge der (impliziten) Volatilität andauernd modifiziert. Letztendlich ist es zumindest an den Finanzmärkten der Preis, der zu jedem erdenklichen Zeitpunkt den Wert virtualisiert, und dies wird im Rahmen der derivativen Preisgestaltung manifest, i. e. der Preis manifestiert die Realität der derivativen Preisgestaltung (manifest-ohne-Manifestation). Somit können wir hinsichtlich der Derivate von keinerlei »Verankerung« des Preises durch den Wert ausgehen. Und dies heißt weiter, dass gerade wegen der endogenen Konstitution des Preises qua Infrawager der Wert an den Finanzmärkten nicht in erster Linie durch externe Faktoren wie Handel, Knappheit, Nachfrage, Nutzen, Gebrauchswert, abstrakte Arbeit etc. bestimmt wird.

Die Apriorität des Derivatpreises bezeichnet Malik als »Arkhéderivative« (ebd.: 445ff.). Und dies unter der Voraussetzung der Anwesenheit von dreifacher Kontingenz: Variabilität des Derivatvertrags (Kontingenz der Abstraktion), Variabilität des derivativen Preises (Kontingenz der Revision) und absolute Volatilität der Preisbildung (thetische Kontingenz). Laut Malik repräsentiert heute insbesondere die absolute Volatilität die Kapital-Macht.

Mit der Festschreibung des Aprioris der Finanzialität bzw. der absoluten Kontingenz gelingt es Malik aber gerade nicht, obgleich er es verzweifelt versucht, seine Ontologie des Preises an die Theorie der Kapital-Macht, wie sie von Bichler/Nitzan konzipiert wird, anzubinden. Es wäre hingegen zu zeigen, dass die Kontraperformativität bzw. Volatilität der Preisbewegung immer schon an die materielle Existenz des Derivats gebunden bleibt (und dies impliziert gewisse Voraussetzungen und Bedingungen, ja Determinationen, die in erster Linie nicht auf Kontingenz aufbauen, sondern solche der Quasi-Transzendentalität des Kapitals sind). Es gibt eine Positivität der Setzung, und diese beweist die Unschlagbarkeit der Existenz des Derivats als einen wichtigen Operator der Kapitalisierung. Damit sich ein Derivatvertrag realisiert und möglichst Profite abwirft, muss er auf Papier geschrieben, und dieses muss wiederum abgegeben und getauscht werden. Der Derivatvertrag ist damit identisch eins und widersteht in gewissem Sinn der Kontingenz und wird sich auch bezüglich der zukünftigen Möglichkeiten und Zustände nicht ändern. Er behält zumindest seine materielle Identität bei, um ausgetauscht zu werden. Und dies geschieht je schon unter gewissen ökonomischen Bedingungen. Dies gilt es mit Laruelle und Ayache unbedingt gegen Malik einzuwenden. (Vgl. Ayache 2010a) Ein Derivatvertrag wird also geschrieben und seine Operation oder Programmierung läuft im besten Fall darauf hinaus, dass eine bestimmte Geldsumme in der Zukunft ausgezahlt wird, falls eben ein bestimmtes, im Vertrag spezifiziertes ökonomisches Ereignis eintritt. Der Pay Off hängt zunächst von der materiellen Kodierung im Vertrag ab, und dieser muss, falls das Ereignis eintritt, als Papier gegen die Geldsumme, die ausbezahlt wird, ausgetauscht werden. Jedoch müssen die Bedingungen, die den Austausch des Derivats gegen Geld bestimmen, nicht unbedingt eintreten. Somit beinhaltet das Derivat keinen Zustand zum Zeitpunkt der Fälligkeit, obgleich seine ex-post Bewegung oder seine Zukünftigkeit ihm eingeschrieben ist. Und insofern ist der Vertrag wiederum auch kontingent, aber nicht wahrscheinlich. Der reale und ungeteilte Derivatvertrag könnte heute gegen Geld auf dem Markt ausgetauscht werden und er könnte dies auch zu einem anderen Preis bei Fälligkeit. Und die Spanne zwischen den beiden Ereignissen kann nicht durch Wahrscheinlichkeit überbrückt werden. Schließlich muss man resümieren, dass Derivate nicht nur eine Technologie der Zeit und eine Technologie der Macht inhärieren (Malik versucht an dieser Stelle die triadische Kontingenz (Zeit) und die durchaus zu kritisierende Theorie des Kapitals als Macht zusammenzukitten), sondern zuallerst eine Form des Geldkapitals sind.

