Kapital, Derivate und Finanzmärkte im 21. Jahrhundert

Vortrag, gehalten bei Attac in Aachen here

Das Kapital ist ein sozio-ökonomisches Verhältnis, das durch das Profitmotiv angetrieben wird. Eine große Bandbreite von ökonomischen Phänomenen wird durch ein kleines Set von operativen Prinzipien bestimmt, wobei aktuelle Ereignisse um die je sich schon bewegenden Zentren der Gravitation kreisen. Man könnte dies mit dem Ökonomen Anwar Shaik den systemischen Modus einer turbulenten Regulation nennen. Dabei ist das Kapital nicht als ein positiver Wert zu verstehen, sondern als ein Prozess, wobei das Negative – Schulden – als positive Bedingung für die kapitalistische Produktion und Zirkulation aufzufassen ist; Kapitalisierung ist Schuldenproduktion sui generis. Man müsste also das erste G des Kreislaufs G-W-G` noch weiter differenzieren. Der Ort des Kapitals, mit dem jeder Kreislauf beginnt, ist doppelt besetzt. Und zwar von einem Geldkapitalisten und einem industriellen Kapitalisten, wobei heute bei großen Aktiengesellschaften die industriellen Kapitalisten oft zugleich Halter des fiktiven Kapitals und damit finanzielle Kapitalisten sind. (Shareholde_value Prinzip)

Weil dem Kapital die Kapazität eigen ist, sich im Prozess als Selbstzweck zu setzen, ist es maßlos. Die berühmte Formel G-W-G` bedeutet, dass der Surplus als Quantität in die tautologische Kette G-G injiziert wird. Auf dem Bindestrich zwischen G und G’ muss eine Vermittlung stattfinden, die sich für Marx als die Differenz zwischen dem Tauschwert und dem Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft erweist, womit am Ende der Vermittlung dann tatsächlich, wie in der Formel G-G’ angeschrieben, mehr Geld als am Anfang steht. Mit dem Begriff des Gesamtkapitals ist diese Maßlosigkeit des Kapitals aber an die Leine gelegt. Gesamtkapital bedeutet, dass die Unternehmen je schon der Vermehrungslogik des Kapitals, die über die Konkurrenz unerbittliche Bedingungen setzt, unterworfen sind. Als Gesamtzusammenhang setzt das Gesamtkapital diese Wirkung und ist zugleich das Resultat von Wirkungen (der Beziehungen der Einzelkapitale aufeinander, die alle einer monokausalen Profitlogik folgen).

Marx geht im Kapital Bd. 2 von drei Kreisläufen des industriellen Kapitals aus: Geldkapital, produktives Kapital und Warenkapital, wobei der Kreislauf des Geldkapitals GW … P … W’ – Gdie Kreislaufbewegung des Kapitals umfassend repräsentiert. Die Formel der Geldkapitalzirkulation ist hier der primäre Mechanismus der Kapitalökonomie, der die Warenproduktion als Produktion-für-den-Profit und als Produktion-für-die-Zirkulation konstant begleitet. Das Geldkapital ist der Motor für industrielle/kommerzielle Unternehmen, die Waren (Produktionsmittel, Gebäude, Energie, Rohstoffe, Software etc.) kaufen und Arbeitskräfte mieten, um Produkte, die mit Mehrwert angereichert sind, zu produzieren und zu realisieren. Maschinerie, Energie, Produkt oder Produktionsprozess sind eben kein Kapital.

Es ist von einer virtuellen Gleichzeitigkeit oder Überlagerung/Superposition von Geld, Kapital und Geldkapital auszugehen, und dies bezogen auf das Apriori des Gesamtkapitals. Auch bei den Geldfunktionen ist die Überlagerung/Superposition schon vorzufinden, sie überlagern sich und sind mit der Vermehrung des Kapitals verschränkt. Frank Engster schreibt: „Geldfunktionen werden im Kapital zwar linear entwickelt, aber die erste Geldfunktion (Maß) tritt durch seine zweite als Tauschmittel ein, und beide werden gleichsam übergriffen von der Kapitalbewegung G-W-G’ und sind in ihr inbegriffen.” Die Einschränkung, die Marx machen muss, wenn er linear schreibt, zu bedenken, heißt, Gleichzeitigkeit immer mit zu denken oder die drei Bände des Kapital quasi von hinten her zu lesen und eben nicht ausgehend von der Warenform oder dem Geld, sondern vom Gesamtkapital, dem Gesamtprozess der Reproduktion des Kapitals. Die Einzelkapitale müssen nachvollziehen, was objektiv von vornherein gegeben ist, ihre allseitige Vernetztheit, gegenseitige Abhängigkeit und damit den umfassenden Verkettungszusammenhang.

Das finanzielle Kapital ist sui generis Geldkapital und es verkörpert eine Fraktion des gesamten Kapitals. Innerhalb des Kapitals als Gesamtkomplexion ist das spekulative Kapital heute dominierend gegenüber der „Realökonomie“. Das heißt auch, dass Derivate nicht durch die Strukturen der Produktion limitiert werden und auch nicht von ihnen abhängig sind. Derivate sind sui generis spekulatives Kapital – ein Kapitalform, welche die Gefüge eines nomadischen und opportunistischen Kapitals bewirtschaftet, das heute selbstreferenziell auf den eigenen Märkten zirkuliert. Das Design eines Derivatvertrags hat an sich zunächst keine Notwendigkeit, es besitzt lediglich den intrinsischen Wert eines Instruments, das Derivate miteinander verbindet, um einen global fluiden Markt für das Kapital zu erzeugen und Derivate zu synchronisieren und zudem das Leverage zu steigern, und zwar durch Instrumente, deren Voraussicht auf die Zukunft hilft, die Zukunft zu erzeugen, die sie voraussehen. Dies heißt zugleich aber auch, dass der von ganzen Reihe von Theoretikern vorgebrachte Vorwurf, man würde hier von einer absoluten Verselbständigung des finanziellen Kapitals ausgehen, nicht trifft, vielmehr beschreiben wir eine spezifische Weise der Verschränkung (und Entkopplung) von sog. Realökonomie und finanziellem Kapital. Die Untersuchung solcher Faktoren wie Wirkungsgrad, Profitabilität, Kapitalgröße, Produktivität, Globalisierung, Geldschöpfung durch private Banken, Handel von Staatsanleihen und Vernetzungsgrad ist entscheidend, um die Determinationskraft des finanziellen Kapitals genauer bestimmen zu können (empirische Analysen sind erst noch zu leisten).

