Intime Einsichten in Deutschlands Büro- und Chefetagen (Szenen;3)

Die Tower aus Glas und Stahl, in denen die Finanzmärkte
als Knotenpunkte verschmelzen, sind Hochsicherheitstrakte
der Risikokalkulation. Permanent Access, schneller Zugriff.
Beschleunigungs- und Verlangsamungszumutungen kalkulieren
die Broker & Sales Manager normalerweise in monetären
Größen, klar ein Risiko ist bei jedem nur denkbaren Trade
dabei, jedoch kein gänzlich unkalkulierbares bzw. keines
jenseits der zu bewirtschaftenden Kontingenz, dafür stehen
bezüglich der Subjektivierung sowohl die obsessive Manipulation
subjektiver Beschleunigungstechniken à la zen-orientiertes
Konzentrationstraining als auch die hingebungsvolle Ökonomisierung der eigenen subjektiven Zeit, und nicht zuletzt experimentieren einige der Broker der Esperanto Bankmit klinischen Nachfolgepräparaten von Xanax wie Ciprexilexoder Zanosar, ohne dass allerdings exakte Diagnosen mentaler Störungen bei den meisten Akteuren vorliegen; die in
Eigentherapie rekursiv produzierte Selbsterkenntnis, dass
Broker zu Recht einem possessiven Individualismus frönen, der
sie grundsätzlich von anderen Brokerkollegen unterscheidet,
denn jeder ist in der Tat einzigartig, einzigartig im Sinne
der zynischen Selbstverwertung, die den eigenen Zensor auf
Autopilot stellt, wenn es um die sadistische Vernichtung der
Vorstellung geht, man könnte etwas mit den narzisstisch induzierten
Klischees bzw. Stereotypen von ihm Selbst zu tun haben, bis man drauf und dran ist, der Absorption des Selbst durch die soziopsychologischen Imperative der Kontrolledurch die telemetrischen Finanzmärkte gänzlich zuzustimmen,mit all den Prozeduren der Individualisierung und der Modulation,die die Finanzmächte errichten, was einem wiederum
mittels Projektion das In-das-Zentrum-Stellen seines Selbst
in der Jobwelt möglich macht.

Marcus hakt den verschissenen YEAH-Deal jetzt kate gorisch ab, verlässt den Einzelarbeitsplatz an seinem Multi-Monitor-System, durchquert den mittleren Flur und begibt sichauf den fujigrünen Kunstrasen, ein 8 x 8 Meter großes Quadrat im Westteil der Halle – Territorium Fantasieland –, lässt sich dermaßen raffiniert & choreographiert auf den Rasen fallen,
dass er wie ein schockbehandelter Einzelorganismus erzittert,
während das Licht des Schminkspiegels von der über ihm
stehenden Sam Kimberlay nur noch das Weiße in seinen Augen
zeigt, und während die Fazialismuskulatur ihres dezent rougegetönten
Gesichts automatisch bzw. blindlings zu kontrahieren und extrahieren beginnt; ihr Gesichtsausdruck ist beileibenicht postkoital, sondern konnotiert, als ob er sich permanent Küsse aus seinem (dysfunktionalen) Gesicht schluchzenmüsste, Hitzezone ist gar kein Ausdruck, Fieber, Sahara,
Raketenantrieb /…./ ( Marcus hat Sam Kimberlay einmal gesagt, den besten Blowjob hätte ihm eine Prostituierte inHongkong verpasst, die am ganzen Körper geglüht und mindestens vierzig Grad Fieber gehabt hätte); und vermutlichflattern Sam Kimberlays Lippen in ihrem derzeitigen eskapistischePostfummelgesicht wie ein seidenes Kleid, das in
seiner ganz eigenen Welt atmet. (Warum auch nicht?) Ein
anderer Atem, eine andere Haut, eine andere Wärme. Kaskaden
von Erregungen eines partiell funktionsuntüchtigen
limbischen Systems, die nicht Marcus’ Lust ausdrücken, auch
nicht die ihre.

Durch die getönten Scheiben eines Nebendachs des
Handelsraumes hat der Himmel die Farbe des Displays eines
IPads, dessen Akku kurz vor dem Kollabieren ist. Sam
Kimberlay findet immer häufiger in den letzten beiden Wochen
den elektronischen Bildschirmhandel echt gruselig, was sie mit
gestotterten Worten gerade wieder äußert, während an der
unbeobachteten Bildschirmwand von Marcus auf zwei Bildschirmen
der dritten oberen Reihe eine Serie schwarzer Candlesticks,
die den sinkenden Dow-Jones-Index signalisieren, im
Einminutentakt aufblinken. Um 16.28 Uhr steigt der Nachbar
Denis in eine Longposition ein, da, wie wer sagt, steigende
Highs und Lows dies mehr als überdeutlich anzeigen, wobei er
blitzschnell im Candlesticks Charts Einstiegspunkte und
Stopppunkte markiert, um dann wieder einmal seine Eleganz
und Luzidität zu rühmen, seine Gewinnfähigkeit, 370 % im
Jahr 2011, denn schon im Jahr 2000 und erst recht nach dem 1.September 2001 hätte er als Daytrader auf sinkende, nach
dem Irakkrieg wieder auf steigende Kurse gesetzt, Rohstoffe,
Devisen, Hebelzertifikate auf Indizes, alles mitgenommen, er
wisse ja als geübter Spieler den Beschleunigungszumutungen der Börse den Genuss abzuringen, um im Zuge der Selbstverwertung
und Selbstdisziplinierung als Stratege und Spieler,
der Optionen und Risiken bewirtschaftet, einfach nur noch
zu glänzen. Bei seiner derzeitigen Face-to-Screen Position
wartet Denis äußerst angespannt auf einen Ausbruch der
Sweeneys Aktie, während neben ihm Martin darauf lauert,
wie Denis in den nächsten Minuten sein Multi-Monitor-
System nutzen wird, um zu handeln. Auf Denis’ Bildschirm
links unten erscheint die Message eines Brokers, der sich vom
Spot Desk der Esperanto Bank in Paris meldet, der die DFCs
französischer Unternehmen sowie Deviseninformationen
wie immer in englischer Sprache durchgibt, während Sam
Kimberlay auf dem fujigrünen Kunstrasen inzwischen ohne
jeden ersicht lichen Grund auf den Torso des Brokers Marcus
gesunken ist, der sie perplex, um nicht zu sagen völlig von
der emotionalen Rolle mit beiden Armen umklammert, beide
Gesäße senken sich synkopisiert auf und ab, ohne dass
Sam Kimberlay und Marcus das Stadium der Kopulation
im Zuge eines fast schon blinden Glaubens an die Poesie
der Liebe erreichen, eine Poesie, die frühere Liebende mittels
Seufzen, Stöhnen und Mandolinen hergestellt haben. »Deine
Hände sind zu langsam, produzieren zu viele Tippfehler,
sie sind zu eliminieren. Hände sind DAS Organ menschlicher
Fehlleistungen neben den Gehirn.« Marcus unsichtbare
Machtanordnung reguliert sorgfältig die Möglichkeitsfelder
für mögliche Handlungen im Raum. »Ich hab einen guten
Chiropraktiker, aber brauch ich irgendwie nicht«, äußert
Sam Kimberlay. »Das ist ein groß -artiger Satz, könnte von
Wittgenstein sein, à la Fakten traurig machen.«

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