Epidemische Politik

Französisches Original:  Couvre-fous

Am 17. September 2020 wurde in Frankreich der Gesundheitsnotstand aufs Neue erklärt, verbunden mit einer weiteren Ausgangssperre. Wer gegen die Regelung verstößt, riskiert ein Bußgeld von 135 Euro, im Wiederholungsfall 1500 bis 3750 Euro und sechs Monate Gefängnis beim dritten Verstoß! Nachdem die Kneipen schon seit mehreren Wochen nach 21 Uhr schließen mussten, der Verkauf von Alkohol ab derselben Uhrzeit verboten ist und andere verwandte Restriktionen angeordnet wurden, stellt sich die Frage, wozu diese Kriegszeiten angemessene Maßnahme dienen soll, wenn nicht zur Erziehung und Zurichtung zuallererst der jungen Menschen, die in den letzten Monaten besonders stigmatisiert worden sind? Sind wir also allesamt Dummerchen oder, um sich auf ein vom Präsidenten favorisiertes Konzept zu beziehen, ‘Wilde’? ‘Diszipinlose’ – das entspricht ohnehin nicht der Realität: Auch wenn die französischen Medien dieses Klischee ständig bedienen, müssen die Franzosen keine Schamesröte gegenüber ihren deutschen Nachbarn haben. Eine Woche später wurde die schon atemberaubende Maßnahme der Ausgangssperre überführt in einen erneuten Lockdown für die gesamte Bevölkerung.

Dummerchen also. Es scheint allerdings eher so, daß das Gefährdungs- und Zerstörungspotential mehr der Politik des Staates zuzurechnen ist und daß dieses proportionell zum Willen und zur Entschiedenheit des Präsidenten und seines Gefolges ist, in ihrer Amtszeit an der Spitze der Regierung einen künstlichen Krieg zu führen. Es handelt sich hier jedoch um eine Epidemie und vor allem um grundlegende Mängel in der Infrastruktur des französischen Gesundheitssystems, nachdem es über die Jahre durch eine ganz und gar verantwortungslose neoliberale Politik unter Beschuss gesetzt worden ist. Eine Gesundheitspolitik, die diesen Namen verdiente, würde unverzüglich damit beginnen, diese Infrastruktur zu reparieren und zu verstärken, zumal es klar ist, daß dies einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Das ist es auch, was die Beschäftigten im Gesundheitsbereich seit Jahren vehement fordern. Das hat ebenso, beispielsweise, der Präsident der Vereinigung der Notfallärzte am Vorabend der Verkündung der Ausgangssperre durch Macron angememerkt – einer Vereinigung, die wie andere schon im letzten April konkrete Empfehlungen (1) gegeben hatte, die, wie ihr Präsident Patrick Pelloux bedauert, bis heute niemand berücksichtigt hat.

Stattdessen sieht die sogenannte Gesundheitspolitik der Regierung so aus: Restriktionen erlassen, denen jeder Einzelne Folge leisten soll, um die Verbreitung des Virus zu beschränken, und polizeiliche Maßnahmen in Anschlag bringen, um dies durchzusetzen. Aber wo sind die medizinischen Maßnahmen, die diesen Namen verdienen würden – abgesehen von den unsicheren Tests, die mit Verspätung angewendet wurden? Was antwortet die Regierung auf die Stellungnahme von 35 Wissenschaftlern, Akademikern und Beschäftigten aus dem Gesundheitsbereich vom letzten September, die ihr vorwerfen, weiterhin keine klare medizinische Strategie vorgelegt zu haben? (2) Wo sind denn die vielgerühmten für die öffentlichen Krankenhäuser notwendigen Mittel, die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen des medizinischen Personals, damit dieses seine Arbeit angemessen ausüben kann? Wo sind die von diesem geforderten Reformen im Ausbildungsbereich? Ist es nicht bequem für die Regierung, die mit dem Virus verursachten Schäden in die Verantwortung jedes Einzelnen von uns zu legen, anstatt sich der eigenen zu stellen? Ist es nicht zudem bequem, glauben zu machen, daß die Covid-Epidemie der Grund aller Probleme sei, während das Grundproblem dieser Epidemie darin besteht, daß sie ein schon anderweitig x-fach erfahrener Anlaß ist, das Krankenhauspersonal an den Rand seiner Fähigkeiten und bis zur Erschöpfung zu bringen? Um vom ganzen Rest hier zu schweigen.

