Globale Lagerpolitiken

Man weiß gewöhnlich, dass zur Grenze hin, wenn man sie von den Weltinnenräumen des Kapitals her sieht, die Luft kälter, heute sollte man eher sagen heißer wird, und damit die Lebensbedingungen schlechter werden, es wächst die Gefahr, dass man von außen kommenden, vielleicht sogar subversiven Gruppen begegnen könnte, den Anormalen, den besonders Armen, den Buckligen und den Wahnsinnigen, den »Zigeunern« und »Negern«, ja dem Menschenmüll, den Surplus-Bevölkerung zu nennen bisher nur die Marxisten gewagt haben. Gegen all diese Kräfte hilft am Ende nur noch die exzessive Markierung der Grenze, elektronische Zäune, Stacheldraht, Satellitensysteme, Frontex, Schiffe und apotropäische Strukturen, die in die Grenzlinien eingeschrieben werden, und funkelnde Zusatzlinien aus der virtuellen Welt der Kampfjettechnologie, oder affektive Wahnsysteme, die man rituell in den Wohlfühloasen des Westens zirkulieren lässt. Es war Gilles Deleuze, der einmal gesagt hat: »Im Wahn gibt es immer einen Neger, einen Juden, einen Chinesen, einen Großmogul, einen Arier« (Deleuze 2005: 26).

All das kann man beliebig erweitern und als Anwendung der Markierung einer Innen/-außen-Unterscheidung mit reichlich vorhandenem empirischen Material unterfüttern, aber dabei würde es immer trostloser werden, es würde einem fast um den Verstand bringen, käme es heute doch gerade darauf an, die Fälle des Verschwimmens dieser Unterscheidung zu bevorzugen, wie es in früheren Gesellschaften vielleicht einmal beim Karneval oder Potlatch noch der Fall war. Stattdessen hat der das Kapitalverhältnis bestimmende fortschreitende Rückschritt lediglich Gott, der im Mittelalter von der Unterscheidung Innen/Außen noch ausgenommen war, eliminiert, und, ohne dass es jemand an dessen Stelle gesetzt hätte, seine immanente Grenze selbst-herrlich immer weiter vor sich her geschoben. Nur wenn dabei das Kapital als Produktion um der Produktion willen am Profit, an dem es immer mangelt, und vor allem am sozial und politisch gepflegten Konsum endlicher Menschen seine zeitweilige Grenze findet, können dem Kapital auf dem Weg zum Gipfel aller Gipfel, der es selbst ist, im eigenen Binnenraum noch Steine in den Weg gelegt werden. Es müsste dann nämlich auf eine Masse von potenten und sozialisierten Geldbesitzern und deren politische Aussagekraft noch Rücksicht genommen werden. Wenn das Kapital aber lediglich in Finanztransaktionen, objektiven Produktionsabläufen und Verfahrensvorschriften insistiert und sich in Autobahnen, Luxusyachten, Fernsehern, Computern, Raketen und Tiefkühlpizza materialisiert – Schund, und zu guter Letzt von dessen Konsum einen größeren Teil der Menschheit noch ausschließt, so braucht es einerseits in den Binnenräumen keine Grenzen mehr beachten, während gleichzeitig die Grenze zwischen Zentrum und Peripherie mit erschütternder Drastik in den Weltinnenraum des Kapitals selbst hineinbricht. In den Wohlfühloasen im Norden erscheint im Vergleich zur Armut des Lebens im Büro der größere Teil der Konsumgüter inzwischen als Überfluss, bräuchte man doch angesichts der langen Zeit, in der man sich in den Büros abrackert oder wahlweise langweilt, zuhause nur noch Computer, Kochplatte und Bett, um sich zu regenerieren, während Stereoanlage, Luxusgrill und Couchgarnitur in den Wohnungen nutzlos anwesend sind, wie vordem in Schaufenstern. Es ist auch diese Dynamik, die das Kapital anscheinend grenzenlos macht. Sieht man noch etwas genauer hin, dann ist der Weltinnenraum des Kapitals eine gegliederte Binnenwelt, in der ähnlich der mittelalterlichen Mystik ein leidenschaftliches Innen-Interesse verfolgt und der Weg zur Vollkommenheit als der Weg in und zu einem Zentrum imaginiert wird. Diese schamlose Konzentration auf das Innen läuft heute aber nicht ohne die Vernutzung und Verwüstung des »Außen« – imperiale Kolonialisierung, Kapitalexport und Rohstoffimport, TUI-Katalog und Massentravelling. Gewissermaßen ist das alles für das im Innen delirierende Subjekt, vor allem, wenn es auf der Verliererseite steht, immer auch eine Zumutung, der man nur allzu gerne zu entkommen trachtet. Und so kann die kollektive Ermächtigung des Vergessens die fast schon von außerirdischen Bewandtnissen (obgleich immer aus dem Süden kommend) bedrohten Volksseelen in den Wohlfühloasen des Kapitals mit politischen und ökonomischen Sadismen füttern, und zwar bei ihrem, man sollte es nicht glauben, neobuddhistisch inspirierten Gleiten auf den obsessiven Aneignungs-, Reinigungs- und Wellnesswegen, denen sich von Außen unentwegt widerwärtige Gestalten nähern: Kriminelle, Teufel, Ungeziefer – Monströsitäten, die für all die Illusionsabfälle und Irritationsmöglichkeiten des Heilsweges der halbwegs Privilegierten nach innen stehen müssen, eines Weges, der seltsamerweise immer nur zurück zur Bestialität des Besitzindividuums führt, das aber auf der See des fibrillierenden Geldkapitals ohne Blasen zu hinterlassen von den sozialpsychologischen Imperativen der finanziellen politischen Ökonomie absorbiert wird.