Die Analyse des finanziellen Systems hat davon auszugehen, dass ausnahmslos alle kapitalistischen Unternehmen wichtige finanzielle Operationen durchführen. Die Metapher „zentrales Nervensystem des Kapitals“, die Tony Norfield in seinem Buch „The City“ verwendet, trifft es ganz gut. Wenn das Kapital der Motor des atmenden Monsters namens Gesamtkapital ist, dann ist das finanzielle System dessen Zentralnervensystem. (Hier muss man allerdings der Gefahr ausweichen, Ökonomie und Organismus gleichzusetzen, eher wäre vom Kapitalkörper zu sprechen.) Das finanzielle System exekutiert die Koordination und Regulation der Einzelkapitale, denen das Apriori des Gesamtkapitals vorausgesetzt ist, das sich über die reale Konkurrenz der Einzelkapitale, die für Marx kein Ballett, sondern ein Krieg ist, aktualisiert. Es korrigiert die Konkurrenz und entfacht sie neu. Das finanzielle System ist ein integraler Teil der Kapital-Ökonomie, kein Krebsgeschwür, das etwa ein Arzt entfernt, um dem Kapitalkörper wieder zu Gesundheit zu verhelfen. Ohne das finanzielle Kapital ist der moderne Kapitalismus tot. Für Norfield sind die Operationen des Finanzsystems nicht auf die Banken und andere Finanzinstitutionen begrenzt, sie betreffen das gesamte kapitalistische System. Die industriellen und kommerziellen Unternehmen führen selbst eine Vielzahl von finanziellen Transaktionen durch. Die Finanzierung der kapitalistischen Produktion und Zirkulation ist sui generis die der Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Unternehmen benutzen die Banken, um an die Währung zu gelangen, die sie benötigen, um Importe zu kaufen, oder um die Gewinne, die aus Exportgeschäften stammen, in die einheimische Währung zu tauschen. Sie leihen sich kurzfristig von den Banken Kredite, um ihren Cashflow zu sichern, oder sie leihen längerfristige Kredite, um ihre Investments zu finanzieren. Sie geben Anleihen oder Aktien an den Finanzmärkten aus, um sich Geld von Investoren zu verschaffen. Sie benutzen Derivate, um sich gegen ungünstige Bewegungen der Zinsraten, die ihre Profitabilität einschränken, abzusichern.

An dieser Stelle unterscheidet der französische Ökonom François Chesnais in seinem neuen Buch Finance Capital Today zwischen der Finance als einem hochvernetzten und interdependenten Konglomerat, das aus Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds, Groß-, Schatten- und Zentralbanken, transnationalen industriellen und kommerziellen Konzernen und mächtigen Großhändlern besteht (organisatorische Ebene), und der Finance qua Finance, den Prozessen der Expansion des fiktiven Kapitals und der Derivate, die von großen Banken, Investmentfonds und Hedgefonds gehalten, gestaltet und an den Finanzmärkten gehandelt werden (prozessuale und funktionale Ebene). (Chesnais 2016: 36) Hinsichtlich solcher die Unternehmen charakterisierenden Faktoren wie Anzahl, Größe, Bilanzsumme, Geschäftsvolumen, Vernetzungsgrad, Stellung im kapitalistischen Reproduktionsprozess und Machtposition kam es in den letzten Jahrzehnten im globalen Finanzsystem und an den Weltmärkten zu einem wichtigen Wandel. Die Autoren Glattfelder, Vitali und Battiston zeigen in ihren Analysen, dass aktuell 737 Firmen auf circa 80 Prozent des gesamten globalen Marktes Einfluss nehmen, wobei eine hoch vernetzte Kerngruppe von 147 Firmen dies allein auf fast 40 Prozent tut. Dieses Netzwerk besteht fast nur aus britischen und amerikanischen Banken und Finanzfirmen. Auf ihrem Peakpoint generierte die Finanzindustrie in den USA 40% aller einheimischen Unternehmensprofite und repräsentierte 30% der Marktpreise des Aktienvolumens in den USA. (Satyajit Das 2015: Kindle Edition: 571). Das Finanzsystem profitiert dabei von den Asymmetrien der enormen Anzahl der Informationen, die sich aus den Handlungen der Käufer und Verkäufer von komplexen Finanzprodukten ergeben, mit denen wiederum die Diskrepanzen in den Ratings ausgenutzt werden, um generell die Kapitalkosten zu senken. Zudem führt die Praxis der Aktienrückkäufe und der Kapitalrückführungen zu steigenden Aktienkursen. Im Januar 2008 nutzten die großen US-Unternehmen 40% ihres Cashflows, um ihre eigenen Aktien zurückzukaufen. (Ebd.: 604).

Zum Kredit. Das zinstragende Kapital ist Teil des modernen Kreditsystems, sein Kreislauf lässt sich als G-G` anschreiben. Hier wird das Geld nicht gegen andere Formen des Geldes oder Waren getauscht, sondern es wird Geldkapital (sieht man bspw. von Konsumentenkrediten ab), indem vom Gläubiger eine Geldsumme gegen Sicherheiten an einen Schuldner verliehen und dann von diesem zuzüglich der Zahlung von Zinsen getilgt wird, zum möglichen Kapital.

Eine wichtige Anwendung des modernen Kredits ist ein Vorschuss an Geldkapital (oder im Fall der Banken der Nicht-Eigentümer von Geldkapital) an einen fungierenden/industriellen Kapitalisten, der das Geldkapital verwendet, um einen profitbringenden Produktionsprozess zu finanzieren. (Der Kredit kann auch für den Kauf von Aktien, den Ankauf von Staats- oder Unternehmensanleihen oder für den Konsum benutzt werden.) Wird Geldkapital an ein industrielles Unternehmen verliehen, so verdoppelt sich das Kapital einerseits in einen Eigentumstitel und andererseits in investives Kapital, wobei diese Verdopplung auf ein singuläres Kapital bezogen bleibt. Durch das Ereignis der Kreditrelation hat sich also eine Geldsumme (mit dem Potenzial zum Mehr) für ein gegebenes zeitliches Intervall verdoppelt, denn einerseits kann die geliehene Geldsumme, wenn sie vom Kreditnehmer zur Erweiterung von Produktionsprozessen eingesetzt wird, neue Kapitalmetamorphosen in Gang setzen, andererseits kann auch der Kreditgeber sein Geldkapital als kommenden Surplus betrachten, da er, wie schließlich im Kreditvertrag fixiert, auf das verliehene Geldkapital die Rückzahlung der vereinbarten Kreditsumme plus deren Verzinsung erhält. Die wichtigsten Funktionen des Kredits: Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals zu erhöhen, Herstellung der Durchschnittsprofitraten, Geldkapital in ausreichender Höhe bereitstellen etc.

