Foucault – Biomacht

Ausschnitte aus Überwachen und Strafen [1975]

Nach einem Reglement vom Ende des 17. Jahrhunderts mussten folgende Maßnahmen ergriffen werden, wenn sich die Pest in einer Stadt ankündigte. Vor allem ein rigoroses Parzellieren des Raumes: Schließung der Stadt und des dazugehörigen Territoriums; Verbot des Verlassens unter Androhung des Todes; Tötung aller herumlaufenden Tiere; Aufteilung der Stadt in verschiedene Viertel […]Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. (251)

Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Platze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird — dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen, Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor: kraft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt – bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht. Gegen die Pest, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung. (253f)

Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten und anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt. Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. Hier geht es nicht um Masken, die man anlegt oder fallen lässt, sondern um den ‚wahren‘ Namen, den ‚wahren‘ Platz, den ‚wahren‘ Körper und die ‚wahre‘ Krankheit, die man einem jeden zuweist. Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den ‚Ansteckungen‘, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben. (254 )

Wenn es wahr ist, dass die Ausschließungsrituale, mit denen man auf die Lepra antwortete, bis zu einem gewissen Grad das Modell für die große Einsperrung im 17. Jahrhunden abgegeben haben, so hat die Pest das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen. Anstelle einer massiven und zweiteilenden Grenzziehung zwischen den einen und den andern verlangt die Pest nach vielfältigen Trennungen, nach individualisierenden Aufteilungen, nach einer in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachungen und der Kontrollen, nach einer Intensivierung und Verzweigung der Macht. Der Leprakranke wird verworfen, ausgeschlossen, verbannt: ausgesetzt; draußen lässt man ihn in einer Masse verkommen, die zu differenzieren sich nicht lohnt. Die Pestkranken hingegen werden sorgfältig erfasst und individuell differenziert – von einer Macht, die sich vervielfältigt, sich gliedert und verzweigt. Die große Einsperrung auf der einen Seite und die gute Abrichtung auf der andern; die Aussetzung der Lepra und die Aufgliederung der Pest; die Stigmatisierung des Aussatzes und die Analyse der Pest. Die Verbannung der Lepra und die Bannung der Pest — das sind nicht dieselben politischen Träume. Einmal ist es der Traum von einer reinen Gemeinschaft, das andere Mal der Traum von einer disziplinierten Gesellschaft. Es handelt sich um zwei Methoden, Macht über die Menschen auszuüben, ihre Beziehungen zu kontrollieren und ihre gefährlichen Vermischungen zu entflechten. Die verpestete Stadt, die von Hierarchie und Überwachung, von Blick und Schrift ganz durchdrungen ist, die Stadt, die im allgemeinen Funktionieren einer besonderen Macht über alle individuellen Körper erstarrt – diese Stadt ist die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft. Die Pest (jedenfalls die zu erwartende) ist die Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht. (254f)

Passagen aus Foucaults Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft

Eine neue Macht

Mir scheint, dass eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung auf den Menschen als Lebewesen, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte. (282)

[I]m 17. und 18. Jahrhundert sieht man Machttechniken entstehen, die wesentlich auf den Körper, den individuellen Körper gerichtet waren. All diese Prozeduren ermöglichten die räumliche Verteilung der individuellen Körper (ihre Trennung, ihre Ausrichtung, ihre Serialisierung und Überwachung) und die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit rund um diese individuellen Körper. Mit Hilfe dieser Techniken vereinnahmte man die Körper, versuchte man ihre Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern. Es handelte sich zugleich um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen. Sie wurde mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts installiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint, etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht-disziplinäre Machttechnologie darstellt. […] Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun – im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet – auf das Leben der Menschen anwenden; sie befasst sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungsmenschen. (285f)

Masse statt Individuum, Bevölkerung statt einzelnem Körper

Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde. (286)

In dieser Biopolitik handelt es sich nicht einfach um das Problem der Fruchtbarkeit. Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, nicht mehr einfach, wie es bis dahin der Fall war, auf der Ebene jener berühmten Epidemien, deren Gefahr die politischen Mächte seit dem tiefen Mittelalter so sehr bedrohte (die berühmten Epidemien, die vorübergehende Dramen des vervielfachten Todes, des allen drohenden Todes waren). Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es sich nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, das heißt die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten. Mehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren so werden sie behandelt des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt das ist die Epidemie , sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrisst, es mindert und schwächt. (287)

Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum und seinem Körper zu tun. In der neuen Technologie der Macht hat man es dagegen nicht unbedingt mit der Gesellschaft (oder zumindest mit dem Gesellschaftskörper, wie ihn die Juristen definieren) zu tun und ebensowenig mit dem individuellen Körper. Es ist ein neuer Körper: ein multipler Körper mit zahlreichen Köpfen, der, wenn nicht unendlich, zumindest nicht zwangsläufig zählbar ist. Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Biopolitik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun ich denke, dass dies der Augenblick ist, in dem sie in Erscheinung tritt. (289)

Der private Tod

Jetzt, da die Macht weniger und weniger in dem Recht, sterben zu machen, und immer mehr in dem Recht liegt, zugunsten des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das »Wie« des Lebens einzuwirken, jetzt, da die Macht vor allem eingreift, um das Leben zu verbessern, seine Unfälle, Zufälle, Mangelerscheinungen zu kontrollieren, wird der Tod als Endpunkt des Lebens mit einem Schlag natürlich zum Schlussstein, zur Grenze, zum Ende der Macht. Er steht außerhalb der Macht: Er ist das, was sich ihrem Zugriff entzieht und worauf die Macht nur allgemein, global und statistisch Zugriff hat. Die Macht hat nicht auf den Tod, sondern auf die Sterberate Zugriff. Insofern ist es normal, dass der Tod jetzt auf die Seite des Privaten und ins Allerprivateste abgleitet. (292)

Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper Organismus Disziplin Institutionen; und die Serie Bevölkerung biologische Prozesse Regulierungsmechanismen Staat. Ein organisches institutionelles Ganzes: eine Organo-Disziplin der Institution, wenn Sie so wollen, und auf der anderen Seite eine biologische und staatliche Gesamtheit: die Bio-Regulierung durch den Staat. (295)

Die rassistische ‘Norm’

Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur eine erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden. (298f)

Dort, wo eine Normalisierungsgesellschaft vorliegt, dort, wo Sie eine Macht vorfinden, die zumindest auf ihrer Oberfläche und in erster Instanz, in erster Linie, eine Bio-Macht ist, dort ist der Rassismus notwendige Bedingung dafür, jemanden dem Tod auszuliefern oder die anderen zu töten. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus. (302)

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