Der Kapitalismus gestaltet die Welt auf der Grundlage von zwei räumlichen Modellen neu: Der Flughafen und das Lager. Flughäfen fungieren als gesicherte Räume der Zirkulation und des Konsums für die Wohlhabenden und gut Dokumentierten. Das Lager ist verlassen und wird zuweilen bekämpft, es dient als Ressource und Müllhalde. Sowohl der Flughafen als auch das Lager werden intensiv überwacht und polizeilich kontrolliert, aber nur, damit die Trennung zwischen ihnen noch stärker aufrechterhalten werden kann. Die Flughäfen der Welt werden zu einem zusammenhängenden Archipel von klimatisierten Einkaufszentren, während das Lager als Ödland für den Überschuss der Menschheit zurückbleibt – immer mehr verschmutzt und verarmt – und wenn seine Bewohner rebellieren, kann das Lager leicht in Schutt und Asche gelegt werden.

Längst ist die eindeutig fixierte Grenzlinie zwischen den Staaten einem instabilen und flexiblen Grenzraum gewichen, wobei die Einteilung der südlichen Staaten in Fluchtländer, Durchgangs- und Lagerstaaten, Herkunftsländer oder sichere Drittstaaten zunächst keine Verletzung der Souveränität dieser Staaten darstellt, sondern man will von Seiten der führenden imperialistischen Staaten vor allem Instrumente entwickeln, um die Flüchtlingsrouten auf globaler Ebene zu regulieren, man denke an die Verlagerung der Grenzen durch die EU tief in Afrika hinein. Inzwischen gibt es in und vor Europa wieder Internierungslager, die man Hotspots oder Ankerzentren nennt, und es wird unter der Regie der EU-Grenzschutzagentur Frontex das Mittelmeer mit den bekannten Folgen des Absaufens der Flüchtlinge überwacht. Kriegsflüchtlinge und Teile der globalen Surplus-Bevölkerung, denen nicht einmal der Genuss auf Ausbeutung durch das Kapital vergönnt ist, sind mit den verschiedenen Formen der abgestuften staatlichen Operationen der Lagerbildung und den integrierten Systemen des Rückführungsmanagements etwa in Europa konfrontiert. Die Flüchtlinge werden es in Zukunft mit einer Erhöhung der Anzahl von Deportationen und der Schaffung neuer gouvernementaler Organisationen und Sicherheitsinstitutionen zu tun bekommen, die sich exzessiv um das Management der Grenzräume kümmern, welches mit der Militarisierung des alltäglichen Lebens in diesen Räumen einhergeht und womit die Biopolitik unweigerlich zur Thanatos-Politik transponiert. Letztendlich soll die Surplus-Bevölkerung des Südens auch zuhause dem Tod durch die globale Erwärmung erliegen, anstatt vielleicht auf die närrische Idee zu kommen, in den Norden zu fliehen. Die imperialistische Thanatos-Politik fordert die Schließung der Grenzen, die Engführung des possessiven Extremismus der Eliten und der Mittelklassen in den Metropolen und den Genozid oder einer Art Super-Auschwitz für die Surplus-Bevölkerung im Süden geradezu heraus, insbesondere eben den Genozid an jenen, die in Zukunft der tödlichen Erwärmung des Erdballs zu entkommen versuchen werden.

