Heimat ist konstitutiv imaginär und fremd.

Das Blut-und Boden-Geraune, das verzweifelte Anbeten der Heimat, die Liebe zu Wellness- und Naturreservaten, zu den Trümmerfrauen und zum Exzess der Arbeit – dieses explosive Gemisch auf Gefühlsduselei, landesüblicher Verklärung und Brutalität hat längst auch bei den Linken Einzug gehalten. Manchmal berufen sich die Belesenen noch auf Ernst Bloch, von dem zumindest der Satz “Heimat ist dort, wo noch niemand war” bekannt ist und der deswegen fleißig zitiert (und missverstanden) wird.

In aller Kürze hat der Bloch-Schüler Hans-Dieter Bahr in seiner Schrift “Die Sprache des Gastes” für Richtigstellung gesorgt:

Ließe sich dann nicht, etwa mit Ernst Bloch, sagen, es ginge nicht um eine Rückkehr, sondern um eine Heimkehr dahin wo noch keiner war? Dann gälte der Traum der Wunscherfüllung, des vollkommenen Glücks als vorgängiger Ort einer heimischen Zugehörigkeit. Doch da ihm die Sache des Anderen, die Realität (res aliter) fehlt, bestimmt gerade der Wunsch nur die vorgängige Zugehörigkeit zum Verlust dessen, was man nie hatte.

In seiner neuen Schrift “Landschaft” präzisiert Bahr diesen Traum anhand der Begriffe “Landschaft” und “Gast”.

Der Ist-Zustand:

Die Zerfallserscheinungen ehemals wohnlicher Länder reichen tiefer als die manchmal mit Bedauern bezeichneten Symptome fortschreitender Verbauung. Doch nicht die Verbauung an sich ist das Problem, sondern die grauenvolle, barbarische Art, wie sie inzwischen weltweit geschieht, um dem american way of life nachzueifern, nämlich durch die schachtelartigen Wellblech- und Betonklötze und deren Zink- und Stahlverstrebungen, in denen die wachsende Größe mit der wachsenden monotonen Unförmigkeit zusammenfällt. Es wuchern die öden Vor-orte der Vor-Orte, deren Austauschbarkeit nicht nur in Europa mit dem folkloristischen Kult um die ›historischen Altstadtzentren‹ kaum zu verschleiern ist. ›Überbaut‹ werden die Landschaftsbilder auch durch die netzartigen Zerschneidungen der noch ›unverbauten‹ Landstriche mit Plastikplanen über den Feldern, mit Straßen, Schienen, Fernleitungen und Flugbahnen, durch Ketten von Türmen gigantischer Windkrafträder und Sendemasten auf jedem Hügel, aber auch durch den omnipräsenten Maschinenlärm der Fahrzeuge auf dem Land, den endlosen Lärm der Mähmaschinen und der landwirtschaftlichen Maschinen auf den Äckern und Wiesen sowie den Lärm in den forstwirtschaftlich zersägten ›Wäldern‹, die man inzwischen fast bis zum Kahlschlag ausgedünnt und in Müllhalden für unbrauchbares Laub und Gehölz verwandelt hat; überbaut auch vom Lärm der Schiffsmotoren auf den Gewässern und der Flugzeugmotoren in der Luft usf. Und damit sich die ›Massen‹ von all dem sollen ›erholen‹ können, bepflastert man die Landstriche mit Vergnügungsparks, Skipisten und Rennbahnen, mit Park-, Sport- und Spielplätzen, mit Grillstellen, Pommesfrites- und Wurstbuden und mit unzähligen Sitzbänken, um den Ausblick auf die wachsenden Monokulturen der Felder ›übersehen‹ zu können, zumeist begleitet vom immerwährenden Gedudel und ›Geschlager‹ aus den lauten oder leisen Lautsprechern, abgelenkt von Sport- und Showsendungen auf den Bildschirmen, vom Geplauder und von den Internetspielchen mittels der Mobiltelefone, entlang den kanalisierten Bächen und Flüssen und auf den immer lückenloser vernetzten Rad- und Wanderwegen mit ihren unzähligen Wegweisern durch die Wälder und Felder usf. – Vor den destruktiven Zugriffen der Massentouristen glaubt man einige Naturschutzreservate ganz abschirmen zu können, ohne doch die verderblichen Lüfte, Regen und Strahlungen abhalten zu können. Doch diese ›Massen‹ weichen schon längst in die unzugänglichsten Urwälder, Steppen und Wüsten dieser Erde aus, die sie überfliegen oder mit einer Art Panzerfahrzeug durchpflügen. Man verzehrt flüchtige Anblicke bestimmter Landstriche wie Hamburger mit Cola und macht Erinnerungsfotos davon. Und die Tourismusindustrie profitiert von einem immer rarer werdenden Gut ›Landschaft‹, das sie vermarktet.Was aber auch immer die ›Massen‹ – in der Menge oder einzeln – auf dem noch unbewohnten und unbefahrenen Land finden mögen: Landschaften sind es gewiß nicht! Und gleichwohl – durch die destruktiven Eroberungen bisher ungenutzter Landstriche, durch Verbauungen, Vernetzungen und Massentourismus hindurch – spürt man überall noch den völlig deformierten Traum, ›draußen im Freien‹ etwas finden zu können, was man in den endlos werdenden Beton-, Blech und Teer-Vororten verspielt hat. – Betreffen aber diese Zerstörungen des Landes überhaupt das Wesen der Landschaft? Entschwindet dieses nicht nur dem Blick der Menschen über sich selbst hinaus? Wie wenn sie vielmehr nur Zerstörungen wesentlicher Anliegen menschlicher Existenz wären, nämlich des Anliegens, die Sucht nach Aneignungen und Besitzergreifungen angesichts landschaftlicher Erscheinungen überschreiten zu können hin zu bedeutsameren Horizonten?