Gegen Malik muss man weiterhin einwenden, dass die Ontologie in diesem Kontext dazu tendiert, die Kapitaltheorie philosophisch zu überdeterminieren. Wenn etwa Frantz Fanon schreibt, dass die Ontologie es nicht gestatte, das Sein des schwarzen Mannes zu verstehen, so erlaubt es die Ontologie, selbst wenn sie als Dekonstruktion konzipiert wird, in ähnlicher Weise nicht, das »Sein« des finanziellen Kapitals zu verstehen. Malik betont zwar selbst immer wieder, dass die Ontologie der Finance (qua Kontingenz, différance etc.) an das Konzept der Kapital-Macht, wie es von Bichler/Nitzan entwickelt wurde, anzubinden sei, allerdings verbietet es die Ontologie, wie sie gegenwärtig als spekulativer Realismus an den Theoriemärkten angeboten wird, geradezu, die Frage nach der Deontologisierung des Kapitals und seinen Machtpraktiken radikal zu stellen. Maliks permanent vorgetragener Hinweis, dass die derivative Preisgestaltung qua Kontingenz die Frage nach der Wahrheit ständig entwerte, hätte ihn selbst auf eine genauere Problematisierung der Ontologie stoßen müssen. Man muss in diesem Kontext allerdings darauf hinweisen, dass Malik sich deutlich von den Akzelerationisten bzw. spekulativen Realisten absetzt, denen er die Wiedereinsetzung eines universellen Normativismus unter dem Deckmantel aufklärerischer Rhetorik vorwirft, die das Problem der modernen Finance nur noch weiter verdunkelt.

Die Fragwürdigkeit, das Gewicht der ökonomischen Analyse ganz auf die begrifflich-diskursive Seite zu verlegen, hat sich mit der philosophischen Dekonstruktion bestimmter Begriffe, wie Malik dies vorführt, längst noch nicht erledigt. Es rächt sich zudem, dass dem Begriff der Kontingenz nicht der richtige »Ort« in der Analyse zugewiesen wird – er wird sozusagen »zentralisiert«, statt im Rahmen der Aktualisierung-Virtualisierung-Verschaltung diskutiert zu werden. Zudem ist Kontingenz auch als ein Aspekt des ökonomischen Mathems zu behandeln und dies heißt wiederum, dass die linguistische Hegemonie in der Ökonomiekritik radikal aufgebrochen werden muss. So gerät Maliks Ankopplung der Kontingenz an das Konzept der Kapital-Macht bei Bichler/Nitzan als eine merkwürdig beliebig ablaufendes Unternehmen. Während Malik die Ontologie ganz an der »Oberfläche« situiert (Preisbildung), ohne sich, an dieser Stelle allerdings richtigerweise, um Essenzialismen wie Nutzen oder Arbeit zu kümmern, verorten viele hegelianische Marxisten, wovon ja selbst Marx nicht immer frei war, die Ontologie als einen unter der Oberfläche (Struktur der Zeichen) ablaufenden begrifflichen Prozess, der das Eigentliche bzw. das Signifikat sei (abstrakte Arbeit) und der die Erscheinungen an der Oberfläche wiederum als Verkehrung zum Ausdruck bringe. Damit wird in beiden Theorien die unbedingt notwendige Analyse des Verhältnisses von Begriff und ökonomischem Mathem von vornherein geschleift, während weiterhin an der philosophischen Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung festgehalten wird (bei Malik als ein dekonstruktives Verfahren). Während Malik den anti-essenzialistischen Aspekt der Ökonomietheorie in fast schon komischer Weise, weil rein begrifflich und als fixe Struktur einer negativen Dekonstruktion, konstruiert, ja überbetont, fundieren die Arbeitswertmarxisten ihren Essenzialismus mit Kategorien wie abstrakter Arbeit, Substanz etc.

2) Elie Ayache

Auch der französische Theoretiker und Trader Elie Ayache behauptet, dass Derivate Kontingenz handelten, insofern die Differenz, die mit ihrem Handel, der stets auf Zukunft bezogen bleibe, hergestellt werde, gleichzeitig eine Differenz in der Gegenwart markiere. Der Begriff Kontingenz besagt in der Minimaldefinition (relative Kontingenz), dass etwas, so wie es ist (war oder sein wird), sein könnte, aber auch anders möglich ist. (Luhmann) Dagegen versteht Ayache den Begriff der Kontingenz als absolut, unbedingt und unabhängig, als unaustauschbar, sozusagen als das Ding-in-sich, insofern Dinge sind, was sie sind, aber sie könnten eben auch immer anders sein. Es geht für die Händler von Derivaten an den Finanzmärkten darum, angesichts von Unsicherheit einen handelbaren Preis aus den vielen Möglichkeiten, die die Preisbewegung der Derivate anbietet, zu bestimmen. Wenn Händler Derivatverträge, die Ayache kontingente Forderungen nennt, schreiben, dann kreieren sie Formulare der Kontingenz, wobei die Differenz, die in der Zukunft aufgemacht wird, eine Differenz jetzt schon macht, und zwar aufgrund dessen, dass der Preis selbst ein Differenzial ist.