Derzeit überführt das libysche Militär, ohne dass europäische Behörden und nationale Regierungen nur ansatzweise widersprechen, zurückgeführte Flüchtlinge in Internierungsager, wo sie zum Teil misshandelt, gefoltert und anderweitig gedemütigt werden. Deutschland und Frankreich wollen, um die Außengrenzen Europas weiter tief nach Afrika zu verlagern, Waffen an afrikanische Staaten liefern, die von »failed states« kaum noch zu unterscheiden sind. In den Wüsten Afrikas sterben inzwischen mehr Menschen als im Mittelmeer, was die Regierungen und die EU bereitwillig hinnehmen. Und immer mehr Bewohner bestimmter Regionen des globalen Südens, wo im Zuge der globalen Erwärmung die Temperaturen am extremsten ansteigen und die Versteppung weiter voranschreiten wird, werden die harte brutale Hand der imperialistischen Bunkerstaaten zu spüren bekommen, indem man sie zuerst als Kriminelle, Diebe, Mörder und Vergewaltiger, ja als Subhumane, die unter der Würde der ach so aufklärerischen Perspektiven des westlichen Zivilisation stehen, disqualifiziert, bevor man sie endgültig in Lager sperren wird.

Nicht zu vergessen bleibt, dass man afrikanischen Unternehmen, wie in den diversen Freihandelsabkommen afrikanischer Staaten mit der EU fixiert, den Zugang zu den europäischen Märkten verwehrt, während in Europa ansässige Unternehmen mit ihren vom Staat subventionierten Waren die afrikanischen Ökonomien überschwemmen und den einheimischen Bevölkerungen ihre Lebensgrundlagen entziehen, man denke an das Dumpinggeflügel, das nach Ghana geliefert wird und dort die einheimische Geflügelbranche in den Ruin treibt. Es sind Unternehmen aus der EU, welche die senegalesischen Küstengewässer leer fischen und damit Senegals Fischereibranche in den Ruin stürzen. Durch intensiven Landraub werden Lebensmittel oder fruchtbare Böden (Palmölplantagen in der Elfenbeinküste, Rosen aus Kenia, Erdnüsse aus dem Senegal etc.) zerstört und Fischfanggebiete, Rohstoffvorkommen (Uran aus Niger, Tschad und Mali) sowie billige Arbeitskräfte werden vom westlichen Kapital angeeignet und schamlos ausgebeutet. Nicht zuletzt müssen Teile der Surplus-Bevölkerung im Süden sich in der Konkurrenz um billige Lohnarbeit oder informelle Arbeit im Preis unterbieten und landen schließlich in den großen Slums der einheimischen Metropolen.1

Das rassistische Phantasma, das stets Teil des Staatsrassismus ist, der den Fremden ausschließt und das Leben und das Sterben der Bevölkerung überwacht und reguliert, hat im Moment eine leichte, wenn auch nicht unbeabsichtigte Modifizierung angenommen. Gemäß den allgemeinen Spielregeln des Neoliberalismus beobachten wir auch hier eine Fortentwicklung vom Sicherheitsdispositiv hin zum Risikodispositiv. Der rassistisch konnotierte Migrations-Diskurs stellt die einheimische Bevölkerung zunächst als einen integralen, als einen quasi-organischen Körper vor, der durch klare Grenzen gegenüber der Außenwelt charakterisiert ist und gegen die Horden und Nomaden aus dem Süden verteidigt werden muss, welche die gesunde Homogenität des Volkskörpers bedrohen. Und dies schließt heute, in der der Erweiterung vom Sicherheits- zum Risikodispositiv, die strikte Unterscheidung zwischen erwünschten qualifizierten ausländischen Fachkräften, an denen es in Deutschland in einigen Sektoren mangelt, und dem unerwünschten Flüchtling ein, der für die Masse des unbrauchbaren Menschenmülls aus dem globalen Süden steht.2