Die Logik und Zirkulationsweise des Kredits ist eine andere als die des Geldes (als Zirkulationsmittel). Schon die einfache Zirkulation des Geldes ist potenziell unendlich, während die Zirkulation des Kredits einen geschlossenen Kreislauf darstellt, i. e. den terminierten Fluss und Rückfluss von Geld in seiner Funktion als Zahlungsmittel. Es geht beim Kredit schließlich um die Verknüpfung, Stabilisierung, Terminierung und Expansion von Zahlungsversprechen bzw. um Versprechensbeziehungen (und nicht um Tauschbeziehungen), wobei das Geld hier in ein Beziehungssystem registrierter Schulden integriert wird. (Sahr 2017: Kindle-Edition: 3755) Zahlungsversprechen implizieren ein Versprechen (der Banken) darauf, das Geld, in seiner Funktion als ein ausgegebenes Zahlungsmittel (Schulden), zugleich auch zur Begleichung von Schulden zu akzeptieren. Kreditierte Zahlungsversprechen sind terminiert (fixierte Ablaufdatierungen) und verlangen kontinuierliche Tilgungs- und Zinszahlungen.

Zum fiktiven Kapital: Für Marx handelt es sich beim fiktiven Kapital um Aktien und Unternehmens- und Staatsanleihen, deren Kauf den Rechtsanspruch auf Teilhabe an zukünftigen Einkommensströmen in Form von Zinsen (Anleihen) oder Dividenden (Aktien) inkludiert. Das fiktive Kapital stellt somit einen Anspruch auf eine Geldsumme dar, die als zukünftige Vermehrung realisiert werden soll. Niedrige Marktzinsen werden die Preise der Wertpapiere ansteigen lassen, und umgekehrt. Zinsrate und Preis der Wertpapiere verhalten sich invers zueinander. Interessant ist in diesem Zusammenhang der gegenwärtige Trend zu Negativzinsen, die die Kurse und Preise von Aktien, Anleihen und Immobilien erhöhen. Während einkommensschwache Bevölkerungsteile ihre Ersparnisse als Bankguthaben halten und von Negativzinsen nachteilig betroffen sind, profitieren diejenigen, die ihre Vermögen in Aktien, Immobilien und Anleihen halten, von ihnen. Mit der Existenz von fiktivem Kapital wird zwar im Marx’schen Sinne in actu kein Wert generiert, dennoch handelt es sich um real existierendes Geldkapital, und dies im Vorgriff auf einen in der Zukunft noch zu generierenden Wert. Es findet durchaus auch eine Aktualisierung des virtuellen Werts statt, insofern fiktives Kapital reale Ansprüche auf zukünftiges Vermögen jetzt schon darstellt.

Der Preis des Wertpapiers ist nicht ausschließlich vom Einverständnis des Käufers und Verkäufers abhängig, sondern es gehen eine ganze Reihe weiterer ökonomischer Faktoren wie Konjunkturzyklen, Zinsraten und Bewegungsformen der differenziellen Kapitalakkumulation in seine Bestimmung ein. David Harvey verwendet an dieser Stelle den Begriff der Kapitalisierung, der für ihn den formellen Prozess der Bildung von fiktivem Kapital bezeichnet, bei dem bestimmten Einkommensströmen, die aus den Vermögen an Boden, Immobilien, Anleihen oder Aktien stammen, »fiktive« Kapitalwerte zugeordnet werden, deren Festsetzung neben den Erwartungen der Käufer und Verkäufer auf zukünftige Renditen von den marktüblichen Diskont- und Zinssätzen abhängig ist, die gewöhnlich aus dem Spiel von Angebot und Nachfrage an Geld- und Kapitalmärkten entstehen (und natürlich wieder auf die Erwartungen einwirken). Das Wertpapier ist also ein Eigentumstitel, der eine Summe Geldkapital repräsentiert, das getrennt von der Vermehrung des industriellen Kapitals existiert. Das Risiko, ob Geld sich zukünftig als Geldkapital bewährt, ist, anders als beim Kredit, in das Wertpapier direkt hinein verlagert. Wie der Kredit impliziert das Wertpapier für einen befristetem Zeitraum eine doppelte Vermehrung. Dies geschieht konkret, wenn ein Geldeigentümer Aktien oder Anleihen kauft, und dies mit dem Ziel, aus seinem Geld ein Mehr zu machen. Ganz entgegen dem Kauf von Waren der industriellen Produktion, die entweder der Konsumtion oder der industriellen Vernutzung dienen, impliziert der Kauf eines Wertpapiers die spezifische Nutzung des Gebrauchswerts des fiktiven Kapitals, um damit in Zukunft Renditen zu generieren, während der Verkäufer der Aktie, Anleihe etc. von der Kapitalisierung des Geldkapitals keinesfalls ausgeschlossen bleibt, denn die Emittenten von Aktien oder Anleihen verfügen real über das Geld, das ihnen der Verkauf des Eigentumstitels einbringt und das sie daraufhin für profitbringende Produktionsprozesse einsetzen können.