Die Derivathändler beobachten nicht nur die Zeitserien der Preisbewegungen der den Derivaten zugrunde liegenden Basiswerte, sondern vor allem die Bewegungen der Derivatpreise selbst. Der Derivathandel und dessen Preisfluktuationen weicht also in der Realität stark von den Methoden einer vergangenheitsbezogenen Statistik ab. Derivathändler interessieren sich eben nicht in erster Linie für die Statistik der Basiswerte und deren Preise, stattdessen erzeugen die fluktuierenden Preise der Derivate eine Oberfläche namens Markt, auf dem die Preise eingeschrieben und die Preisbewegungen der Derivate von den zugrunde liegenden Bewegungen der Basiswerte getrennt werden.

Eine wichtige Frage besteht für Ayache darin, wie man den Preis eines Derivats fixiert, der mit der jeweiligen Strategie des Händlers konform geht. Jede dynamische Trading-Strategie sollte Ayache zufolge dem Auspreisen eines Derivats äquivalent sein. (Vgl. Ayache 2010a) Was die Angelegenheit komplizierter macht, das besteht einfach darin, dass der Preis des jeweiligen Derivats durch eine dynamische Verkettung der Derivate und ihrer Preisen – Derivate bezogen auf Derivate bezogen auf Derivate – bestimmt und zugleich verschoben wird. Der Term Markt bezeichnet den simulativen Raum, der die Translation der kontingenten Forderungen ermöglicht, das Medium, durch das die kontingenten Forderungen während ihrer Laufzeit sich bewegen, bis eben ein fraglicher Wert aktualisiert wird und dann keine Zukunft mehr vorhanden ist. Für Ayache bezeichnet der Markt zudem eine Oberfläche, die wesentlich stärker auf dem Raum als auf der Zeit basiert. Eine Oberfläche für die Einschreibung von Preisen, die nichts weiter als ein Set von bedeutungslosen, quantifizierbaren Zeichen sind, die miteinander kommunizieren. Die instantan generierten Marktpreise der synthetischen Derivate sind also auf einer Oberfläche verteilt, die die Händler von der Beobachtung der Basiswerte isoliert.

Was ist für Ayache eine kontingente Forderung? Es ist etwas, das den in der Stochastik angedachten zwingenden Transfer zwischen Möglichem und Realem ersetzt, und zwar mit Hilfe eines geschriebenen Vertrages, der zwar einen realen, materiellen Status besitzt, aber zugleich ein kontingentes Formular ist, das ständig die Realität kreuzt. (Ayache: 2010b: 45) Mit Geld wird die kontingente Forderung realisiert, wobei es parallel zur kontingenten Forderung existiert; es fungiert als eine materielle Realität, gegen welche die liquide kontingente Forderung des Derivats eingelöst wird; und dies kann während der Laufzeit des Vertrages oder bei Fälligkeit geschehen. Der Preis der Derivate wird in den indefiniten Prozessen der Gegenaktualisierung/Virtualisierung produziert; er ist das Resultat der permanenten Übersetzungsleistungen von kontingenten Forderungen. (Vgl. Ayache 2010) Auch die Differenz zwischen stockprice und strikeprice impliziert je schon Kontingenz. Obgleich ein Basiswert immer aktuell gegeben ist, hält das Derivat wegen seines permanent wechselnden Preises den Wert de facto instabil. Das Reale des Werts wird durch die Aktualisierung des Derivats bei Fälligkeit affirmiert. Die Aktualisierung des Preises bleibt von den Programmen der kontingenten Forderungen im Rahmen von diversen Schedules und Zeitfristen abhängig. Die »last minute« Instabilität des Werts, die gerade das Produktive des Preises ausmacht, bezeichnet Ayache als Volatilität. (Vgl. Ayache 2010b) Absolute Volatilität bleibt immer jenseits der chronologischen Zeitordnung angesiedelt. Sie ist rein virtuell und erscheint nicht in der (chronologischen) Zeit. Die Dimension, in der die kontinuierliche Virtualisierung qua Preis sich entfaltet, ist für Ayache gleich der virtuellen Dimension der Zeit, ist Raum. Dabei bleibt die absolute Volatilität mit dem Term Preis vernäht, insofern Kontingenz im Preis die Übersetzung ihres differenziellen Charakters findet, d. h., als Volatilität ihren Indeterminismus bestätigt sieht. Demzufolge besitzt der Begriff des Preises einerseits eine virtuelle Komponente, andererseits verweist er aber auch auf den empirischen Aspekt der derivativen Preissetzungen. Der Preis, der Antizipationen anzeigt und damit zukunftsorientiert ist, bleibt also zugleich in der Aktualität des Marktes angesiedelt. (Vgl. Ayache 2005:13)