Kommen wir noch einmal auf den Begriff des Lagers zurück. Giorgio Agamben hat uns daran erinnert, dass die ersten Lager in Europa errichtet wurden und dass die Abfolge Internierungslager – Konzentrationslager – Vernichtungslager eine durchaus reale Abstammungsreihe hat. (Agamben 2002: 130f.) Folgt man wiederum Hannah Arendts Einteilung, dann muss man im 20. Jahrhundert drei Typen von Lagern zur Kenntnis nehmen : 1) Im »Hades« fanden wir »jene verhältnismäßig milden Formen des vernachlässigenden Aus-dem-Wege-Räumens«, so Arendt, »die für unerwünschte Elemente aller Arten – Flüchtlinge, Staatenlose, Asoziale, Arbeitslose – auch in nicht-totalitären Staaten in Mode zu kommen drohten« (Arendt 1948: 315), man denke heute in Deutschland an die Ankerzentren für Asylsuchende; 2) das »Fegefeuer«, den sowjetischen Gulag, in dem Arbeitszwang herrscht, und 3) die »Hölle«, eine Kennzeichnung, die ausschließlich für die Konzentrationslager des Nationalsozialismus gilt, welche sich durch die brutale Erniedrigung und die Vernichtung ihrer Insassen auszeichnen. Man muss hinzufügen, dass die Konzentrationslager des faschistischen Ausnahmestaates dieselbe Raummatrix wie das nationale Territorium fixieren, um sich als Einschließung für die inneren Feinde auf dem nationalen Territorium zu konkretisieren. In den Lagern werden die Grenzen in den nationalen Raum hineingenommen. (Poulantzas 1978: 97) Dabei ist das Konzentrationslager als eine Art Labor zu verstehen, in dem spezifische Arbeits- und Organisationstechniken, Techniken der Disziplinierung und Praktiken der Naturwissenschaften so angeordnet werden, dass sie in das selbstreferenzielle System der absoluten Vernichtung im Sinne eines technokratischen Totalitarismus eingeschrieben werden können, der jede produktive Funktion des Arbeitens außer Kraft setzt. Maurice Blanchot hat diese Art der Vernichtung etwas ausdifferenziert: »Und die Arbeit ist überall, jederzeit. Wenn die Unterdrückung absolut ist, gibt es keine Muße, keine Freizeit mehr. Der Schlaf wird überwacht. Der Sinn der Arbeit ist dann die Zerstörung der Arbeit bei der und durch die Arbeit. Wenn aber, wie es in manchen Konzentrationslagern vorkam, Arbeiten darin besteht, im Laufschritt Steine zu einem Ort zu schleppen, sie aufzutürmen, um sie dann, immer noch rennend, wieder zum Ausgangspunkt zu bringen … dann kann die Arbeit nicht mehr durch irgendeine Sabotage zerstört werden, wenn sie bereits dazu bestimmt ist, sich selbst zu vernichten. Trotzdem behält sie ihren Sinn; nicht nur den Arbeitenden zu zerstören, sondern, unmittelbar, ihn zu beschäftigen, ihn zu fixieren, ihn zu kontrollieren und ihm gleichzeitig das Bewußtsein zu geben, daß Produzieren und Nicht-Produzieren ein und dasselbe sind, ebenfalls Arbeit ist.« (Blanchot 2005: 102-103) Damit verweist die industrielle Todesproduktion nicht nur auf die Überflüssigkeit des Menschen, auf die auch Arendt hingewiesen hat, sondern auf die damit verbundene Überflüssigkeit der Arbeit, wobei die Arbeit aber beibehalten wird, selbst dann noch, wenn sie wie heute oft genug auf schlichte Anwesenheit im Raum reduziert ist.

Der Soziologe Christoph Dries wiederum hat in seinem Buch Die Welt als Vernichtungslager an die Bemerkungen von Hannah Arendt und Günther Anders zum Lager anschließend den bisher wenig beachteten Terminus »Welt als Lagerzustand« ins Spiel gebracht. Dieser beziehe sich, so Dries, auf die gegenwärtige Welt, die sich sukzessive einem Zustand annähere, der in Abgrenzung vom System der Konzentrationslager eben als »Weltzustand Lager« beschrieben werden könne, eines Bestandes, der das Resultat einer eher ungeplanten, sukzessiven Entwicklung sei, in deren Verlauf die Welt zu zugerichtet werde, dass sie den Status eines den ganzen Erdball umfassenden Vernichtungslagers annehme, wobei die Grenze zwischen Innen und Außen, die noch für das NS-Lager konstitutiv sei, implodiere, sodass das Lager letztendlich keine Umwelt mehr habe und die Welt selbst »zu einem unvorstellbaren ›Ab-ort‹«, einer »Kloake des Menschen«, einer »Wegwerf-Welt« regrediere. (Dries 2012: 353) Wenn es heute bei der Reproduktion des Menschen weniger um den Begriff der Rasse als um den genetischen Code geht, dann scheint auch gerade an dieser Stelle die Überflüssigkeit des Menschen eine unausweichliche Entwicklung anzunehmen. 3