Sehen wir uns nun aber die Unterschiede zwischen dem zinstragenden und dem fiktivem Kapital noch etwas genauer an: Während beim Kredit das verliehene Geld für den Kreditgeber vermittels eines Rechtsanspruchs auf Verzinsung und Tilgung eine zukünftige Geldvermehrung operationalisiert, wird beim fiktiven Kapital ein antizipierter Gewinn als Wertpapier festgeschrieben, das für den Käufer den Rechtsanspruch auf zukünftige Zahlungen enthält und zudem von ihm gehandelt werden kann. Während es im Kredit um die Potenz des Geldes geht, das auch beim Kreditnehmer als ein möglicher Profit fungieren kann, wofür er einen Zins zahlen muss, geht es beim fiktiven Kapital um zukünftige Einkommensströme, die einem Wertpapier entspringen, welches der Investor für eine Geldsumme kauft, zu der sich die erwarteten Erträge, die das Wertpapier abwerfen soll, wie eine Verzinsung verhalten. Die Kreditnehmer treten beim fiktiven Kapital nicht mehr als Schuldner auf, die an Geldmangel leiden, sondern als Emittenten von Wertpapieren – Anleihen -, die wiederum ein sich vermehrendes Vermögen für den Käufer darstellen, i. e. Teilhabe an der Kapitalmacht des Emittenten gewähren. Während ein Schuldner mit dem Kredit die Pflicht auf sich nimmt, Zinsen zu zahlen und Sicherheiten zu hinterlegen, gibt der Emittent/Schuldner eines Wertpapiers das Versprechen, dass die Realisierung des Zahlungsversprechens für den Investor in Zukunft funktionieren wird. Anstatt durch die Kreditvergabe finanzielle Optionen für die Unternehmen bereitzustellen, verschaffen die privaten Banken bei der Verwaltung der Anleihen den von ihnen betreuten Unternehmen, die hier als Emittenten von Wertpapieren fungieren, Zugriff auf Geldmittel, damit sie ihre zukünftigen Projekte und Optionen erweitern können. Die Kreditwürdigkeit mutiert hier zu einer abgesicherten Bedingung, die mit dem Wertpapier gehandelt wird. Investoren wiederum agieren am Kapitalmarkt nicht mehr nur als Gläubiger, sondern als Spekulanten, die Wertpapiere kaufen, um durch den Handel an ihnen zu verdienen. Das Wertpapier fungiert für den Käufer als ein Investment, das heißt als eine Summe Geldkapital, die im Wertpapier vergegenständlicht ist und eben auch weiter verkauft werden kann. Wo der Gläubiger eines Kredits auf pünktliche Zins- und Tilgungszahlungen besteht, da ist beim Wertpapier die Auszahlung von Renditen (und die Rückzahlung der investierten Summe) Teil eines Investments, das anhand bestimmter Kriterien (Zinssätze, Vergleich mit anderen Wertpapieren etc.) auf seine Robustheit als spekulative Kapitalanlage überprüft wird.

Kommen wir nun zu den Derivaten. Die Standardauffassung der Finanzökonomie definiert den Derivatvertrag als ein Asset (Vermögenswert oder spekulatives »Investment«), dessen Wert von etwas anderem, das als Basiswert oder Underlying bezeichnet wird, abhängig ist, wobei mit dem möglichen zukünftigen Wert des Underlyings spekuliert wird. (Vgl. Esposito 2010: 152f.) Das Derivat ist also kein Ding, das man wie ein Buch in den Händen hält. Es ist essenziell relational, ja es ist eine Relation von Relationen. Wir bezeichnen »Assets« (die man gemeinhin als Vermögenswerte versteht) als spezifische Formen des Kredits, des fiktiven und des spekulativen Kapitals. Dabei gehen wir von einer progressiven Differentation von drei verschiedenen Klassen der finanziellen Assets aus: a) das generische Asset, b) das synthetische Asset und c) das verbriefte synthetische Asset. Unter die Kategorie »generisches Asset« fallen Kreditformen (Darlehen, Hypotheken etc.), fiktives Kapital (Aktien und Anleihen) und Vanilla-Derivate (Forwards, Optionen, Futures), während unter die Kategorie des synthetischen Assets komplexe Derivate (CDS, TRS etc.) fallen. (Vgl. Lozano 2013) Synthetische Derivate sind generell als eine Form des spekulativen Geldkapitals in Latenz zu verstehen – Latenz bzw. Liquidität insofern, als Derivate stets noch in Geld realisiert werden müssen. Verbriefte synthetische Assets wie die CDOs können Wertpapiere, Kredite und credit defaults swaps (CDS) enthalten.

Der Future-Kontrakt ist eine Vereinbarung zwischen zwei Parteien, die darin besteht, eine bestimmte Menge eines Gegenstandes/Ware/Index zu einem zukünftigen Zeitpunkt und zu einem im Vertrag bestimmten Preis, der sowohl vom aktuellen als auch vom zukünftigen Marktpreis des entsprechenden Gegenstandes differiert, zu kaufen oder verkaufen. Steigt der Marktpreis des Gegenstandes über den im Vertrag vereinbarten Preis, so erzielt der Käufer einen Gewinn, umgekehrt umgekehrt. Optionen sind Derivatverträge, die das Recht beinhalten, Underlyings bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (Fälligkeit) zu einem festgelegten Preis zu kaufen (call) oder zu verkaufen (put), ohne dass man die Option auszuführen braucht. Was mit solch einfachen Derivaten gehandelt wird, das ist nicht nur eine zu kalkulierende Zukunft, sondern ein Risiko, das in der Spanne oder der Differenz zwischen dem strike price (im Vertrag festgelegten Preis) und dem spot price (Marktpreis) insistiert.

Zunächst geht es also um die relative Volatilität des Derivats in Relation zu der Volatilität des Underlyings. Das Entscheidende der Replikation des Derivats ist seine Größe und die Geschwindigkeit der Volatilität. In gewisser Weise wird, so meint LiPUma, auf die Relation gewettet und ein Tango mit der Zeit gespielt. Das ist aber nur insoweit wahr, als auch die Prinzipien der euklidischen Geometrie nicht immer falsch, aber eben nur manchmal wahr sind. Es wird nämlich auch mit dem zukünftigen Wert des Assets selbst spekuliert, das heißt es gibt einen Bezug des Derivats auf sich selbst, und nicht nur auf das Underlying.

Es gibt bei Derivaten dann eine dreifache Kontingenz zu vermelden: Derivatvertrag (Kontingenz, die schon mit dem Schreibakt entsteht), Variabilität der derivativen Preisgestaltung (Kontingenz der Revision, die Preisbewegung unterliegt einer ständigen Neubewertung, die von den Bewegungen der Preise der Derivate und der Basiswerte abhängig ist) und zukünftige absolute Volatilität der Preisbildung (thetische Kontingenz). Letzteres bedeutet, das die Bewertung je schon anders sein könnte. Wenn gegenwärtige Zukunft, die dasjenige ausdrückt, was man von der Zukunft erwartet, und künftige Gegenwart, die jene Zukunft bezeichnet, die tatsächlich eintritt, eben nicht deckungsgleich sind, dann wird im Zuge des Einsatzes von mathematischen Kalkulationsverfahren immer eine künftige Gegenwart realisiert, mit der sich der Unterschied zu jener Zukunft aktualisiert, die man erwartet und hat und deren Potenziale man unter Umständen auch genutzt hat.