Das Geld ist materiell und es zählt, während die Wahrscheinlichkeitstheorie, mit der die meisten Händler arbeiten, gerade nicht zählt. Geld realisiert eine Differenz, die dem synthetischen Derivat eigen ist, und zwar genau dann, wenn ein Ereignis eintritt. Gewöhnlich definiert man die Differenz, die den kontingenten finanziellen Forderungen innewohnt, in Bezug auf die zugrunde liegenden Basiswerte, und damit wird Kontingenz in ein Korsett identifizierbarer wahrscheinlicher Fälle unter der Herrschaft der Eins integriert. Die Eins steht für die Gesamtheit der Fälle. Wenn aber die Fälle an den Märkten Preise sein sollen, dann sind die kontingenten Preise der Derivate auch als Fälle zu verstehen und zwar in gewisser Unabhängigkeit von den Basispreisen. Natürlich gibt es die Laufzeiten der Derivate bezogen auf ihre Basiswerte, aber die Erstellung eines Derivatvertrags erfolgt vor seiner Laufzeit. Und schon lange bevor der Vertrag ausläuft, beziehen sich die Preise der Derivate nicht nur auf die Basiswerte, sondern auf die Volatilität der Derivatpreise selbst, auf die Volatilität der Volatilität usw. Die Regel der Preisfixierung besteht dann in der kontinuierlichen Rekalibrierung der Modelle der Risikobewertung in Bezug auf neue Preise. Stattdessen geht aber die Stochastik weiterhin davon aus, dass die Händler von einem Tag über eine Passage – mit einer gewissen Wahrscheinlichkei zum nächsten Tag gelangen. Die unwahrscheinliche Annahme, dass die wahrscheinlichen Fälle des heutigen Tages mit denen des morgigen Tages kommensurabel sind, fasst die kontingente Preisfestsetzung immer als rückwärts gerichtet. Zugleich benötigt man aber die Konstruktion einer Anzahl von möglichen zukünftigen Fällen unter der Ägide der Eins (Wahrscheinlichkeit), um den aktuellen Wert der Derivate als die diskontierte Erwartung zukünftiger Fälle/Preise zu berechnen. Damit sind aber für Ayache auch schon die Grenzen des stochastischen Maßes Volatilität angezeigt, während man doch die bestimmenden Parameter des Derivats im Kontext einer dynamischen »Replikation« ständig neu erfinden und fixieren muss. Es findet keine Reiteration bereits bekannter oder durch Risikomodelle geplanter oder fixierter Preise statt, gerade weil man sich auf eine Zukunft bezieht, die so niemals präsent sein wird (Unsicherheit). Es gibt also keine konstanten Übergänge zwischen wahrscheinlichkeitsbasierten Fällen von heute auf morgen zu vermelden, vielmehr schlafen wir in den Intervallen; diese Intervalle sind irritierende Größen, weil das verbindende Zwischenglied zwischen den Fällen fehlt; es handelt sich bei diesen Intervallen um leere Zwischenzeiten, in denen alles Mögliche geschehen könnte. Für Ayache stellen kontingente Forderungen an den Finanzmärkten die Konversion der Schulden dar, insofern jene zukunfts- und Schulden vergangenheitssorientiert sind. Anstatt im laufenden Hedging bestimmte Instrumente auf aktuelle Modellierungen zurückzufalten, käme es viel eher darauf an, ein Upgrade auf das nächste Level des Hedgings vorzunehmen, indem man mit Parametern rechnet, die bei einem bestimmten stochastischen Modell benutzt werden, um eine dem Modell entgegenstehende »Hedging ratio« zu schaffen, während bei einer zweiten Option, die in ihrem Preis von der ersten Option differiert, ein Hedge gemäß ihrer selbst vorgenommen wird. Zum Dritten sollte dann berücksichtigt werden, dass jedes Mal, wenn man eine Abweichung des Optionspreises von demjenigen Preis feststellt, den das gegenwärtige Modell vorhersagt, dies als ein Signal zu interpretieren ist, um das gegenwärtige Modell auf die nächste stochastische Stufe zu upgraden, wobei man den abweichenden Optionspreis als ein Hedging Instrument gegen den nächsten stochastischen Faktor benutzt.