Wir können diese Position hier nicht weiter diskutieren, es sei nur soviel gesagt, dass diese Ansicht in ihren Schlussfolgerungen teilweise derjenigen von Agamben nahe kommt, der allerdings, um die Funktionsweisen von Macht und Lagerhaltung zu bestimmen, insbesondere das Verhältnis von Souveränität und Territorium untersucht und dabei eine enge Beziehung zwischen Souveränität, Ausnahmezustand und Lager hergestellt hat, indem er das juridisch-institutionelle Modell der staatlichen Souveränität mit Foucaults biopolitischer Machtanalytik (Disziplinierung der Bevölkerungen und der Körper) kurzschließt. Das Lager integriert sowohl die Souveränität als auch die Macht, insofern hier der allgemeine Ausnahmezustand, der eine zumindest zeitweilige Aufhebung der staatlichen Ordnung darstellt, in einen kontinuierlichen Raum übersetzt wird. So sind die Lager für Agamben definitiv Orte der Ausnahme innerhalb eines staatlichen Territoriums, die sich aber zugleich außerhalb des normalisierten Geltungsbereiches des Gesetzes befinden, oder, um es anders zu sagen, das Lager ist ein Raum außerhalb der »normalen« Rechtsordnung, ohne Außenraum zu sein. Indem in den Flüchtlingslagern seinen Insassen jeglicher rechtlicher Status verweigert wird, reduziert man sie auf ihre nackte physische Existenz und exekutiert an ihnen gerade dadurch einen Akt der absoluten Macht als eine ordnungsgemäße Technik des Regierens. Insofern ist das Lager ein Ort, in dem infolge der Rechtlosigkeit stets auch Recht geschaffen wird.

In an Agamben anknüpfenden Analysen, die sich mit den Migrationsbewegungen an den Rändern Europas beschäftigen, haben einige Autoren (Papadopoulos, Stephenson, Tsianos 2008) die Bestimmung des Lagers als einen Raum der Einsperrung (Immobilisierung) und als ein disziplinäres Mittel des Ausschlusses in Frage gestellt, indem sie die Faktoren Zeit und Mobilität ins Spiel bringen, um stärker die Diffusität von heutigem Lagerstrukturen herauszuarbeiten. So seien etwa die europäischen Schengen-Lager nicht als bloße Lager, sondern in Anlehnung an Paul Virilio als »Geschwindigkeitsboxen« zu verstehen, welche die Flüchtlingsbewegungen durch eine Art der «Entschleunigung« der Geschwindigkeit zu regulieren versuchten. Durch die spezifische Dynamisierung der Migration erlangen die Lager eine zeitliche Dimension und werden als Transitstationen bzw. als vorläufige Stationen entworfen, in denen entlang heterogener migrantischer Fluchtlinien lediglich eine temporäre Mobilitätskontrolle stattfindet.

Diese Aussagen decken sich wiederum partiell mit den Analysen des amerikanischen Theoretikers Thomas Nail, der argumentiert, dass die systemische Gewalt, die der Grenze inhärent sei, nicht nur als ein Effekt des operativen Paradoxons staatlicher Souveränität (Ausschluss qua Gesetz) betrachtet werden sollte, wie dies eben Agamben tue, sondern zunehmend auch als eine Funktion von mikropolitischen Grenzen, ja von Grenzräumen, die eine diffuse soziale Gewalt gegen Migranten und Flüchtlinge in sich wirken lassen würden und sie damit genau aufrechterhielten. (Nail 2015)

