Geist von 68 / Interview mit Thomas Seibert

David Doell: 50 Jahre nach ‚68 ist das politische Erbe so umkämpft wie lange nicht mehr. Anfang des Jahres sprach sich CSU-Landesgruppen-Chef Alexander Dobrindt für einer „konservativen Revolution“ aus. Auch von „traditionsmarxistischer“ Seite gibt es viel Kritik, insbesondere in Bezug auf sogenannte Identitätspolitiken. Was bedeutet ‚68 für uns heute?

 Thomas Seibert: Wie vorher schon bei den AfD-Ausfällen gegen das „links-rot-grün versiffte 68er-Deutschland“ schätze ich an Dobrindts „konservativer Revolution“ die Treffsicherheit. Der Gegner nimmt die Linke genau dort in den Blick, wo sie stark sein kann: in dem Teil, der von 68 herrührt. Diese Einschätzung teile ich, und nehme die Herausforderung deshalb auch gerne an. Im politischen Entweder-Oder geht es tatsächlich immer auch um eine Kulturrevolution, und die entscheidet sich an ihrem Verhältnis zu 68. Für die linke Seite heißt das: Es kann für uns kein Zurück vor 68 geben, sondern nur um ein Weitergehen in die von da gewiesene Richtung.

 In Frankreich protestierten Studentinnen zuletzt gegen Macrons neue Hochschulreform. Die Bilder von der Räumung der Pariser Sorbonne erinnerten an die Besetzung von ‚68. Gibt es auch in der vom allgegenwärtigen Rechtsruck bestimmten Gegenwart ein Weitergehen in die Richtung?

Da fehlt noch einiges, weil die Jahreszahl 1968 für eine Epoche steht, die in den 1950ern beginnt, mit der Algerischen und der Kubanischen Revolution, und bis in 1980ern reicht. Dennoch gibt es eine Aktualität von 68, die über Jubiläumsrituale hinausgeht. Weiter als damals sind wir in Sachen Emanzipation nicht gekommen, und das, mit Kant zu reden, vergisst sich nicht. Ich glaube nicht, dass wir kurz vor einem neuen emanzipatorischen Aufbruch stehen, tatsächlich trudeln wir abwärts, und das in dramatisch beschleunigtem Tempo.

Trotz aller autoritären Entwicklungen der letzten Jahre, würdest Du tatsächlich sagen, dass sich europäische Gesellschaften in den letzten 40 Jahren nicht massiv liberalisiert haben?

Nein, ganz im Gegenteil. Während es 1789 und auch 1917 um die Eroberung der Staatsmacht ging, zielte 68 dem noch voraus auf die alltäglich gelebten gesellschaftlichen Verhältnisse. Und dort liegt auch der gesellschaftliche Erfolg: in der Umwälzung der sozialen Beziehungen, in den Verhältnissen der Geschlechter und Generationen, auch in der Ent- und Transnationalisierung der Gesellschaft, der Sprache, der Sitten, des Wissens. Natürlich hat sich das, was über 68 möglich wurde, nicht ungebrochen durchgesetzt, sondern nur in Kompromissbildungen vor allem mit der ihrerseits ebenfalls radikal veränderten Ökonomie. Wenn ich vom Abwärtstrudel spreche, meine ich das, was aktuell heraufzieht – und außerhalb Deutschlands und Zentraleuropas schon sehr viel weiter ist. Von diesen Entwicklungen werden wir nicht länger verschont bleiben, und darauf ist die Rechte besser vorbereitet als wir.

PM: Bevor wir zum Rechtsruck und Strategiefragen kommen, noch einmal zu Frankreich: Warum waren die Emanzipationsbewegungen 1968 insbesondere dort so weit fortgeschritten

Die Situation in Frankreich verdichtet die ganze Epoche. Die beginnende Frauenbewegung, die rebellische Jugend, die Studierenden und die Arbeiterinnen und Arbeiter kamen sich näher als anderswo. Die Verbindung zu den anti- und postkolonialen Befreiungskämpfen war unmittelbar evident: Algerien und Vietnam waren französische Kolonien, Migrantinnen und Migranten von dort lebten bereits zu Zehntausenden im Land, nahmen in Universitäten und Fabriken an den Kämpfen teil. Auch hat die europäische Revolutionsgeschichte ihren ersten Durchbruch in Frankreich erreicht: das begründete eine Tradition militanten Aufbegehrens in Praxis und Theorie, die noch heute fortdauert.

