Fiktives Kapital: Aus 1000 Euro mach 2000 Euro

Der Kauf und Verkauf von Geldkapital, seien es nun in Form von Aktien, Wertpapieren oder Derivaten, wird an sog. Geld- oder Kapitalmärkten abgewickelt. Man sollte aber dringlichst vermeiden, hier den Begriff des Marktes womöglich als konkretes Universal überzustrapazieren, vielmehr wäre es angebracht, diese Art strukturell-sozialer Raum als Distribution von Distributionen zu beschreiben, als eine Vielfalt von verschiedenen Mechanismen der Distribution, von denen manche in ihren Preissystemen konvergieren, in anderen Preisbewegungen aber vollkommen diskontinuierlich und different verlaufen. Wir werden dies beim Gebrauch des Begriffs »Markt« immer voraussetzen. Wenn das Geldkapital selbst-setzend ist, spätestens dann muss es in ganz spezifischen Distributionsnetzwerken gehandelt werden; dieser Handel wäre im Gegensatz zu dem der Standardwaren der Industrie als ein Prozess der Kapitalisierung der Geldes selbst zu verstehen, womit es von Anfang an möglich erscheint, die differenzielle Akkumulation dieser bestimmten Form von Geldkapital von den Verwertungsprozessen in der industriellen Produktion bis zu einem bestimmten Grad oder ganz abzukoppeln.

Verleiht ein Eigentümer von Geldkapital eine bestimmte Geldsumme, nachdem er eine Bewertung des sog. Risikos vorgenommen hat, das die Möglichkeit der Zahlungsfähigkeit oder -unfähigkeit des Schuldners evaluiert, dann entsteht just mit dem Vertragsabschluss Kreditgeld, wobei dieses Geld sich als eine Form der Verdopplung abstrakten kapitalistischen Reichtums auffassen lässt. In der Tat hat sich über das Ereignis der Kreditrelation eine Geldsumme (mit dem Potenzial des Mehr) für ein gegebenes Intervall verdoppelt, denn einerseits kann die geliehene Geldsumme, wenn sie vom Kreditnehmer zur Erweiterung von Produktionsprozessen eingesetzt wird, neue Kapitalmetamorphosen in Gang setzen, andererseits kann aber auch der Kreditgeber sein Geldkapital als kommende Surplusproduktion betrachten, da er ja, wie schließlich im Kreditvertrag fixiert, auf das verliehene Geldkapital die Rückzahlung der vereinbarten Kreditsumme plus deren Verzinsung erwarten darf. Was das zeitindexierende Recht hier verfügt, ist die zeitweilige Abtrennung der kapitalistischen Potenz, die dem Geldkapital an sich innewohnt, vom Eigentum, indem die Potenz zur Selbstvermehrung des Kapitals für eine bestimmte Periode verliehen wird (und im besten Fall auch durch einen anderen realisiert wird, ohne dass der Gläubiger dabei selbst Schaden erleidet, im Gegenteil, er kann ja selbst einen Surplus qua Zins erzielen), womit das Geldkapital, bei dem es sich um die Frucht industriell organisierter Verwertung handeln kann, aber nicht muss, in die zeitindexierte, reale Verfügungsgewalt, in den Besitz des Kreditnehmers übergeht. Sowohl die Kreditrelation als auch die Emission von Aktien oder Anleihen geht mit einer Duplizierung des Geldkapitals einher, deren Implikationen, wie Lohoff/Trenkle in ihrem Buch Die große Entwertung betonen, in der traditionellen marxistischen Diskussion meistens ausgeblendet wurden und werden. (Lohoff/Trenkle 2012: 121ff.) Die ausgeliehene Geldsumme verwandelt sich nämlich nicht nur in den Händen des Schuldners in Kapital, soweit er als fungierender bzw. industrieller Kapitalist agiert, sondern auch aufseiten des Gläubigers entsteht Kapital, denn er erhält bzw. fundiert für den Verleih der Geldsumme einen rechtlich kodifizierten Anspruch auf Rückübertragung einer höheren Summe ausgeliehenen Geldes, und somit besitzt diese ausgeliehene Geldsumme zumindest für eine gewisse Frist, nämlich bis zur Liquidierung des Kreditvertrags, eine doppelte Existenz. (Ebd.: 128ff.) Dabei geschieht tatsächlich etwas höchst Merkwürdiges: Aufgrund des puren Daseins des Kredits selbst gewinnt das Ausgangskapital eine doppelte Existenz, befindet es sich doch einerseits in der realen Verfügung beim Kreditnehmer, gleichzeitig hält aber der Kreditgeber ein ganz besonderes Spiegelbild seines Ausgangskapitals in seinen Händen, fiktives Kapital. Marx schreibt: »Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen durch die verschiedene Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint.« (MEW 25: 488) Es handelt sich aber hier nicht nur einen Schein, sondern um einen realen Anspruch auf zumindest gedoppelten zukünftigen Wert und dieser stellt doch at once abstrakten kapitalistischen Reichtum dar.