Polizeiliche Aufrüstung des Staates bei gleichzeitiger fortgesetzter medizinischer Abrüstung, das Ganze verschleiert durch einen schlichtweg unmenschlichen ideologischen Diskurs, den die Regierung mit einem Strafkatalog durchsetzt, gegen den zahlreiche Juristen und Anwälte schon seit letztem März protestieren. (3) Dieser Diskurs stützt sich auf die Individualisierung und Moralisierung der Verbreitung der Epidemie, bezeugt dabei den Willen, den Krankenhäusern und allen und jedem zu schaden, und stützt sich, darüber hinaus, auf Kriminalisierung. Schuldgefühle und Paranoia scheinen die großen Gewinner in diesem gemeinen, perversen und vor allem gefährlichen Spiel zu sein. Der unbegründete Zweifel, der Verdacht sollen von nun an das Verhalten der Menschen bestimmen. Man kann nur hoffen, daß die Regierung und die Medien, die diese neue Moral aufzwingen wollen und zur selben Zeit einen Anstieg von ‘Verschwörungstheorien’ beklagen, die Ironie dieser Angelegenheit noch begreifen. Aber solange das nicht geschieht, verstärkt diese Ideologie den kriminalisierenden Handlungsrahmen, in den sich alle einfügen sollen: Man soll gegenüber seinen Nachbarn und gegenüber sich selbst zum Polizisten werden.

Nichtsdestoweniger verfolgt die Regierung ganz bewußt ihre Maßnahmen und rechtfertigt sie über den Umweg der epidemologischen Wissenschaft. Neben der Tatsache, daß es völlig fragwürdig ist, der Wissenschaft die Rolle zuzuschreiben, regieren zu sollen – sie sollte sich stattdessen auf ihre schon sehr anspruchsvolle Rolle beschränken, zu verstehen und zu erklären (sie beschäftigt sich ja mit dem, was benennbar und fixierbar ist, mit allgemeinen Aussagen, die mehr oder weniger entwickelt und begründet sind, ohne einen Sinn für die einzelnen lebendigen Wesen zu haben, wie auch schon völlig zurecht ein gewisser Bakunin bemerkt hat), ist der Rekurs der Regierung auf die Wissenschaft als Legitimationsgrundlage für ihr Handeln eine Einladung, sich zu fragen, was dadurch verdeckt werden soll. Näher betrachtet, läßt sich die Aufhebung und erzwungene Reduzierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mit Verweis auf die Covid-Epidemie nicht mit den Maßstäben der epidemologischen Logik selbst vereinbaren. Anläßlich der neuerlichen Verhängung der Ausgangssperre ist dies kaum zu übersehen. Welche Ansteckungsketten bleiben noch am Abend nach all den Einschränkungen, die in den Wochen zuvor verhängt worden sind? Offensichtlich deutlich weniger als sie sich auf der Arbeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder in den Supermärkten etc. finden lassen! Welche Heuchelei! Es besteht kein Zweifel, daß die Regierung ihre Entscheidungen darüber, was legitime oder illegitime Tätigkeiten sind, jenseits epidemologischer Rücksichten und damit anderen Logiken folgend trifft, angefangen mit der Logik kapitalistischer Ökonomie. Und im Fall des Kapitalismus heißt das: Legitim ist vor allem anderen, was dem abstrakten Verwertungsprozess des Kapitals dient. Arbeiten – für die, die das noch können – und Konsumieren – das scheinen die einzigen Bereiche zu sein, die bei dem Legitimitäts-Verteilungspiel der Regierung profitieren; die restlichen gesellschaftlichen Aktivitäten werden als nutzlos verurteilt, für überflüssig erklärt und im spezifischen aktuellen Kontext noch dazu mit der Aura der Gefährlichkeit versehen.