So könnte man Ayaches durchaus an bestimmten Stellen auch fragwürdige Position zu den Derivatmärkten zusammenfassen, insofern man hier tatsächlich von einer Metaphysik des Marktes als unkörperliche Oberflächenwirkung sprechen kann, die jedoch ohne Materialität nicht auskommt. Gerade im Infiniten der synthetischen Derivate selbst könnte nun eine Bedrohung für das ökonomische System liegen, weil sich wirklich keine Eigenschaften der Assets (cashflow, Risiko, Zeit etc.) mehr in einer spezifischen Zeitperiode fixieren lassen (die Bestimmtheit der Zeit leer bleibt), d. h., die entsprechenden Elemente eines Assets, die nichts weiter als jene Eigenschaften sind, insistieren je schon in einer sich wiederholenden Differenz, womit dann auch der Aufschub keine Lösung mehr brächte, weil schließlich die Differenz von Fixierung und Wandel selbst verschwunden wäre. Wenn mit der différance ein Denken verbunden ist, dass sich weigert, zwischen den Alternativen Unsicherheit und Sicherheit (Kalkül) zu entscheiden, zwischen Öffnung und Geschlossenheit, indem die Lücke sui generis aufgehalten wird, so kippt bei Ayache das Denken in die totale Unsicherheit oder Öffnung hinein. In diesem Kontext wäre dann die Struktur dem Prozess radikal funktional untergeordnet, wobei aber darin das hyper-fungible Framework der Variablen höchst problematisch bleibt, weil es schließlich an unendlich tauschbare Simultaneität grenzt. Das System Kapital setzt sich je schon als seine eigene Umwelt, es mutiert nun in aller Reinheit zu einem sich selbst voraussetzenden System, dessen nur zeitweilige Fixierungen kontingent insistieren und das selbst vom Chaos nur einen Spalt weit entfernt rotiert. Und Hyper-Chaos ist gleich absoluter Raum, das heißt Beweglichkeit von beweglichen Elementen, womit es kontinuierlich zu neuen Konstellationen kommt. Der absolute Raum ist ein offener Raum, bei dem es um die symbolische Bezeichnung geht, und zwar als Bezeichnung der Relationen von Indici und der Mitbezeichnung von Körpern/Schriften. Egal ob man aber nun daran anschließend Ultrastabilität oder Ultrakrisenanfälligkeit des Systems vermutet, das in seiner permanenten Veränderlichkeit insistiert, es bleibt nach wie vor das kapitalistische System, das sich als dieselbe Reproduktion (in der Zeit) setzt, in dem allerdings die Elemente der bürgerlichen Ökonomie und der Kräfte der Produktion zunehmend von den Relationen des monetäen Kapitals und seinen Machtbeziehungen subtrahiert werden. Dagegen fände reine Konkurrenz auf einer Oberfläche statt, die Markt heißt, ohne die Wertformen oder das Kapital überhaupt noch zu benötigen. Die Grenzen des Systems wären so fluide wie seine Maßstäbe, es herrschte das Prinzip des reinen Opportunismus, dem schließlich alle reterritorialisierenden Erwägungen ein Kreuz sind, weil sie nur die Konkurrenz/Kontingenz an den Finanzmärkten restringieren. Wenn weder Eigenschaften noch Funktionen, noch Funktionen von Funktionen fixiert sind, dann gibt es schließlich nur die n-te Superfunktion als Abwesenheit jedes Finiten bzw. jedes Zentrums. (Schwengel 1978: 204) Dementsprechend ginge es jetzt rein um die Leere oder um die leere Stelle der Existenz, um die reine Konkurrenz ohne jeden Antagonismus, wofür sich schließlich tatsächlich die Ontologie der Menge bei Badiou wieder heranziehen lässt, mit der das Multiple von jeder Einheit befreit wird, und zwar durch die leere Menge, das Multiple vom Multiplen bis hin zur Unendlichkeit. Schließlich bliebe zur Darstellung der Kontingenz noch die Torsion oder das Möbiusband als topologisches Prinzip übrig, um Reversibilität und Simultaneität zu denken, Momente, die vom reinen Prozess nicht zu unterscheiden. Deleuze hatte hier die Spur gelegt, indem er auf Nietzsche zurückgriff, der das, was wirklich unendlich ist, als einen Prozess der (kreativen) Wiederholung fasste, der allerdings auch ohne Weiteres in einen nihilistischen Prozess des ewigen Weitermachens umschlagen kann, sodass dann tatsächlich nur noch ein wahlweise messianisches oder technologisches Wunder hülfe, um des Weitermachens um des Weitermachens zuliebe zu entkommen.