Das Auspreisen der Volatilität findet also in zeitlichen Intervallen statt, das heißt, die Zeit wird in der Periode zwischen Beginn und Verfall des Derivats gepresst und zusammengezogen, wobei es anzumerken gilt, dass die Geschwindigkeit der Zirkulation eine ganz andere als bei klassischen Waren ist. Aus dem konstanten Film der Zeit schneidet das Derivat ein bestimmtes Zeitintervall heraus und gestaltet es, ein Intervall, das Zukünftiges präsentiert. Ein sich zukünftig entwickelnde Situation wird vertraglich gestaltet, was für die Vertragspartner Erwartungen, Erinnerungen und Strategien, aber auch Angst und Furcht in Gang setzt; es geht um eine Interpretation der Zukunft, was zugleich zur Ausdehnung der Gegenwart, aber auch zu ihrer Destabilisierung führt. Die Trader sind dazu verdammt eine Zukunft, die sie nicht kennen können, zu antizipieren, und dabei folgen sie den Vorgaben der mathematisierten Finanztheorie, welche die Zukunft als eine wahrscheinlichkeitstheoretische Verteilung zu bestimmen versucht. Dieser Gebrauch und diese Determination der Zeit unterscheiden das Derivat wesentlich von der klassischen Ware. Die Käufer und Verkäufer einer klassischen Ware können sich auf einen Preis einigen, weil sie den Waren, die sie tauschen, verschiedene Gebrauchswerte zuschreiben. Während der Verkäufer einen Profit zu erzielen versucht, wünscht sich der Käufer die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Anders beim Derivat, das keine Ware ist und keinen transparenten Wert im Hier und Jetzt hat – das einzige Maß, das die Transaktion motiviert, liegt in der Kalkulation eines zukünftigen Werts. Das Derivat zielt auf eine Zukunft, es kann nur ausgepreist werden, weil die Markteilnehmer einen bid-asked Spread annehmen, insofern sie bezüglich des Nettowerts des Derivats zwar Übereinkunft erzielen, aber bezüglich des zukünftigen Werts des Derivats in ihren Erwartungen und spekulativen Kalkulationen differieren. (Bid ist der höchste Preis, zu dem eine Person oder Insitution (bspw. Bank oder Broker) bereit ist, ein Finanzinstrument (bspw. ein Wertpapier oder in unserem Beispiel eine Währung) zu kaufen. Ask hingegen ist der geringste Preis, zu dem der Händler ein Finanzinstrument zu verkaufen bereit ist )

Die Derivate unterscheiden sich nicht nur von klassischen Waren, sondern auch von anderen Kapitalformen. Hier ähnelt das Derivat verschiedenen Instrumenten, die sich auf Schulden bzw. Kapitalformen beziehen, die kontinuierlich bewertet werden können. Dennoch unterscheidet sich das Derivat beispielsweise von einer Anleihe in einer signifikanten Art und Weise. Derivate werfen nicht wie die Anleihen akkumulative Gewinne über die Zeit ab. Während sich bei der Anleihe über die Zeit Gewinne akkumulieren, sinkt der Wert eines Derivats mit der Zeit bzw. zum Ablauf eines Verfalldatums hin.

Weiterhin ist eine dynamische Replikation zwischen Volatilität und Liquidität für das Derivat notwendig. Die Möglichkeit Volatilität auszunutzen, ist von der Liquidität an den Finanzmärkten abhängig. Dabei ist das Derivat nicht nur ein antizipierter Einkommensstrom oder eine Rendite, sondern auch die Größe und die Geschwindigkeit seiner Volatilität entscheidet über die Höhe der Rendite mit. Der Preis bezieht sich damit auf die erwartete zukünftige Volatilität des Derivats, die als Grad der Varianz zwischen dem Moment der Transaktion und seiner Laufzeit gemessen wird. Der Derivatpreis ist also um die Relation zwischen der erwarteten Volatilität und der Laufzeit zentriert.

Seit dem Jahr 2000 kommt es an den Finanzmärkten zur massiven Verbreitung einer neuen Art von synthetischen Wertpapieren, die man credit default swaps (CDS) nennt. Es handelt sich hier um Verträge, mit denen ein Versicherungsnehmer sich bei einem Versicherungsgeber gegen den Zahlungsausfall eines Referenz-Schuldners versichert, wofür der Versicherungsgeber in der vereinbarten Periode eine Gebühr vom Versicherungsnehmer erhält. Die Parteien verhandeln damit das Risiko eines Zahlungsverzugs des Schuldners oder eines ähnlichen Kreditereignisses. Je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Referenz-Schuldner zahlungsunfähig wird, desto höher wird auch die Gebühr für die Versicherung sein, eine Gebühr, die für die Versicherungsgeber als Rendite gilt. Mit den CDS-Versicherungen werden einerseits die Preise der Referenzkredite manipuliert (steigende Nachfrage nach CDS führt zu höheren Gebühren und damit zu höheren Zinsen der Referenzkredite (Staatsanleihen), mit denen auch die CDS-Kosten gedeckt werden müssen), andererseits werden die Ereignisse, die monetäre Katastrophen wie Insolvenzen zunächst nur bedeuten, aufgeschoben. Es fragt sich, wer bei einer Insolvenz dann die Verluste trägt – es sind meist diejenigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine hohe Nachfrage nach Wertpapieren sorgen und am Ende des sich immer schneller beschleunigenden Booms den Absprung verpassen und auf ihren im Preis dramatisch gefallenen Wertpapieren sitzen bleiben, während die dominanten Investoren, die mit ihren Anleihekäufen den Boom erst initiiert haben, zum »richtigen« Zeitpunkt vor der sich abzeichnenden Katastrophe schon ausgestiegen sind.