Du sprichst jetzt eher von den historischen Rahmenbedingungen. Aber was ist der konkrete Vorlauf in Theorie und Praxis in der Linken?

Während die Krise des Marxismus in der Epoche von ‚68 immer deutlicher wahrgenommen wird, bleibt sein Emanzipationsversprechen überall lebendig. Das ist ein weiterer, gravierender Unterschied zu heute: Wir leben in einem Zeitalter der Angst, nicht der Hoffnung. Damals verstärken sich in Philosophie und Gesellschaftstheorie Suchbewegungen, die den Marxismus mit dem Existenzialismus, mit dem Strukturalismus und mit den Avantgarden der Kunst in Kommunikation bringen. Kunst, Politik und Theorie übersetzten sich ineinander und in den Alltag einer Vielzahl von Menschen. „Die Welt verändern und das Leben ändern“, schrieb der Surrealist André Breton 1935: im Mai 68 las man das als Graffiti an den Wänden. Die Bewegung „Contre-Attaque“, die in den 1930ern von Surrealisten und Linksdissidenten der Kommunistischen Partei gegründet wurde, kann man insofern als die erste organisierte Vorhut des Mai 68 verstehen.

Würdest Du damit sagen, dass es gerade auch die linke Kritik an kommunistischer Partei und „Realsozialismus“ war, die den Weg für 68 öffnete?

Die Kritik des Alltagslebens, an der profanen Dreifaltigkeit von Arbeit, Konsum und Freizeit, die Kritik an Familie und Nation verdichten sich politisch in einer Doppelkritik an Kapitalismus und Realsozialismus. Damit öffnen die fortgeschrittenen Kräfte des Mai eine dritte Position, ein Außen zum Ganzen des Bestehenden. Wirksam wurde das auch in den vielen Konflikten in Afrika, Asien und Lateinamerika. Auch wenn die meist in die Blockkonfrontation eingespannt blieben und im Extrem zu „Stellvertreterkriegen“ wurden, öffneten sich doch überall Möglichkeiten einer doppelten Ablösung vom Westen wie vom Osten. Und: Vergessen wir das 68 inmitten des Ostens nicht, den Prager Frühling, die Unruhen in Polen und Jugoslawien, bestimmte Moment der chinesischen Kulturrevolution. Doch obwohl sich das hochexplosive Gemisch entzündete, blieb das Gebäude stehen – auch wenn es seither in einigen Wohnungen ganz anders zugeht.

In Deinem aktuellen Buch „Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt“ (Laika, 2017) entwickelst Du diesbezüglich den Begriff des „Unabgegoltenen“. Worin siehst Du heute konkret die unabgegoltene Potentiale von ‚68?

 In der ersten französischen Revolution hat der Jakobiner Antoine de Saint-Just gesagt, dass sich diejenigen, die eine Revolution nur halb machen, ihr eigenes Grab schaufeln. Das lässt sich auch an den Pariser Ereignissen zeigen: Nach dem Generalstreik einigten sich die regierenden Gaullisten und die Kommunistische Partei auf Neuwahlen, die dann von der Rechten gewonnen wurden. Das, was dabei verloren ging, nenne ich den Überschuss und das Unabgegoltene. Die Welt, das Leben und das Denken wurden mit bleibenden Folgen tiefgreifend verändert – und doch blieb etwas unabgegolten. In seinem politischen Kern verweist das Unabgegoltene von 68 auf eine Gesellschaft, die sich zugleich vom Kapitalismus und von den realsozialistischen Bürokratien befreit hätte. Im erweiterten Sinn auf die vielen Möglichkeiten, die Individuen und das gesellschaftliche Ganze anders zu vermitteln, auf die Chance, ein anderes Verhältnis zum eigenen Leben auch in anderen sozialen Beziehungen zu realisieren – und in einem anderen Verhältnis zur Natur: 68 markiert auch den Aufbruch der Ökologiebewegungen. Nicht, dass das gänzlich verloren gegangen wäre, im Gegenteil. Unabgegolten aber bleibt, dass aus all‘ dem eine neue Welt werden sollte. Dass es dazu nicht kam, wirkte dann auch auf das zurück, was man erreicht hat.