Eine Verdopplung finden wir auch beim Handel mit fiktivem Kapital vor. Dies geschieht bspw. ganz konkret, wenn ein Geldeigentümer Eigentumstitel wie Aktien, Anleihen oder Wertpapiere kauft, und dies rein mit dem Ziel aus seinem Geld ein Mehr zu machen. Ganz entgegen dem Kauf von Standardwaren aus der industriellen Produktion, die entweder der Konsumtion oder der industriellen Vernutzung dienen, impliziert der Kauf eines Eigentumstitels die spezifische Nutzung des sekundären Gebrauchswerts des Geldkapitals, d. h., der Käufer des Eigentumstitels nutzt den sekundären bzw. den Meta-Gebrauchswert seiner veräußerten Geldsumme, um damit in Zukunft Rendite zu generieren, während der Verkäufer der Aktie, Anleihe etc. von der Kapitalisierung des Geldkapitals keinesfalls ausgeschlossen bleibt, denn wie beim Verkauf von gewöhnlichen Waren verfügen bspw. die Emittenten von Aktien oder Anleihen ganz real über das Geld, das ihnen der Verkauf des Eigentumstitels einbringt. (Lohoff/Trenkle 2012: 131f.) Die Verkäufer der Wertpapiere sehen sich nun in die Lage versetzt, dieses neue Geldkapital selbst als zahlungskräftige Nachfrage anzuwenden, indem sie Arbeitskräfte mieten und Maschinen, Rohstoffe, Hilfsstoffe etc. für die Erweiterung der Produktion kaufen, während gleichzeitig die Käufer der Eigentumstitel an den Geldmärkten sog. fiktives Kapital handeln. Neben die vom Emittenten erzielte Geldsumme tritt also das sog. fiktive Kapital des Käufers der Anleihen oder Aktien. Diese Art der Geschäftsbeziehung sorgt keineswegs nur für eine bloße Weiterleitung von bereits vorhandenem Geldkapital, weil es a) in der konkreten Verfügung eines Unternehmens als intensional negativer Wert – Kapital – die Voraussetzung für weitere profitbringende Produktionsprozesse bildet, und b) der Käufer die Aktie oder Anleihe mit dem Ziel der Erlangung eines Surplus an den Finanzmärkten handeln kann.