Das synthetische CDO (Verbriefung von Krediten, Wertpapieren, Darlehen) besitzt das Potenzial zur Aggregation eines heterogenen Sets von Papieren, das aus verschiedenen Geldströmen und Risiken besteht, in einen homogenen Pool, der als ein einziger Geldstrom und als ein singuläres Risiko fungiert. Daraufhin lässt sich der homogene Pool wiederum in verschiedene Klassen von Risiken und Geldströmen aufteilen. Im Prozess der Verbriefung von Krediten und Wertpapieren findet also eine radikale Transformation statt, insoweit ein Wertpapier aus verschiedenen Risiken zusammengesetzt wird (Kredite, Optionen, Futures) und dann wieder geteilt werden kann und im Prozess der Teilung seine ökonomische Qualität verändert. Sämtliche Prozesse der Preisgestaltung der Derivate benötigen deswegen die Dimensionierung und die Konstruktion von konkreten und abstrakten Risiken, wobei erstere mittels der letzteren verglichen werden können. Diese Prozesse vollziehen sich an den globalen Finanzmärkten, an denen die verschiedenen Marktteilnehmer zunächst als Träger von Risiken identifiziert werden müssen, um daraufhin von den Ratingagenturen ein spezifisches Risikoprofil zugewiesen zu bekommen. (Ebd.: 168) Damit »normalisieren« das finanzielle Kapital und seine Unternehmen die Marktteilnehmer auf der Basis von Risiken; die Finanzmaschinen ermöglichen also die Konstruktion, die Verteilung und die Streuung der verschiedenen konkreten Risiken auf die Marktteilnehmer (die sich in heterogenen Marktpopulationen aufhalten und in Konkurrenzbeziehungen zueinander stehen) sowie die Bündelung der konkreten Risiken, die dann als ein singuläres Risiko einen einzigen Preis und einen einzigen Cashflow erhalten, i. e. ein abstraktes Risiko inkludieren, das als Derivat gehandelt und dabei gegen Geld getauscht wird. Das abstrakte Risiko subsumiert die konkreten Formen des Risikos und vermittelt die Produktion von Konnektivität und Liquidität, die beide für die Derivatmärkte unbedingt notwendig sind. (LiPuma 2017: Kindle-Edition: 1308) Dabei sind Zeit und Volatilität für die Form des abstrakten Risikos konstitutiv, insofern das Derivat zu einem bestimmten Zeitpunkt geschrieben wird und eine Laufzeit besitzt, in der es seinen Preis verändert.

Wir können dieses in den Derivaten verkörperte abstrakte Risiko als ein singuläres Risiko auffassen, insofern man es unter dem Gesichtspunkt des objektiven Vergleichs von konkreten Risiken (Zinsraten-, Ausfall-, Kreditrisiken), die eben alle subjektiven Bewertungen unterliegen, betrachtet, wobei das Derivat je schon in Geld realisiert wird. Das Derivat besitzt eine wichtige Funktion innerhalb der erweiterten Reproduktion des Kapitals; sichert diese als Machttechnologie, indem man an den Finanzmärkten Unternehmen, Staaten und Privatpersonen permanent bewertet und evaluiert. CDS dienen nicht nicht der Absicherung gegen Ungewissheit, sondern eben auch der Bewertung.

Die Doppeldeutigkeit der Derivate besteht genau darin, Prozesse der Normalisierung und Maßregelung der Unternehmen zu organisieren und zugleich als spekulatives Geldkapital zu fungieren. Dabei gilt es stets zu berücksichtigen, dass der „Wert“ einer finanziellen Anlage (Wert des Geldkapitals) dem kapitalistischen Produktionsprozess nicht nachgeordnet ist, sondern ihm vorausgeht (logisch), i.e. er existiert nicht, weil entweder Mehrwert produziert oder eine andere Art des Einkommens oder des Vermögen an den Märkten realisiert wurde, sondern weil das finanzielle Kapital bis zu einem gewissem Grad zuversichtlich ist, dass die Realisierung von Renditen im Rahmen der Produktion/Zirkulation von Kapital in der Zukunft stattfinden und sich nach den Maßstäben der erweiterten Reproduktion des Kapitals auch wiederholen wird.,

Ganz im Gegensatz zum Investment in industrielle Produktionsprozesse, das für das Unternehmen unbedingt ein positives Ergebnis haben muss, lassen sich durch die Spekulation mit Derivaten unter Umständen auch Gewinne aus ökonomischen Ereignissen wie fallenden Profitraten, Insolvenzen oder Knappheiten erzielen, wenn die in den Derivatverträgen formulierten Konditionen in der Zukunft dann auch eintreffen. Derivatverträge sind intrinsisch performativ, insofern sie die Bedingungen ihre eigenen Existenz selbst konstruieren. (LiPuma 2017: Kindle-Edition 790). Leerverkäufe sind hierfür ein gutes Beispiel: Man leiht sich ein Wertpapier in der Erwartung fallender Preise, verkauft es dann und kauft es zu einem späteren Zeitpunkt zurück (wenn der Kursverfall des Wertpapiers eingetreten ist), sodass die Preisdifferenz zu einem Profit führt. Die Spekulation darf heute als eine wichtige operative Kategorie, als eine Methode gelten, bei der die zukünftige Generierung von Gewinnen ganz im Blickpunkt steht.

Oft wird angenommen, dass, aufgrund der fehlenden Nachfrage oder der Unmöglichkeit des Kapitals, neue Investitionsmöglichkeiten zu finden, das überschüssige Surpluskapital einfach in den Finanzsektor abwandere, wo sich dann mit der Zeit Blasen bildeten und eine unproduktive und rein monetär Akkumulation stattfinde, die auf Verschuldung basiere. Tatsächlich fand seit den 1970er Jahren ein Transfer von brachliegendem Geldkapital in den Finanzsektor statt. Man denke an den Transfer brachliegenden Geldkapitals aus stagnierenden industriellen Zonen des mittleren Westens der USA (Ohio Valley) in das nach Kapital dürstende Kalifornien, in dem sich neue Technologieunternehmen, Finanzinstitutionen und die Logistikbranche ansiedelten. Es waren Finanzunternehmen wie Salomon Brothers, welche finanzielle Instrumente wie mortgage bonds und collateralized mortgage obligations (CMOs; die Verpackung von verschieden Kreditsorten wie Studentendarlehen, Kreditkartenschulden, Kredite für den Haus- und Autokauf etc.) entwickelten ,und ihre Verteilung in einem selbstreferenziell prozessierenden Markt in den USA organisierten. (Siehe dazu LiPuma 2017: Kindle-Edition: 2679ff.) Die Derivate waren nun nicht mehr direkt an die Produktion gebunden, sondern an die Zirkulation der Geldströme, von denen ihre Liquidität abhängig bleibt, die wiederum die Kapitalvermehrung anschiebt. Das dem Derivat unterliegende Asset wird jetzt in eine abstrakte Relation integriert. Das Derivat handelt die Volatilität dieser abstrakten Relation, wobei wiederum Derivate auf diese abstrakte Relation produziert werden (der CDS ist ein Derivat, das die endlosen Ströme der CDOs und CMOs versichert). Edward LiPuma sieht in den Derivaten ein generatives Schema, das eine Wette auf Volatilität beinhaltet, die Teilung und Neuzusammensetzung von Kapital ermöglicht und ein Amalgam aus variablen und inkommensurablen Formen des Risikos herstellt und zu einer abstrakten Ziffer führt, die als soziale Vermittlung funktioniert. (LiPuma 2017: Kindle-Edition 654) Für Derivate sind Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt unbedeutend. Ohne die Produktion von Volatilität kann das Derivat nicht existieren, ja sie motiviert seine Replikation und Zirkulation, ansonsten bleibt es wertlos