Die Instrumentalisierung des Werts der Solidarität verstärkt den Eindruck der Heuchelei, angefangen mit der verordneten Solidarität mit dem Pflegepersonal, die ganz den Maßgaben des Staats zufolge zu leisten ist, wenngleich dies rein gar nichts an deren Arbeitsbedingungen und den ihnen zur Verfügungen stehenden Mitteln verbessert. So ist die universalistische Norm der Solidarität, die der Ausgangspunkt für die Regierungsmaßnahmen und deren Rechtfertigung sein soll, ein exemplarisches Mittel für Klassenherrschaft. Die Berufung auf ‘Solidarität’, wenn man Leuten anordnet, zu Hause zu bleiben, ist ein Mittel der Verleugnung, Verschleierung, Verächtlichmachung und Verhöhnung, denn es bedeutet ja im Effekt nicht, in seiner gemütlichen Wohnung zu sitzen, sein gesichertes Einkommen zu haben, sondern den fortgesetzten Verfall seiner Existenzbedingungen erleben zu müssen, ohne dagegen vorgehen zu dürfen, hinnehmen zu müssen, daß das ohnehin prekäre Leben, für das man sich abgestrampelt hat, eventuell endgültig zusammenbricht. Aber alles halb so schlimm, es gibt ja noch das soziale Sicherungsnetz, Hilfsorganisationen und die Psychiatrie! Eine schäbige und herabwürdigende Weise, die sozialstaatlichen Mittel als Argument heranzuziehen, um in Wirklichkeit die unter großer Anstrengung von prekär Beschäftigten, von Auszubildenden und von sonstigen Menschen in Not zusammengehaltenen Existenzen zu gefährden oder zu zerstören. Ein verlogenes Argument, sich um Menschen kümmern zu wollen, nur um sie desto besser enteignen und unterwerfen zu können.

Wie die Stiftung für Gesellschaftswissenschaften in einem Call-for-papers zum Thema ‘Pandemien’ im letzten Mai geschrieben hat, hat die Covid-Pandemie eine besonders starke politische Reaktion hervorgerufen und tut das immer noch, ohne daß sie jedoch hinsichtlich ihres Ausmasses und ihrer Schwere ein ganz neues Phänomen darstellen würde. Die Liste der aus der Geschichte bekannten Pandemien ist lang: die Pest im 6. Jahrhundert, die ‘Schwarze Pest’ von 1347, die bis 1720 mehrfach wiederkehrt, das ‘große Sterben’ in Amerika nach 1492, die Cholera (1826, 1832), die ‘Russiche Grippe’ (1889), die ‘Spanische Grippe’ von 1918, die ‘Asiatische Grippe’ von 1957 (2 Millionen Tote, davon 100.000 in Frankreich), Sars 2002, die Grippe A H1N1 2009 (zwischen 100.000 und 400.000 Toten), die Rückkehr der Masern 2018, der Ebola-Virus 2014 bis 2016 (in Westafrika), Dengue (tropische Grippe) 2016 und endlich heute Covid 19 (die Liste ist dem Call-for-papers entnommen). (4) Indem Pandemien je nach Epoche und Region verschiedene Reaktionen hervorrufen, läßt sich die Frage nach den Strukturen und Werten der betroffenen Gesellschaften stellen. Was Covid 19 betrifft, steht es außer Zweifel, daß die gesellschaftliche Reaktion darauf unter Maßgabe der ‘sozialen Distanzierung’ und angesichts seiner Lockdown-Logik sich ganz der neoliberalen Politik fügt. Im Übrigen liegt man falsch, wenn man den Ausdruck ‘soziale Distanzierung’ mit ‘physischer Distanzierung’ ersetzen will, da ersterer mit größerer Klarheit ausdrückt, worum es sich handelt: etwas Organisierteres und Größeres als nur die Empfehlung, wenn man krank ist, nicht seine Mitmenschen zu umarmen, und zwar die Etablierung eines neuen experimentellen Regimes, dessen Auswirkungen zwar noch unbestimmt sind, das aber mindestens sehr beunruhigend ist.