Wendet sich ein Kreditnehmer nicht an eine Privatperson, die hier als Geldkapitaleigentümer fungieren könnte, sondern an eine Bank, bei der er schon eine Einlage von 50.000 € hält, dann hat man es, wenn es zu einem Kreditvertrag zwischen Kreditnehmer und Bank kommt, mit zwei Eigentumstiteln zu tun: dem Rückzahlungsanspruch der Privatperson als Geldeigentümer gegenüber der Bank sowie dem Tilgungsanspruch der Bank gegenüber der Privatperson als Schuldner. Ein direkter Kredit zwischen privatem Kreditgeber und privatem Kreditnehmer wäre auf der Aufzeichnungsfläche des vollen Kapitalkörpers nur als ein Kapital von 50.000 € angeschrieben worden, während durch den intermediären Auftritt einer Bank 100.000 € aufgezeichnet worden sind. Schieben sich nun weitere Geldkapitalisten zwischen Gläubiger und Schuldner und insistiert damit die Kreditrelation in iterativen Verkettungen mit terminierten Zustellfristen und potenziell stets wechselnden Adressaten (von Ansprüchen), dann entsteht an jedem Zwischenglied eine Erweiterung des Ausgangskapitals. (Ebd.: 134) Die Vermehrung des fiktiven Kapitals bzw. der Eigentumstitel zweiter Ordnung ist natürlich niemals identisch mit der Produktivität bzw. der Vermehrung des stofflichen Reichtums zu setzen, auf den es aber im Kapitalismus in erster Linie auch gar nicht ankommt, denn auf dem vollen Kapitalkörper zeichnet man – und dies heute mit einer alles durchdringenden, obsessiven Performativität – zuallererst die Funktionen, Parameter, Variablen und Konfigurationen der Geldkapitalströme auf, die den kontinuierlichen abstrakten Reichtum darstellen, und auf dessen Umfang hat die Kreation von fiktivem Kapital direkten wie indirekten Einfluss. Dauerhaft führt jedoch die Kreation von fiktivem Kapital zumindest was die Form des Kreditgelds anbelangt zu keiner Verdoppelung des Ausgangskapitals, denn die Verdoppelung wird schließlich hinfällig, sobald der Anspruch des Gläubigers gegenüber dem Schuldner erlischt, entweder durch die endgültige Realisation der monetären Ansprüche des Gläubigers durch den Schuldner oder durch dessen Eliminierung aus der Kreditkette, z. B. durch Insolvenz. Im Falle der Realisation des Kredits zahlt der Schuldner die Ursprungssumme des Kredits plus Zinsen zurück, während sich im Falle der Entwertung der Schuldner als zahlungsunfähig erweist und der Gläubiger seine Forderungen deshalb abschreiben muss. (Im Fall einer Aktiengesellschaft währt die Verdopplung des Geldkapitals solange das Unternehmen existiert oder bis es die Aktien zurückkauft.) Dass diese Art der Verdopplung durch die Kreation von spezifischen Eigentumstiteln nur eine befristete Geldkapitalvermehrung darstellt, heißt aber noch lange nicht, dass es sich hier auf der Ebene des Geldkapitals als Gesamtkomplexion um so etwas wie ein Nullsummenspiel handelt, das sich womöglich rein in der Umverteilung vorhandener Geldkapitalsummen erschöpft. Solange ein Eigentumstitel (Wertpapier, Aktie, Anleihe etc.) nämlich in den Distributionskanälen und -netzwerken fließt und dort auch codiert wird, solange er weder zu 100 % realisiert noch entwertet ist, vergrößert er neben seiner möglichen Verwendung als sog. produktives Kapital eben den virtuellen Reichtum eines fiktives Kapitals und dies als Schrift, wobei Schrift hier immer auch realen Reichtum impliziert. Bei dem verschrifteten Kapital handelt es sich Marx zufolge um sog. fiktives Kapital (wir werden auf diese Bestimmung noch zurückkommen), was aber seine Funktion für das Gesamtkapital angeht, unterscheidet es sich bezüglich seiner Verwertungstauglichkeit aber erst einmal durch rein gar nichts vom sog. produktiven Kapital, das auf Produktions- und Verwertungsprozessen in der »Realwirtschaft« basiert, kann doch das fiktive Kapital u. a. wiederum dazu verwendet werden, die Produktion von Standardwaren in der industriellen Produktion zu befeuern. Selbst der Staat vermag eine »produktive« Finanzierung von Infrastruktur, Rüstung und Sozialleistungen mit Staatsanleihen vorzunehmen, wie er dies eben auch mit Steuereinnahmen in die Wege leiten kann.