Der Traum:

Durch eines jedoch überschreiten landschaftliche Erscheinungen allemal die der Länder und der menschlichen Anliegen: Sie öffnen sich zu wechselnden Horizonten, die sich im widerstreitenden Zustimmen der Seinsweisen des Raumes zeigen: von der Nähe zur Ferne, von der Niedrigkeit zur Höhe, der Enge zur Weite, der Fläche zur Tiefe, der ›Heimat‹ zur ›Fremde‹. Die Räumlichkeit der Länder folgt dagegen nur meß- und berechenbaren Abständen. Das aus der Abwesenheit zu verstehende An-wesen der Landschaft in ihren Erscheinungsweisen werde ich in einem mathematischen Sinne ›imaginär‹ nennen, im Unterschied zu ihren jeweils ›imaginativen‹ Erscheinungen. Das Imaginäre hat nichts mit dem ›Unwirklichen‹ zu tun, sondern eröffnet eine Dimension der Wirklichkeit, die weder durch Setzungen als positiv noch durch Verneinungen als negativ bestimmt werden kann. Von dieser Art aber sind die landschaftlichen Horizonte: weder positiv etwas einschließende Grenzen noch negativ Entgrenzungen zum Grenzenlosen. Insofern liegt im Wesen der Landschaften ein dem logisch zweiwertigen Denken gegenüber ›ungegebenes‹ Drittes. Da nun aber Umgangssprachen weitgehend technisch-struktural über Oppositionsbildungen funktionieren, werden wir Schwierigkeiten zu riskieren haben, uns dem Verständnis dieser dritten Wirklichkeitsdimension ›nähern‹ oder vielmehr ›fern halten‹ zu können. Was bezüglich des Horizonts als Grenze vorgestellt wird, ist nur eine an sich unmögliche Verbildlichung des Imaginären. Doch Landschaften lassen Horizonte auftauchen, indem sie sich der Ferne und Höhe, der Weite und Tiefe und der Fremde schlechthin öffnen…

Das aus der Abwesenheit zu verstehende An-wesen der Landschaft in ihren Erscheinungsweisen werde ich in einem mathematischen Sinne ›imaginär‹ nennen, im Unterschied zu ihren jeweils ›imaginativen‹ Erscheinungen. Das Imaginäre hat nichts mit dem ›Unwirklichen‹ zu tun, sondern eröffnet eine Dimension der Wirklichkeit, die weder durch Setzungen als positiv noch durch Verneinungen als negativ bestimmt werden kann. Von dieser Art aber sind die landschaftlichen Horizonte: weder positiv etwas einschließende Grenzen noch negativ Entgrenzungen zum Grenzenlosen. Insofern liegt im Wesen der Landschaften ein dem logisch zweiwertigen Denken gegenüber ›ungegebenes‹ Drittes. Da nun aber Umgangssprachen weitgehend technisch-struktural über Oppositionsbildungen funktionieren, werden wir Schwierigkeiten zu riskieren haben, uns dem Verständnis dieser dritten Wirklichkeitsdimension ›nähern‹ oder vielmehr ›fern halten‹ zu können. Was bezüglich des Horizonts als Grenze vorgestellt wird, ist nur eine an sich unmögliche Verbildlichung des Imaginären. Doch Landschaften lassen Horizonte auftauchen, indem sie sich der Ferne und Höhe, der Weite und Tiefe und der Fremde schlechthin öffnen, und sie sind selbst die Weise dieser Eröffnungen…

Durch schrankenlose industrielle Überbauungen und massentouristische Überwucherungen entziehen sie sich aber nicht nur dem technokratisch beschränkten, sondern auch diesem ästhetischen Blick, und sofern es sich um zerstörte Länder handelt, dient selbst der ›Naturschutz‹ nur dazu, Müllberge mit Erdaushub zu übertünchen und zu begrünen. Für menschliches Dasein sind damit Erscheinungen der Landschaften verschwunden und wir können niemals wissen, ob sie jemals wieder zum Vorschein kommen werden oder nicht. – Will man aber der Fremdheit der Landschaften ›ferner‹ kommen, ohne durch ›Näherkommen‹ die Ferne, Höhe, Tiefe, Weite ihrer Horizonte bloß zu tilgen, muß das durchgängig ›Verortete‹ der Gebiete erst wieder ›entortet‹, das ›Unentwegte‹ ihres Treibens erst wieder ›entwegt‹ werden.

Eine solche Begegnung wird dort möglich, wo Menschen betroffen sind vom Sinn gastlichen Verweilens im Vorbeikommen und Vorübergehen selbst – ein Verweilen eben bei dem, was nicht ewig und nicht einmal ständig dauert. Solches Verweilen geschieht nicht deshalb, weil etwas an den Landschaften menschliches Begehren weckt und interessiert oder umgekehrt sich etwas an den Landschaften zum Menschen neigte. Es ist die Gastlichkeit ihrer Gestalten und Räume, welche die landschaftlichen Erscheinungen in der Weise ihres widerstreitenden Zustimmens zueinander zulassen, bei welcher Menschen vorübergehend zu verweilen vermögen, wenn sie von sich selbst absehen. Wollte man aber in solchen Landschaften ›Gast-Geber‹ sehen, welche uns Menschen gastfreundlich oder ungastlich empfangen, dann wäre allerdings daran zu erinnern, daß jeder Gastgeber immer zugleich selbst empfangener Gast seines Gastes ist.

Foto: Bernhard Weber

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