Unmöglich, keine Parallele zu ziehen zwischen dem Ruf zur Ordnung, der im Kern der jetzigen Epidemie-Politik steckt, und den Forschungsergebnissen der letzten vierzig Jahre, die sich ausdrücklich mit dem Problem der Prekarität auseinandersetzen. Die Gesellschaftswissenschaften, vor allem die Soziologie der Prekarität, lassen uns wissen, daß die gesellschaftliche Atomisierung, deren Zuspitzung die soziale Isolisierung ist, eine der großen Plagen ist, die zur ‘neoliberal’ oder ‘postfordistisch’ genannten Epoche in der Geschichte des Kapitalismus gehören, die in den 1970er und 1980er Jahren begonnen hat und in der die Kategorie der ‘sozialen Exklusion’ in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt wurde. Die Prekarisierung der Arbeit, die das Einkommen bedroht, und die Privatisierung des Sozialsystems, die den Schutz im Falle von Krankheit, Unfall oder Alter bedroht, sind nicht die einzigen Antriebsmittel für die Aussonderung mancher; die Auflösung des Gewebes des gesellschaftlichen Zusammenhalts, auch des familiären, sind auch Bestandteile des Problems der Prekarität. Die gesellschaftliche Atomisierung spielt sich so auf verschiedenen Ebenen ab, institutionell und sozial. Auf allen diesen Ebenen wird eine gesellschaftliche Spaltung vorangetrieben, die von der neoliberalen Politik begünstigt wird, wenn sie nicht gar bewußt von ihr organisiert ist. Beispielsweise haben die Gewerkschaften vor ihrem ‘Niedergang’ seit den 1980er Jahren die Zunahme von neuen Anstellungsformen (vor allem die Zeitarbeit und der befristete Arbeitsvertrag), die den Arbeitern einen veränderten Status, andere Arbeitszeiten und auch -orte (vor allem durch Home-Office) zuwiesen, als Mittel kritisiert, das darauf abziele, das Kollektiv der Arbeiter und damit ihren Widerstand zu zerschlagen. Allgemein ausgedrückt: Solidarität und noch grundlegender Soziabilität, gesellschaftliches Leben, speisen sich aus gemeinsamen Erfahrungen, geteilten Gütern, geteilter Zeit und geteilten Orten, aus einem Zusammenleben, ohne das sie verschwinden. Auf diese Weise trägt die Privatisierung des gesellschaftlichen Reichtums oder der kollektiven und sozialen Organisation zur Spaltung der Gesellschaft bei.

Ohne daß sie Modelle des Zusammenlebens wären, die außerhalb der immer stärker privatisierten Gesellschaft von Vereinzelten, in der wir leben, stünden, stellen die ‘nicht wesentlichen’ Orte, die derzeit starken Einschränkungen unterzogen werden (Cafés, Bars, die kleinen Läden [die Supermärkte dürfen zur selben Zeit weiterhin ihre Funktion der Verteilung der Produkte erfüllen], die Kinos, die Theater, die Museen, die Turnhallen, die Stadien, Orte des Zusammenseins, die Bibliotheken, die Parks, die Straße – man muß sich auch fragen, ob nicht auch die Ausbildungs- und Lehrstätten zu dieser Liste hinzugefügt werden müssen, die gerade das Objekt tiefgreifender Reformen nach dem zweifelhaften Ideal der umfänglichen Digitalisierung sind), im Alltag immer noch die Orte der Zusammenkunft, der Versammlungen, des Austauschs, der direkten Erfahrung außerhalb des nur Unter-sich-seins in den Wohnungen und in den sich in Krise befindlichen Arbeitskollektiven sind.

Es ist jedenfalls bezeichnend, daß eine der großen Plagen des Neoliberalismus mit der Devise für den Umgang mit der Epidemie in eins fällt! ‘Isoliert’, das bedeutete bislang – auch für die Institutionen – ‘sehr prekär’; heute bedeutet es ‘geschützt’. Das paßt gut! Wer jedoch an diesen Unsinn glaubt, landet letztlich dabei, die desaströsen Folgen zu negieren, die soziale Isolation mit sich bringt – einschließlich für die Gesundheit, die ja das Thema ist, was heutzutage besonders interessieren soll. Allerdings kann man diese Folgen seit Jahrzehnten beobachten und sieht sie im Moment sich verstärken – wenn man sie nicht ohnehin selbst an sich erfährt. Die Qualen der Einsamkeit wiederum, die mit dem Mangel an der Zahl und Intimität der sozialen Beziehungen einhergehen, betreffen sicherlich generell mehr Menschen, besonders heute, da man alle und jeden als potentiellen Ansteckungsherd betrachten soll. In einem anderen Bereich kann auch die Isolierung älterer Menschen, mit der Behauptung, sie zu schützen, die mitten im Lockdown sogar zur Einrichtung eines nationalen Beratungskomittee für Ethik geführt hat, uns alle erschrecken lassen. Das Komittee mußte im letzten März daran erinnern, daß die Lust zu leben und folglich alles, was diese speist, Kriterien bleiben, die bei der Pflege und Betreuung älterer Menschen berücksichtigt werden müssen. Es ist unfassbar, daß ohne Ironie solche Selbstverständlichkeiten in Erinnerung gerufen werden müssen!