Finanzielle Krisen manifestieren sich in einer drastischen Reduzierung der Liquidität, da die Käufer für Wertpapiere fehlen, wobei die beiden einzigen Mittel zur Beendigung der Krise im Refinanzierungspotenzial der Zentralbanken, in Maßnahmen wie Bailouts und quantitative easing und der Ausgabe neuer Staatsanleihen bestehen, die als Sicherheit für neue Kredite dienen und so einen weiteren Anstieg der Kreditvergaben initiieren. Man muss dabei von einer nicht-fraktalen Verkettung wandernder Risiken ausgehen, wobei eine neue Blase sich nie dort entwickelt, wo zuvor die letzte geplatzt ist. Die temporale Struktur der Verkettung des zirkulierenden spekulativen Kapitals ist durch zwei entgegengesetzte Kräfte und Dynamiken geprägt, der Notwendigkeit, das Risiko immer weiter zu steigern, und der Notwendigkeit, die Kohäsion des Marktes beizubehalten. Zugleich sind diese beiden Aspekte miteinander verbunden, wobei sie eine strukturell-intrinsische Spannung erzeugen, die in der Logik des spekulativen Kapitals selbst liegt und zu Krisen führt

Nun zur Frage der Geldschöpfung durch die Geschäftsbanken: Für ihre Kreditvergabe benötigen die Banken Ersparnisse der Kunden nicht unbedingt. Die „Produktivität“ der Banken besteht vielmehr in der Bewirtschaftung von Zahlungsversprechen, u.a. dem Schöpfen von Krediten. Kommen wir nun zur Kreditschöpfung. Schon vor 400 Jahren begannen englische Goldschmiede, indem sie die Goldmünzen ihrer Kunden verwalteten und eine Art Urkunde ausstellten (auf der die Menge des eingelagerten Goldes vermerkt war), die sie dann als Quasi-Geld weiter verliehen, Papiergeld zu schaffen. Weil es für die Eigentümer nur noch selten Sinn machte, ihre Goldmünzen direkt einzufordern, konnten die Goldschmiede, die als Vorläufer der privaten Banken zu verstehen sind, mehr Urkunden, die als stoffwertloses Papiergeld fungierten, an Empfänger ausgeben als der Gegenwert der von ihnen gehaltenen Goldmünzen betrug. Profitorientierte Privatbanken versuchten in der Folgezeit, das Verhältnis zwischen der Papiergeldmenge und der Menge an Goldmünzen ständig zu vergrößern. Dies trifft aber noch nicht ganz den entscheidenden Modus der Bankaktivitäten: Die Geschäftsbanken schaffen nämlich seit geraumer Zeit mit ihren Kreditvergaben sogenanntes Giralgeld, das auf den Bankkonten digital aufgezeichnet wird. Dabei leihen die Geschäftsbanken nicht dasjenige Geld aus, das vorher Kunden bei ihnen deponiert haben, sondern sie produzieren das Giralgeld selbst, indem sie eben Kredite an Kunden vergeben.

Schauen wir uns den Vorgang der Kreditschöpfung etwas genauer an: Wann immer eine Geschäftsbank entscheidet, dass ein Kunde kreditwürdig ist (er muss Sicherheiten halten und am besten das Potenzial zu zukünftiger Kapitalverwertung besitzen), wird ihm Kredit gegeben und damit ein bestimmter Geldbetrag auf seinem Konto gutgeschrieben. Diese Einlagen, sofern sie aus der Kreditvergabe selbst entstehen, nennt man Giral- bzw. Buchgeld, das per Tastendruck (man spricht deswegen auch von »Keystroke-Kapitalismus«) auf einem Konto angeschrieben wird. Damit werden heute zumeist nur noch elektronische Zahlungen abgewickelt. Verliehen werden also digitale Geldzeichen, die das Giralgeld repräsentieren und als Zahlen auf Girokonten erscheinen und seitens der Kreditnehmer immer auch einen Anspruch auf (staatliches) Bargeld inhärieren, und zwar unter der Voraussetzung, dass sie das vertraglich fixierte Versprechen abgeben, in einer bestimmten Zeitfrist den Kredit zuzüglich einer bestimmten Zinsrate (der Preis des Kredits) zurückzuzahlen. Wenn die Geschäftsbank einen Kredit gewährt, hat sie das Geld, das für sie eine Verbindlichkeit darstellt, an den Kunden unmittelbar zu liefern und sie besitzt zugleich ein Asset, da sie über einen gewissen Zeitraum Zinsen kassiert, während der Kunde auch ein Asset/Guthaben auf seinem Bankkonto besitzt, aber auch die Verbindlichkeit eingeht, den Kredit zuzüglich Zinsen zurückzahlen zu müssen. Diese bilanziellen Beziehungen sind essenziell für das Verhältnis von Gläubigern und Schuldnern. Die auf den Kredit zurückzuführenden Guthaben auf den Konten der Schuldner kann man als »fiktive Depositen« bezeichnen, da sie nicht von den aktuellen Geldbeständen abhängen, über die eine private Bank gerade verfügt.