Es bleibt in diesem Zusammenhang auch fraglich, ob Ayaches affirmativer Bezug auf die Ereignistheorien von Badiou und Deleuze so ohne Weiteres berechtigt ist. Bei Badiou erscheint die leere Menge als das Universelle, das aller Qualitäten beraubt ist, was man u. U. mit dem Wert auf dem abstraktesten Level identifizieren könnte: Volatilität als absolute Kontingenz. Nun ist aber die philosophische Entscheidung, die darin besteht, sich der Mengentheorie zuzuwenden, nicht kontingent, vielmehr reflektiert sie bestimmte Traditionen, ja sie reflektiert in gewisser Weise sogar das Quasi-Transzendentale des Kapitals auf einem bestimmten Level, hier der Warenform bzw. der Kommodifizierung. Wir hatten das in der Diskussion um Peter Rubens Warenanalye vorgeführt. Kommen wir an dieser Stelle nur kurz zu Deleuze: Die von Deleuze vorgetragene Konzeption des (nietzscheanischen) Würfelwurfs besteht genau darin, dass der Würfelwurf einzig ist, wie es nur ein Ereignis gibt, das wiederum das Ereignis des Einen ist, das Werfen für alle Würfe. Der singuläre Würfelwurf besteht in der Bejahung des Zufalls und in allen Würfen kehrt derselbe Wurf wieder, aber immer etwas anders. (Vgl. Deleuze 1992a: 151f.) Das scheint wirklich kein Fall für die Stochastik zu sein, wonach der Zufall aus einer regelbaren Reihe von Würfen besteht. In der Tat entspricht Deleuze’ Konzeption des Ereignisses keinesfalls der Simulation einer vorher schon auferlegten Regel. Aber entspricht sie etwa der Kontingenz der Derivatmärkte? Wir wollen der Frage im nächsten Abschnitt genauer nachgehen. Wenn Deleuze vom leeren Platz spricht, über den die singulären Fälle immer wieder neu verteilt werden, dann soll dies laut Ayache der permanenten Rekalibration von kontingenten Forderungen entsprechen, wobei das Schreiben der kontingenten Forderungen eine direkte Übersetzung der Verträge in Preise nach sich zieht, ohne dass man dabei notwendigerweise in das Medium der Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten eintauchen muss. Stochastik wäre demnach immer als rückwärts gewandt zu verstehen, während der kontingente Preis einer reinen Zukunftsbezogenheit entspricht. Und diese Dualität, so Ayache, sei der Theorie der Quanten längst bekannt, welche sich mit rückwärts- und vorwärtsbezogenen Gleichungen befasst.

Ohne Zweifel entspricht die dromologische Produktionspanik an den Finanzmärkten einem Denken, das mit der Figur der sturen Vorhersehbarkeit der Ereignisse bricht, selbst mit der Schizophrenie, die bspw. der Paradoxie des Zenon’schen Zeitpfeils eigen ist (rasender Stillstand). Wenn der Zeitpfeil selbst zu trudeln beginnt, komplementär wie Quanten in Raum und Zeit schwingen, indem sie zwischen Wellen und Teilchen wechseln, so beginnen auch die Preisbewegungen auf der Oberfläche des Marktes als Serien ständig variierender Tauschhandlungen zu schwingen, als Vertauschungen von Raum und Zeit, die allerdings ohne ihre materiellen Effekte nicht zu denken sind. Es entstehen Netzwerke mit variablen Knoten, die als Reservoirs der verbrauchten und der kommenden Zeit dienen, aber immer noch sind es Reservoirs des Kapitals, das als autoreferenzielles System systemerhaltende Operationen benötigt, die die deterritorialisierten Strömungen garantieren, während sie sich gleichzeitig von den Reservoirs nähren. War das Geld ein entscheidender Operator der Moderne, um Synthesen im Kapitalismus herzustellen, so sind mit dem synthetischen Geldkapital Operatoren geschaffen, die in Realtime als multidimensionale Sets von techno-medialen Prothesen auf den Oberflächen der Märkte und deren Felder sich bewegen, worauf Ayache eben ständig reflektiert. Zweifelsohne inkludieren synthetische Assets die von Deleuze/Guattari angesprochene Translation des Mehrwerts an Code in den Mehrwert von Strömen, was über ständig neue, virtualisierende Preisfestsetzungen funktioniert, um schließlich jenen maschinellen Mehrwert zu generieren, der zwar der Aktanten bedarf, aber nicht das Resultat ihrer Exploitation ist. Die deterritorialisierten Ströme bleiben jedoch an das Integral gebunden, dessen Digitalität dazu dient, die Ströme an den Code Profit/Nicht-Profit anzukoppeln. Tatsächlich gibt es Schnittstellen zwischen dem immanenten Akzelerationismus der Finanzmärkte und den verschiedenen Regimen des postfordistischen Kapitalismus, wobei jedoch Faktoren wie die Techniken der Gouvernementalität und der Reterritorialisierung in den meisten Überlegungen kontingenzorientierter Autoren ausgespart bleiben. Der Markt wird quasi als eine neutrale Sozialform behandelt, ohne auf seine ihn konstituierenden kapitalistischen Bedingungen und den Status seiner relativen Autonomie zu rekurrieren. Er wird als eine soziale Maschinerie betrachtet, deren wesentliches Kennzeichen die je schon instabile Immanenz ist, wobei nicht nur der Staat, sondern auch das Kapital zu externen Parasiten mutieren, oder nur noch als loses Korsett für die absolut kontingenten Finanzmaschinen dienen, die auf allen Ebenen selbstreferenziell die Erzeugung der Rendite beschleunigen, und dies mit einer sich selbst synthetisierenden Potenzialität, die man von ihrer intensiven Materialität nicht mehr zu unterscheiden vermag. Der Markt als virtuell zirkulierende Struktur reiner Konkurrenz, die mit dem virtuell fixierbaren Prozess (Angebot und Nachfrage) identisch ist, diese Einheit bleibt stets auch abwesend, insofern sie in der letzten Instanz immer noch durch die Realität des Kapitals radikal determiniert wird. Geht man dabei von einer Homogenität des Kapitals aus, so lässt sich der Markt entweder als Exekutor oder als Abweichung des Wertgesetzes konzipieren. Seine Konstitutionsprozesse würden dann im ersten Fall durch nackte Wiederholungen organisiert werden, insofern hinsichtlich der Exekution nur Modifizierungen der Gesetze stattfänden, die keinen qualitativen Veränderungen hervorbrächten, während mit der Abweichung scheinbar eigene Gesetze gesetzt wären, die letztendlich aber auch nur Wiederholungen der durch das Kapital gegebenen Determinationen wären. Offenes Ganzes als Kapital hieße, das Kapital weder als Subjekt noch als Totalität zu begreifen, sondern als je schon gefährdete Überschussproduktion, die die Leere trassiert, um anstatt der Ultraeins von Badiou, die die Kontingenz der Märkte reflektiert, ein All-together als radikale Determination des Kapitals zu konzipieren, wobei der Markt stets die Einheit der Kapitalformen herzustellen hat, aber es doch nicht kann. Der Markt selbst ist Kapitalinstanz, i. e. die Beziehungen von Unternehmen untereinander und zur staatlichen Intervention werden am Markt und heute insbesondere an den Finanzmärkten kontrolliert, reguliert und reproduziert. So haben wir es beim Markt mit einem komplizierten technologischen Scharnier zwischen Ökonomie und Staat zu tun und zudem mit einer Handlungsarena, in der Differenzen ausgespielt werden, wobei den Marktverfahren die juristische Gleichheit der Akteure als Bedingung vorausgeht.5