Während die einen es immer noch schaffen, solch eklatanten Widersprüchen gegenüber die Augen zu verschließen, werden die anderen in der großen öffentlichen Debatte, die es ohnehin nicht gibt, zum Schweigen verdammt. Die Medien, von denen zu erwarten wäre, daß sie ihre Funktion der Gegenmacht, was in der Theorie Investigationsarbeit hieße, ausübten, arbeiten stattdessen daran, daß dies nicht geschieht, indem sie maximal punktuell erwähnen, es gebe besorgniserregende Situationen jenseits der Covid-Infektionsketten und manche abweichende Meinungen, denen jedoch nicht die geringste Möglichkeit gegeben wird, an einer Diskussion teilzunehmen. Es ist uns ja allen klar, daß der Hauptzug dieser abweichenden Meinungen ihre Zugehörigkeit zu Verschwörungstheorien ist… Ja, ja, man stützt sich auf eine Untersuchung von 200 Facebookkonten, die sich gegen das Tragen der Maske aussprechen, um dies zu beweisen! (5) Welche Ehre jedenfalls für diese Facebooknutzer (hauptsächlich -nutzerinnen, der Studie zufolge), daß man sie ausgewählt hat, die Gesamtheit der kritischen Meinungen in Frankreich zu repräsentieren!

Die Angst vor dem Virus, ergänzt oder verstärkt durch die Sorge, in und durch die staatlichen Anti-Covid-Maßnahmen eingeschränkt zu werden, bleibt wohl oder übel eine zentrale Triebfeder für diese Zuschreibungsmechanismen und es ist nicht einfach, ihnen zu widerstehen, weil alles getan wird, damit man ihnen anheimfällt. Und trotzdem: ‘Eine Gesellschaft, die ängstlich und fixiert einen schmalen Ausschnitt einer möglichen Gefahr für das Leben einzelner überwiegend virtuell und medial wahrnimmt und nur noch versucht, darüber Kontrolle zu erlangen wird zwanghaft und krank’, wie ein Kollektiv berliner Ärzte im letzten März geschrieben hat. (6) Angesichts dessen, daß Prognosen, Hypothesen und Statistiken, unterfüttert durch die Ideale von Sicherheit und Kontrolle, zu Werkzeugen im Dienst eines Prinzips irrationaler Prävention werden, verlangen immer mehr Ärzte, daß man sie einfach arbeiten lassen soll – mit den zur Verfügung stehenden konkreten Mitteln und Kenntnissen, die es erlauben, die Situation begreiflich zu machen, um handeln zu können. Ohnehin haben die vergangenen Monate Erfahrungen und Kenntnisse vermehrt, angefangen mit dem Wissen, welche Gruppen von Menschen wirklich durch das Virus bedroht werden. Natürlich ist dieser Rückgriff auf praktisches Wissen nichts Absolutes, garantiert keine völlige Sicherheit, schließt nicht jede Gefahr aus oder wirkt Wunder. Die Medizin definiert sich vor allem als die Kunst, einem lebendigen Wesen die der Gesundheit förderlichsten Bedingungen zu verschaffen, diese zu erhalten oder wiederherzustellen, mit der Voraussetzung, daß sie über die materiellen und menschlichen Mittel verfügt, dies zu tun.

Die Regierung hat sich der Mission verschrieben, die Verbreitung einer Epidemie zu beherrschen, anstatt ihre Auswirkung zu begrenzen, auf die Gefahr hin, andere, nicht weniger vitale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens schwer zu beschädigen. Anders ausgedrückt, interessiert sie sich, unter Berufung auf die Kranken, mehr für Kontaminationsketten als für die Kranken selbst. Indem sie nicht die Krankenhäuser in Hinsicht auf ihre wirklichen Bedürfnisse hin finanziert und reformiert, sondern vielmehr in Werkzeuge zur Nachverfolgung und in Mittel zur Überwachung von Ansteckungsketten investiert, bringt sie die Prinzipien der Prävention und der Pflege zueinander in Konkurrenz. Angesichts einer reellen Krankheit scheint es jedoch absurd, der Epidemologie gegenüber der Medizin den Vorzug zu geben. Dazu kommt, daß die Stigmatisierung der Kranken, die daraus folgt, schon heute ihr totalitäres Potential zeigt: In der deutschen Hauptstadt hat man – auf eigene Initiative – zum Beispiel in Einkaufszentren und Banken begonnen, Menschen den Eintritt zu verwehren, wenn sie Fiebersymtome aufweisen. Kein Einkauf mehr möglich. Und auch kein Geldabheben. Ein kranker Mensch ist nicht mehr jemand, dem geholfen, beigestanden, der behandelt werden soll, sondern gefährlicher Infektionsherd – und diese neue ‘Wahrheit’, begründet oder nicht, ist das Einzige, was man wissen muß.