Du sprichst jetzt davon, dass der Kapitalismus den Emanzipationsanspruch von 68 „absorbiert“ hat. Was meinst Du aber mit „Absorption“genau und kann dieser Prozess umgekehrt werden?

Zunächst einmal wörtlich. Was absorbiert wird, wird von etwas anderem auf- und eingesogen, wird verschlungen, löst sich in etwas anderem auf. Im Rückblick auf 68 resultiert die Absorption einerseits aus dem, was ich eben den Verlust des Überschusses genannt habe. Nochmal auf den Pariser Mai bezogen. Zehn Millionen streiken, der amtierende Präsident flieht aus Angst vor einer Revolution nach Deutschland. Was macht man in dieser Lage? Geht man einen Schritt weiter, oder einen zurück? Schwierige Frage: beides kann richtig sein. Da gehen viele, wie man so sagt, „lieber auf Nummer sicher“, d.h. man stimmt für Neuwahlen, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung führen, die jetzt natürlich in vielem anders sein wird. Im individuellen Leben ist das nicht anders. Die Sorbonne ist nicht mehr besetzt, man nimmt sein Jurastudium wieder auf, wird Anwältin. Auch das kann richtig sein. Oft aber geht dabei etwas verloren: der Überschuss, der in dem angelegt war, was man in der Besetzung der Sorbonne gewagt hat.

Das scheint mir eine sehr sozial-psychologische Deutung. Wie können wir das auf einer politökonomischen Ebene verstehen?

Man kann den Kapitalismus als die historisch einzigartige Weltordnung begreifen, die sich seit der Reformation und der Renaissance aus Revolutionen speist, die nur zur Hälfte gemacht wurden. Deshalb ist er ein System ungeheurer, nie zuvor gekannter Zerstörungen – und zugleich ein System von Befreiungen, die alle aus der Absorption von Widerständen und Revolten resultieren. Ein zentrales Beispiel: 68 revoltiert besonders die Jugend gegen das, was man damals das „Normalarbeitsverhältnis“ nennt: Montags bis Freitags von acht bis fünf arbeitet der Mann, die Frau macht den Haushalt, zieht die Kinder groß, einmal im Jahr gibt’s Urlaub, alle fünf Jahre ein neues Auto, dann kommt die Rente. Das Kapital absorbiert die Revolte in dem Augenblick, in dem die Revoltierenden – oft zu Recht – „lieber auf Nummer sicher gehen.“ Wesentliche Befreiung: Die Verbannung der Frauen in den Haushalt fällt. Damit öffnet sich der Horizont zugleich für alle, im Ablauf des einzelnen Tages wie im Lebenslauf. Doch weil das Kapital Regie führt, müssen auch alle dafür zahlen. Man arbeitet nicht mehr von acht bis fünf, sondern rund um die Uhr. Man verbringt sein Leben nicht mehr in ein und derselben Fabrik, hat aber nur noch befristete Arbeitsverträge und eine abgeschmolzene Rente. Man fasst sich an den Kopf und fragt sich: War es das, was wir wollten? Richtig, etwas ist verloren gegangen, etwas blieb unabgegolten. Und genau im Maß des verlorenen Überschusses und des Unabgegoltenen wurde man in ein Spiel absorbiert, aus dem man eigentlich ganz raus wollte. Der Name dieses Spiels ist Kapitalismus, epochal genauer: Neoliberalismus. Der trägt das Befreiungsmoment sogar in seinem Namen: neue Freiheiten.

Nach dem Mai hat das auch die Konzeption der „Politik in erster Person“ getroffen, also eine Politik, die eine Person im eigenen Namen macht und nicht für eine Klasse oder „das“ Proletariat. Warum sprichst Du Dich in Deinem Buch dennoch für eine Wiederaufnahme dieser Politik aus?