Und was den Kant-Komplex bei Ayache angeht, so interessiert uns hier die eigentümliche Emphase hinsichtlich der transzendentalen Wirksamkeit der Synthesis, die allerdings nicht länger als die Synthese von empirischen Daten bzw. von Objekten der möglichen Erfahrung verstanden wird, die ein konstituierendes Subjekt zusammenfasst, vielmehr sind die sich selbst synthetisierenden Potenziale der kontingenten materiellen Maschinen des Finanziellen letztendlich vom Virtuell-Realen ununterscheidbar, der kontinuierlichen Variation der Dimensionen, Eingenschaften und Preise von Assets, die jene transversale »Ontologie« des Virtuellen in Gang setzt, die der Finanzmarkt selbst ist. Dabei ist das Virtuelle Teil des Realobjekts Markt, insofern dieser einen Teil im Virtuellen behält und darin wie in eine objektive Dimension, welche die absolute Kontingenz ist, eingelassen bleibt. Und zwischen den Aktualisierungen an den Märkten und dem Virtuellen (beides ist real) besteht keinerlei Analogie, es gibt kein ätherisches Medium des Übergangs, womit das trennende Intervall als diskontinuierlicher Sprung und zugleich als kontinuierlich zu denken ist, sodass man niemals weiß, wo das Virtuelle beginnt und das Aktuelle aufhört, außer dass in einer einzigen realen Welt die Heterogenese des Werdens aus dem Gewordenen und umgekehrt stattfindet. Und schließlich wäre Materie als intensive maschinelle Produktion der Selbstdifferenzierung bzw. als Körper ohne Organe zu verstehen, wobei sie nur noch vom Tod selbst, dem Moment der absoluten Indifferenz als absolute Indifferenz gestellt werden kann. Jene Art der Materialisierung wäre dann auch tatsächlich eins mit der wirklich gewordenen Zero-Zeit des Kapitals, in der das Virtuelle des Kapitals so gestaucht ist, dass es irgendwann in seinem eigenen schwarzen Loch verschwindet. Aber es geht ja stets auch um materielle, um an die Hardware gebundene Prozesse, es geht um reale Prozesse in der Zeit, die an Rahmungen gekoppelt bleiben (siehe Fußnote zu Kittler), an die Quasi-Transzendentalität des Kapitals als Gesamtkomplexion. Ayache setzt aber anscheinend voraus, dass das jeweilige Produkt der Produktion vor allem als depotenzierter Effekt der primären Produktion der Kontingenz interessiert, die beständig die binäre Differenz zwischen Repräsentation/Struktur und Prozess dahingehend auflöst, dass schließlich Simultaneität an Märkten erreicht wird, eine Beschleunigung und Intensivierung der materiell-kontingenten Prozesse bis zum degree-zero, wie Nick Land sagt, oder zumindest doch eine infinitesimale Annäherung an die Null-Zeit des Kapitals. Warum es aber dafür noch der Subjekte bedarf, obwohl der Prozess so oder so kontingent verläuft, ist hier die Frage, die an Ayache zu richten wäre. Zumindest wird in diesen permanent performativen Prozessen der Desubjektivierung das hegelianische automatische Subjekt namens Kapital zerstreut, obgleich immer die Gefahr besteht, dass man als Kontingenztheoretiker das Opfer ganz anderer Strategien wird, die die eigenen Taktiken plötzlich kommandieren, bspw. derjenigen eines zynischen neoliberalen Kapitalismus.