Für die Migranten selbst funktioniert der Gesellschaftskörper zunehmend wie ein fluider Grenzraum, in dem die Überwachung auf Dauer gestellt ist. Thomas Nail hat das 21. Jahrhundert in seinem Buch The Figure of the Migrant als das des Migranten bezeichnet, einer Figur, die allerdings nicht mit dem Flüchtling gleichgesetzt werden darf.4 Damit wird auch die bisherige Definition der Grenzen in Frage gestellt. Grenzen sind eine moderne Konstruktion, die parzellierte, diskontinuierliche und fragmentierte Räume impliziert und deren Rasterung zur Festlegung eines Innen und Außen führt. Die Aufgabe des Staates besteht darin, diese fragmentierten Räume zu homogenisieren und abzuschließen und durch diese Vereinheitlichung konstituiert er sich selbst, und das heißt eben, dass die Grenzen und Territorien der staatlichen Einigung im Inneren nicht vorausgehen, sondern uno actu mit ihr erschaffen werden. Eine segmentierte Kette von individuellen Plätzen und Orten umfasst nun das Innen eines nationalen Territoriums, und zwar als Teil der staatlichen Machtausübung. Weit davon entfernt die Nationalstaaten zu zerstören, haben heute die temporären staatlichen Ausnahmezustände und die in ihnen wirkenden Faschismen das Paradox der Exklusion/Inklusion verschärft, gerade indem eine dezentralisierte und multiple Institutionalisierung der Migration in Gang gesetzt wird, die heute flexible Grenzziehungen benötigt,die in die diversen Lebens- und Arbeitsweisen der Migranten hinein diffundieren.5

Die multinationalen Unternehmen und die imperialistischen Staaten haben im Gleichklang eine strukturelle Unsichtbarkeit des Exzeptionalismus bzw. des Ausnahmezustands geschaffen. Die Grenzen sind nur die politisch sichtbare Linie dieses Ein- und Ausschlusses, während das die Grenzen erweiternde und eher unsichtbare Grenz-Dispositiv oder der Grenz-Apparat zwar auch weiterhin ein- und ausschließen, allerdings weniger durch eine nicht überwindbare Wand, vielmehr mit Hilfe von vielfältigen Passagen, die von den Kapitalströmen ohne weiteres durchquert werden können (um Profite zu erzielen, Kontrolle und Sicherheiten herzustellen) und von den Migranten unter gewissen Bedingungen, während die Flüchtlinge und die Surplus-Bevölkerung in diese Passagen erst gar nicht hinein gelangen oder in ihnen allenfalls steckenbleiben. Allerdings kann ein Strom wiederum selbst eine Wand werden, für die dann vor allem die Nationalstaaten stehen, wenn man ihre Handelsbeschränkungen, Währungsbeziehungen und Abkommen, die den freien Fluss von Waren und Kapital einschränken, umleiten und in neue Bahnen lenken, berücksichtigt. Das Grenz-Dispositiv, das nicht mit geographischen Grenzlinien zusammenfällt, zeichnet eine gewisse Selbstregulierung und Selbsttransformation aus, insbesondere für diejenigen, die an der Macht sind, weil sie Grenzlinien vorverlegen und militarisieren können. (Bernes 2018) Grenzen sind jetzt als modulierende Begrenzungen zu verstehen, mit denen nicht nur externe Bewegungen blockiert, sondern spezifische geteilte Bevölkerungen innerhalb eines bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbaren Environments in Kanäle gezwängt und dadurch reguliert und integriert werden. Der Souverän mag zwar nach wir vor über den Ausnahmezustand entscheiden, aber er ist selbst äußerst flexibel und multipel geworden, was durchaus zu sich verschiebenden Souveränitätseffekten, aber auch -verlusten führen kann.

1 In den europäischen Ländern wäre der Sonderstatus als Flüchtlinge aufzuheben und mit Forderung der Abschaffung des Flüchtlingsregimes angemessen zu reagieren, der Forderung nach Rechtsgleichheit, was die freie Beweglichkeit, Mobilität, Bildung, Arbeitserlaubnis etc. der Migranten angeht. Das Flüchtlingsregime anzugreifen, das hieße den rechtlichen Nicht-Status der Flüchtlinge, der etwa durch Lebensmittelgutscheine statt Bargeld, Arbeitsverbot, Residenzpflicht und Sammelunterkünfte markiert wird, anzugreifen. In all diesen Punkten werden die Maßnahmen aber gerade verschärft. Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsgleichheit des Flüchtlings im Kapitalismus aus rein »logischen« Gründen gar nicht möglich ist. Schon bei Kant kann man nachlassen, dass in einer Nation, die sich über ihr Territorium als ihr Volkseigentum ist, definiert, der Fremde unweigerlich als Unperson gesetzt ist. So wie der Schutz des Hauses ein entscheidendes Anliegen des Bürgers und Privatmannes ist, so ist die Integrität der Grenzen die Existenzbedingung des Staates, will der Marquess Curzon of Kedleston schon um das Jahr 1900 zu berichten. Die Nation verbietet es geradezu, ein Gast-Recht zu etablieren, bei dem der Gast als Rechtsperson verstanden wird. Gastfreundschaft ist keine philanthropisch-humanitäre Geste und auch keine Art von Mildtätigkeit, sie ist das Politische, das durch die Subalternen erkämpft werden muss.