Der ursprüngliche Entwurf der Politik in der ersten Person lässt sich im zungenbrecherischen Titel eines kleinen Manifests des Situationisten Raoul Vaneigem fassen, das in Deutschland damals als Raubdruck kursierte: „Die autonome Emanzipation der Individuen ist die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft“. Der kleine Text bringt zwei Tendenzen zusammen: Die Tendenz der Vereinzelung, der Befreiung aus den Zwängen von Gesellschaft, und die Tendenz zur Schaffung einer neuen, endlich klassenlosen Welt. Das schließt an den jungen Marx an, für den das Proletariat gerade die Klasse war, die keine Klasse mehr sein wird, der Stand, der die Auflösung aller Stände vollbringt. Beide Tendenzen bleiben in der Absorption erhalten: die eine in der Individualisierung jedes Einzelnen nur auf sich, die andere in der Globalisierung eben dieser Individualisierung.

Lassen sich diese Tendenzen heute empirisch irgendwo absehen?

In extremer Form an der Bewegung der Flüchtlinge und Migrantinnen. Sie ist die mit Abstand größte soziale Bewegung der Welt, nicht im politisch verengten, sondern in einem ursprünglicheren Sinn: ein gemeinsamer Aufbruch von Vielen, die sich aus unerträglichem Elend zu retten suchen. Dieser Aufbruch, besser: diese Aufbrüche bergen selbst in ihrer Verzweiflung und Gewaltgetriebenheit einen Überschuss, die Sehnsucht nach einem anderen Leben in einer anderen Welt. Beispiel für das Doppel von Globalisierung und Individualisierung sind diese Aufbrüche, weil sie weltweit vereinzelte, ganz auf sich gestellte Individuen hervorbringen, die sich unterwegs und dann in der Fremde neue soziale Beziehungen schaffen müssen. Gegen diese Globalisierung von Individualisierung und Individualisierung von Globalisierung das Unabgegoltene zur Geltung zu bringen, also die wenigstens mittreibende Sehnsucht nach einem neuen Leben in einer anderen Welt, kann dann nicht heißen, die Leute in ihr altes Leben, an ihren alten Lebensort, in ihre verlorenen Gemeinschaften zurückzuzwingen. Stattdessen ginge es um einen Kosmopolitismus frei verbundener Einzelner, die ihre Individualisierung und Globalisierung gegen das globale Kapital und zugleich gegen den Nationalstaat wenden. Wie gesagt: das ist ein extremes Beispiel, doch eines, dass Sie auf jedes andere gesellschaftliche Feld übertragen können. Die Politik in erster Person ist kein Individualismus, sie trägt in der Vereinzelung ein Gemeinsames aus.

Braucht es aber nicht doch Vermittlungsformen von individuellen Einzelnen und großer Geschichte, z.B. neue kollektive Erzählungen, Organisationen, Visionen?

Da bin ich Philosoph. Natürlich braucht es Vermittlungen zwischen den Einzelnen und von den Einzelnen zu Gesellschaft und Geschichte. Sollten das Erzählungen sein, müssen sie Wahrheiten zur Sprache bringen, d.h. durchgearbeitete Erfahrungen. Und da geh ich, wenn‘s um Kollektive gehen soll, mit 68 auf Marx zurück: es müssten Kollektive sein, die alle Kollektive auflösen.

Na schön, darüber müssen wir noch mal wann anders länger reden. Letzte Frage: In Deinem Buch fasst Du den „Geist von 68“ als Versuch, verschiedene Denkströmungen zusammenzubringen. Worauf läuft Deine eigene Philosophie eigentlich zu?

Auch in der Philosophie wurde die Revolution nur halb gemacht, und das führte zu den anfangs links gemeinten Diskursen vom „Ende der Geschichte“, besonders prominent bei Jean-Francois Lyotard, doch auch bei vielen anderen. Francis Fukuyama hat das dann für seine These von der Unüberschreitbarkeit liberalkapitalistischer Gesellschaft absorbieren können. Hier das Unabgegoltene wiederzufinden heißt, die Antidialektik selbst als dialektische Wendung zu denken. Als eine Wendung allerdings, die aus der Dialektik etwas Neues macht, etwas, in dem das Dritte zu den Widersprüchen keine teigige, alles absorbierende Synthese mehr sein wird, sondern das Ungedachte und Ungelebte der Erfahrung. Auf den Punkt gebracht: nach dem Ende der Geschichte ist vor dem Ende der Geschichte.

 

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