Hier bestünde dann die Subjektivität des Traders in der Tat im Schreiben des Derivats als creatio ex nihilo – eines Traders, der wahrscheinlich vom Bild einer voraussetzungslosen tabula rasa unheimlich fasziniert ist und zugleich doch in ihm gefangen bleibt, um sich mit seinem rastlosen Schreiben letztendlich in die offenste aller Zukünfte zu beamen. Wenn es tatsächlich eine Zukunft der absoluten Kontingenz gäbe, so bliebe der »Blank Swan« immer auf der Suche nach dem, was nicht ist. Gegen das Konzept der absoluten Kontingenz ist an dieser Stelle auf die Konzeption der modaltheoretischen Kontingenz bei Elena Espositio zu verweisen, die die Anwesenheit der kontingenten Optionalität unter bestimmten Bedingungen beschreibt. Bedingungen, die in der letzten Instanz als diejenigen des Kapitals als Gesamtkomplexion auszuweisen sind (was wiederum die Systemtheoretikerin Esposito nicht denken kann). Die »Märkte« konstituieren einen doppelten Mechanismus, einen Mechanismus zur Disziplinierung und Regulierung der Staaten und Unternehmen, die den neoliberalen Imperativen bezüglich der Produktion und Reproduktion auf der Ebene der Organisation gehorchen und einen globalen Mechanismus, der die Fluktuation der Profitraten repräsentiert. Es handelt sich zudem um einen Mechanismus, der das Wissen produziert, um die Bedingungen für die Kapitalakkumulation und die erweiterte Reproduktion, für die Organisation der finanziellen Fonds aufrechtzuerhalten. Dies sind die grundlegenden Funktionen der Märkte, die keineswegs auf reine Spekulation reduziert werden können.

Erst ausgehend von der Existenz mehrerer Alternativen in der (gespaltenen) Gegenwart, die keineswegs voraussetzungslos sind, sondern stets in den Kapitalkontext eingebunden bleiben, ist derivative Preisgestaltung möglich, die unter gewissen Bedingungen auch anders möglich ist. Über all die Lobpreisung von Kontingenzen haben die Kontingenztheoretiker schließlich vergessen, dass die Derivate – Kapitalisierung von zukünftigen Zahlungsversprechen bzw. Einkommensströmen – einen spezifischen Typus von monetarisierbaren Marktrisiken repräsentieren und ihr Wert als Kapital das Ergebnis von differenziellen  Preisbewegungen im Rahmen der Kapitalisierung ist. Mit Hilfe der Derivate wird das Risiko aus dem Underlying herausgeschnitten und in eine neue Kapitalform verpackt, die nun einen Preis besitzt. Somit transferieren und preisen Derivate Risiken aus, deren Quantitäten also stets in Geld gemessen werden. Wegen der »Vermittlung« des spekulativen Tauschs der Derivate mit Geld kann jedes partikulare, konkrete und fallspezifische Risiko austauschbar mit jedem anderen betrachtet werden. Damit eröffnet sich die Dimension des abstrakten Risikos. Das abstrakte, in Geld gemessene Risiko dient als der vermittelnde Faktor, der es ermöglicht, dass verschiedene konkrete Risiken gegeneinander austauschbar werden können.

Literatur

Ayache, Elie (2005): The »non-Greek« non-foundation of derivative Pricing.

In: http://www.ito33.com/sites/default/files/articles/0509_ayache.pdf

(2008): The French Theory of Speculation. Part I: Necessity of Contingency. In: http://www.ito33.com/sites/default/files/articles/0803_nail.pdf

(2010a): The Blank Swan: The End of probability. London.

(2010b): The Turning. In:http://www.ito33.com/sites/default/files/articles/1007_ayache.pdf

(2010c): The End of Probability. In: http://www.ito33.com/sites/default/files/articles/1011_ayache_0.pdf

Malik, Suhail (2014): Ontology of Finance. Price, Power and the Arkhéderivative. In: Collapse Vol.VIII: Casino Real. Hrsg. MacKay, Robin. Falmouth.303-480.

Sotiropoulos, Dimitris P./ Milios, John/ Lapatsioras, Spyros (2013a): A political economy of contemporary capitalism and its crisis. New York.

(2013b): Marxist theory, financial system and crisis of 2008. In: http://www.iippe.org/wiki/images/5/5f/CONF_CRISIS_Lapatsioras.pdf

Foto: Bernhard Weber

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