Gewiß nimmt der Umgang mit Hygiene Einfluß auf den Verlauf von Epidemien, dennoch kann man den selbst gesetzten Anspruch der Regierung, die Epidemie zu kontrollieren, in Frage stellen: In wechem Ausmaß ist ein Virus, der schon epidemisch geworden ist, zu kontrollieren? Gewiß, wenn man alle einzeln für mehrere Tage in hermetisch abgedichtete Schachteln einsperrt, gibt es keine Infektionsketten mehr… Zu welchem Preis experimentiert der homo sapiens von 2020 – oder seine Führungsfiguren – mit seiner Macht, eine epidemische ‘Welle’ zu meistern? Die Entwicklung neuer Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik, die offenbar für unsere Wünsche stehen, unserer konstitutiven Verwundbarkeit zu entfliehen, enthebt uns nicht der Pflicht, zu fragen, in welchem Sinne wir sie anwenden wollen, also darüber nachzudenken in Bezug darauf, wie wir uns verstehen, wie wir die Welt und was wir tun verstehen. Das ist eine schlechte Nachricht für alle diejenigen, die sich wünschen, alle Dinge seien nach Belieben gestaltbar, als Produkte ihrer Visionen und Projektionen: Nichts ist neutral und nichts läßt sich so behandeln. Darüber hinaus dürfen die sich stellenden philosophischen Fragen eine materielle Wirklichkeit nicht ausradieren, die direkt erfahrbar ist: Die Entwicklung ziviler und militärischer Techniken und Technologien ist erklärtermaßen Politik des Staats, wie man nicht zuletzt in der Rede lesen kann, die Präsident Macron im August 2019 vor seinen Botschaftern gehalten und in der er seine Vision einer neuen Weltordnung vorgelegt hat, die gerade errichtet wird. (7) Parallel dazu, da uns zu allererst die Wirklichkeit interessieren muß, sei hier angemerkt, daß man in den letzten Wochen täglich in den Zeitungen lesen konnte, daß die Welle der Epidemie entgegen allen Behauptungen immer mehr ‘außer Kontrolle’ gerate – so wie die ‘Egoisten’, die man noch nicht genug zurechtgestutzt hat. Allerdings wirkt es eher so, daß die sogenannte Gesundheitspolitik des Staates im Abbau befindlich ist und sich dabei in eine Politik der Kontrolle und Repression verwandelt.

12.12.2020

Anmerkungen

(1) https://www.lefigaro.fr/vox/societe/dr-patrick-pelloux-ce-qu-il-faut-changer-dans-notre-systeme-de-sante-20200422
(2) https://www.leparisien.fr/societe/covid-19-nous-ne-voulons-plus-etre-gouvernes-par-la-peur-la-tribune-de-chercheurs-et-de-medecins-10-09-2020-8382387.php
(3) Zum Beispiel:
https://www.lemonde.fr/police-justice/article/2020/03/25/l-infraction-de-mise-en-danger-d-autrui-est-a-manier-avec-precaution_6034438_1653578.html
https://www.lemonde.fr/idees/article/2020/03/24/raphael-kempf-il-faut-denoncer-l-etat-d-urgence-sanitaire-pour-ce-qu-il-est-une-loi-scelerate_6034279_3232.html
(4) https://fondation-sciences-sociales.org/appel-a-candidature-pour-la-journee-pour-les-sciences-sociales-2021-pandemies/
(5) https://www.lemonde.fr/idees/article/2020/08/25/l-adhesion-aux-differentes-theories-du-complot-en-est-un-trait-caracteristique-des-antimasques_6049841_3232.html
(6) https://www.praxiskollektiv.de/aufruf-gegen-die-angst/
(7) https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/08/27/discours-du-president-de-la-republique-a-la-conference-des-ambassadeurs-1

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