Koppeln sich nun ständig weitere Geldtransaktionen an eine bestehende Serie von Transaktionen an bzw. findet eine Verwandlung der Transaktionen in verbriefte Ansprüche statt, dann setzt sich mit der oben beschriebenen Art der Verdopplung von Kapital der Vervielfältigungsprozess von Geldkapitalströmen in Form von quasi-postalischen Prozederes fort, sodass mit jedem neuen Kettenglied auch ein neues fiktives Kapital entsteht. (Vgl. Lenger 2010: 196f./Lohoff/Trenkle 2012: 134f.) Die Integration verschiedener Geldkapitalisten in die Verkettungen der Geld- und Zahlungsströme, die alle die Relation Gläubiger-Schuldner einschließen, führt zumindest zeitweise zur additiven Erhöhung der Ausgangskapitale; Geldkapital funktioniert in diesen Prozessen/Strömen als selbstreferenzielle Relation, deren Code Profit/Nicht-Profit lautet. Dabei besitzen sowohl Strom als auch Code jeweils eine eigene Materialität – während der Strom auf Elektrizität basiert, wird der Code als Verschriftung auf Festplatten gespeichert, eine Verschriftung, der zudem noch eine Virtualisierung eigen ist, die nicht mit ihrer Codierung, die heute eher unter dem Wort »Cyber« oder »Digitalität« zu fassen wäre, verwechselt werden darf, betrifft doch die Verschaltung Aktualisierung/Virtualisierung (des Werts) das kapitalistische Geld oder auch das Kreditgeld von jeher, denn man kann es zumindest potenziell und ohne Rücksicht auf seine Digitalisierung als Schuldverschreibung verbriefen und dann seinen Weg durch quasi-postalische Systeme (Lenger) gehen lassen, ohne dass da an bestimmten Stellen unbedingt noch ein Adressat zur Verantwortung zu ziehen wäre, was sich noch in jeder Finanzkrise Bahn bricht. In diesem Zusammenhang besteht der Fetischcharakter des Geldkapitals u. a. darin, dass das Geldkapital als reine Eigenschaft eines Dings, als Zahl oder Schrift erscheint, oder, um es mit anderen Worten zu sagen, die reziproke Relation von Strom und Code erscheint rein als Herrschaft des Codes, oder, um es noch einmal anders zu wenden, die Prozesse der Wechselwirkung zwischen Strom und Code bringen neue Eigenschaften hervor, die rein als die von Dingen/Schrift/Zahlen erscheinen (die sie auch sind, aber eben nicht in erster Linie). Die Digitalisierung des Geldes ist daher nicht mit Virtualisierung (die sich rein theoretisch auch analog vollziehen kann) gleichzusetzen, im Gegenteil entzieht die Virtualisierung sich jeder vordergründigen Fetischisierung, wenn man fiktives Kapital nicht nur als Größen/Zahlen, sondern als Vektoren der Geldkapitalströmungen begreift, die aktuell-virtuell (und instantan) zirkulieren, um sich zumindest potenziell ins Unendliche zu multiplizieren. Zwar bleibt heute die virtuelle Zirkulation mit ihren Merkmalen von Betrag, Strömung und Code als eine sich kontinuierlich aktualisierende Variation in die digitalen Prozesse (die mit diskreten Einheiten prozessieren, welche als Zahlen lesbar werden) eingeschrieben, aber sie ist keineswegs mit den letzteren gleichzusetzen, wie das z. B. Arthur Kroker annimmt, der daraufhin konsequenterweise den Kapitalismus in den Simulationsräumen digitaler Technologien verschwinden sieht. (Vgl. Kroker 2004) Als reiner Vektor der Zirkulation bedeutet fiktives/spekulatives Kapital u. a. eine in Betrag und Richtung permanent fluktuierende Geschwindigkeit (skalare Größen oder Differenzial-Vektoren) und Deterritorialisierung, und es nimmt überhaupt nicht wunder, dass die hochdotierten Forscherteams der Finanzwissenschaften mit Skalengesetzen und Potenzverteilungen arbeiten, um etwa die Schwankungen von Kursen und Preisen von Wertpapieren zu beschreiben, bis hin zur Analyse von anormalen Wahrscheinlichkeiten und Extremereignissen, wobei allerdings weniger auf Faktoren wie Profitmaximierung oder Vermögensoptimierung abgestellt wird als auf die fluide Integration aller wesentlichen Elemente (inklusive der Akteure) in Geld-Strömungen innerhalb der und in Netzwerke, indem man den Computer statistische Zeitreihen errechnen lässt, in der sich bspw. auch die Akteure analog der Bewegung von Wertpapierkursen und Aktienindizes verhalten sollen.

Es steht außer Frage, dass der Kredit die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Unternehmen untereinander um ein neues Konkurrenzverhältnis erweitert, das längst nicht nur, wie wir noch sehen werden, die Teilung des Profits in Unternehmergewinn und Zins und damit die Aufspaltung in fungierendes und zinstragendes Kapital betrifft. Der Kreditnehmer hat, wenn er als die Verkörperung des fungierenden Kapitals auftritt, seine Investitionen und Projekte per se auf die Zukunft auszurichten, die allerdings der Kreditgeber nur nach exakter Analyse und Evaluation der Rentabilität, die diese Investitionen implizieren, finanziert. Und dieses Prozedere bedeutet auch, dass der Kreditnehmer in der Zukunft zu erwirtschaftende Renditen und Gewinne wie jetzt schon verfügbares Eigentum behandelt, womit innerhalb des Kreditverhältnisses Zahlungsansprüche und -versprechen tatsächlich auf beiden Seiten zu kapitalisierenden Zahlungsmitteln mutieren: Der Schuldner verfügt gegenüber einem exakt fixierten zeitlichen Intervall im Voraus schon über eine Geldsumme, die seine Geschäfte in Zukunft realisieren helfen soll, während der Gläubiger Forderungen disponiert, die er sich jetzt schon als wachsendes Geldvermögen anrechnet (während dem Arbeiter oder Angestellten die ihm zugewiesene Aufgabe bleibt, Mehrgeld unter Bedingungen zu generieren, die die beiden Aktanten des Kreditgeschäfts als fixierten Sachverhalt unterschrieben haben.) Und letztendlich hängt die Qualität der Verschuldung immer auch von der Möglichkeit zur Zahlungsunfähigkeit ab, denn es erscheint ja pausenlos möglich, dass das Risiko sich für den Kreditgeber in einer Form realisiert, dass der Kreditnehmer das ausgeliehene Geld nicht zurückzahlen kann, weswegen die sorgfältige Untersuchung des finanziellen Status des Kreditnehmers durch den Kreditgeber sowie die Bereitstellung von Sicherheiten durch den Kreditnehmer heute zum Nonplusultra der kreditierten Geschäftsfähigkeit zählen.

Foto: Bernhard Weber

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