2 Wolfgang Pohrt hat vor 25 Jahren in seinem Essay Der moderne Flüchtling – Über Eric Ambler Folgendes geschrieben: »Ähnlich wie heute, wo 100.000 zusätzliche Menschen in der BRD eine vernachlässigbare Größe wären, während 100.000 Asylbewerber, denen das Recht auf Freizügigkeit wie auf Arbeit entzogen wurde, bereits jetzt einen die Grundrechte unterminierenden Sonderfall darstellen und sich tätsächlich zu dem sozialen Problem entwickeln können, als welches man sie betrachtet; ähnlich wie heute also wurden damals (nach 1918) die Flüchtlinge zu einem destabilisierenden Element durch die Behandlung, die ihnen widerfuhr. Festgehalten im Stand der Rechtlosigkeit, welcher den der Gesetzlosigkeit einschließt, waren sie das anschaulichste Beispiel für das Schrumpfen des Geltungsbereichs von Gesetzen, für Zersetzungserscheinungen im Bereich staatlicher Kontrolle über die Bevölkerung und überhaupt für die wachsende Unfähigkeit des überkommenen Sozialgefüges, das Leben der Menschen in geregelten Bahnen zu halten« (Pohrt 1989: 152). Wenn sich heute deutsche Politiker mit der Äußerung brüsten, dass wir uns überall auf »Veränderungen einstellen müssten: Schule, Polizei, Wohnungsbau, Gerichte, Gesundheitswesen, überall«, dann klingt dies nach einer für große Teile der Bevölkerung zu befürchtenden Neugestaltung der Bereiche staatlicher Kontrolle, wobei das destabilisierende Element des Flüchtlings die Rolle des Auslösers übernimmt, um das ein oder andere demokratische Recht weiter zu verabschieden und die Verarmung von Teilen der Bevölkerung noch weiter hoffähig zu machen, insbesondere jenes Teils, den die Verarmungsmaschinerie des deutschen Staates als Billigarbeitskräfte und Sozialhilfeempfänger festgesetzt hat.

3“Nach Hannah Arendt wird durch die industrielle Todesproduktion, für die Auschwitz steht, weit über die Vernichtung der KZ-Inhaftierten hinaus die Überflüssigkeit des Menschen demonstriert, die heute unter der Voraussetzung, dass es nicht mehr um den Begriff der Zucht und der Rasse geht, sondern um den des genetischen Codes, mit Blick auf das Wachstum weitergeführt wird.” (Gerburg Treusch-Dieter 2003: 66)

4 Der Flüchtling will/muss aus ganz verschiedenen Gründen das Territorium seines Staates verlassen, in dem er als Staatsbürger dem nationalen Rechtssystem unterworfen ist und deshalb gelten auch für ihn zunächst alle Regeln der Aus- und Einwanderung. Auf der Flucht muss der Flüchtling aber gerade den Gesetzen des eigenen Landes entkommen, wenn er beispielsweise einer in Ungnade gefallenen Religionsgemeinde oder politisch verfolgten Gruppe angehört, Opfer von Landraub oder Bürgerkriegen geworden ist oder gar von Hungertod, Folter und Todesstrafe bedroht ist.

5 Die juridisch-politische Suspendierung von Recht und Gesetzen oder ihre permanenten Umschreibungen dienen hier neuer Einschreibungen von Sicherheit, die sich nicht nur gegen die Migranten und Flüchtlinge, sondern eben auch gegen die Armen generell richten. Dabei können die multinationalen Unternehmen ohne weiteres Grenzen überschreiten, während den Armen und der Surplus-Bevölkerung der Zugang zu bestimmten Territorien ohne jede Begründung verweigert wird.

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