Mit der Kreditvergabe hat die Geschäftsbank auf der Aktivseite ihrer Bilanz eine Kreditforderung gegenüber dem Kunden, der auf der Passivseite die Einlage des Kunden als eine Verbindlichkeit gegenüber der Bank entspricht, wobei diese, und das ist der entscheidende Punkt, gerade nicht durch eine anderweitige Zahlung seitens der Bank ausgeglichen wird. Vielmehr entsteht Giralgeld einfach durch die Kreditvergabe der Bank, indem diese ihre Assets (Rückzahlungsversprechen des Schuldners) und Verpflichtungen (gegenüber dem Schuldner) auf beiden Seiten der Bilanz ausdehnt. Es wird damit kein anderes Konto der Bank oder ein externes Konto um den vergebenen Kreditbetrag verringert, vielmehr kann die Bank ihre Kredite stets mit ihren eigenen Zahlungsversprechen bezahlen. Über die gesamte Laufzeit des Kredits bleibt das Versprechen der Bank, den gewährten Kreditbetrag auszubezahlen, ein Versprechen, und nur wenn der Kunde Teile des Betrags als Bargeld abhebt, muss die Bank ihre Barreserven verringern. (Vgl. Seiffert 2014: 89f.) Die Bank bucht auf der Aktivseite ihrer Bilanz ein Darlehen ein und auf der Passivseite bzw. dem Girokonto des Kreditnehmers eine zahlenmäßig identische Gutschrift. Während also auf der Passivseite der Bankbilanz die Verbindlichkeit als Einlage aus der Kreditvergabe erscheint, ist auf der Aktivseite die Bilanzsumme um einen Betrag gestiegen, der in etwa dem Kredit entspricht (minus Reserven). Im Fachjargon heißt dies »Bilanzverlängerung«. (Vgl. Schreyer 2016: 33f.) Die Verbindlichkeit taucht in der Bilanz der Bank schlichtweg auch als »Kundenguthaben« auf.

Durch geldschöpfende Schreibvorgänge entsteht das Giralgeld auf der Ebene der Kunden, aber es kommt dabei immer zu Zahlungsströmen zwischen den Banken, die auf Interbankkonten gemessen werden. Wenn die Praxis der Kreditvergaben zwischen den Banken stark abweicht, bspw. bei einer Bank mehr Forderungen gegenüber Kunden entstehen als bei einer anderen Bank, dann kommt es zwischen den Banken zu ungleichen Zahlungsströmen, die die Interbank-Kreditkonten beeinflussen und damit auch die jeweiligen Gewinne der Banken. Jede Bank hat pro Tag eine Vielzahl von Zahlungseingängen und Zahlungsausgängen zu verzeichnen, die auf Interbank-Kreditkonten verrechnet werden, wobei sich die Differenzen in der Regel innerhalb weniger Tage wieder ausgleichen. Bei andauernden Zahlungsdifferenzen sind die Banken selbst dazu verpflichtet, die unterschiedlichen Beträge auszugleichen. Damit kommt ein neuer Kontentyp ins Spiel, das Zentralbankkonto. Jede Geschäftsbank ist verpflichtet, ein solches Konto bei der Zentralbank des jeweiligen Landes zu halten und dieses muss Gutschriften (Zentralbankgeld/Geldmenge M0) in bestimmter Höhe aufweisen. Gutschriften erhalten die Geschäftsbanken von der Zentralbank über die Einreichung von Wertpapieren und Krediten.

Wo liegen bei der Schöpfung von Giralgeld (und der Realisierung von Gewinnen) die Grenzen? Die erste Grenze besteht darin, dass die Gewinne, die aus der Giralgeldschöpfung entstehen, nicht direkt bei der Ausgabe des Kredits realisiert werden; sie werden vielmehr über die Laufzeit des Kredits realisiert, wenn die Kreditnehmer regelmäßig Zinsen zahlen und schließlich den Kredit auch noch getilgt haben. Kann ein Kreditnehmer nicht mehr zahlen, kommt es zu Verlusten bei der kreditgebenden Bank. Weitere Grenzen: 1) Die je nach konjunkturellen Zyklen vorhandenen Mengen von potenziellen Kreditnehmern sowie das Volumen der verfügbaren Wertpapiere und Sachanlagen. 2) Zu hohe Differenzen in den Zahlungsströmen zwischen den Geschäftsbanken. Vergibt eine Geschäftsbanken im Vergleich zu anderen Geschäftsbanken zu viele Kredite und/oder kauft Sachanlagen und Wertpapiere in zu hohen Summen, dann muss sie mit Schulden auf den Interbank-Kreditkonten rechnen, da es nun zu stärkeren Abflüssen von Zahlungen gegenüber den eingehenden Zahlungen kommt. 3) Die Größe einer Geschäftsbank und der entsprechende Grad ihrer nationalen und internationalen Vernetzung.

Man sieht hier schon, dass die Herstellung und die Realisierung von Profiten bei den Banken ein gänzlich anderer als beim industriellen Kapital ist. (Kreation von Kredit, Wertpapier und Derivat im Vorgriff auf zukünftige Verwertung). Da die Banken zudem hauptsächlich mit Fremdkapital arbeiten, ist ihr Leverage wesentlich höher als bei den Unternehmen der anderen Sektoren. Leverage ist der Hebeleffekt, der anzeigt, in welcher Höhe das geliehene Geld das ursprüngliche Eigenkapital/Vermögen übersteigt (Verhältnis von aufgenommenen Kreditvolumen und Eigenkapital der Bank). Während er bei industriellen Unternehmen bei 1 liegt, liegt er bei Banken bei 20, kann aber bis zu 70 ansteigen. Die Bankenprofite gehen nicht in der Herstellung der industriellen Durchschnittsprofitrate ein, unterliegen aber dennoch Ausgleichsmechanismen, die durch die Konkurrenz vermittelt sind.

Es lässt sich nun folgende Frage stellen: Wenn die Produktion/Zirkulation eines physikalischen ökonomischen Objekts (klassische Waren wie Kleidung, Nahrungsmittel, Computer etc.) direkt durch einen Kredit affiziert wird und dieser sich wiederum durch den Preis eines Derivats massiv beeinflussen lässt, kann man dann wirklich die bisherige hierarchische Ordnung der Klassen von drei ökonomischen Objekten beibehalten, wobei man von den synthetischen Wertpapieren immer noch als rein abgeleiteten Papieren spricht, von Derivaten? Ein Tisch mag ja ein Ding zur Bereitstellung einer Mahlzeit sein, aber wenn Faktoren wie die Zinsraten auf Kredite des Tische produzierenden Unternehmens, Optionen und Versicherungen auf den Holzpreis und schließlich Währungsschwankungen mit den entsprechenden Faktoren in der Produktion übereinander geblendet sind, und dies im Kontext der Produktion weiterer Güter und Dienstleistungen, so wird doch über den äußerst bescheidenen Tisch (als physikalisches Objekt) ein globales Festgelage des monetären Kapitals platziert. Drei Objekte: Wir sollten davon ausgehen, dass die synthetischen finanziellen Assets eine höhere Wirkungsmächtigkeit gegenüber den klassischen Finanzinstrumenten (Kredit) sowie den klassischen Waren besitzen, weil die Größe (von ökonomischen Objekten) und die damit zusammenhängende Wirkungskraft je schon in Verbindung zum Vernetzungsgrad der ökonomischen Objekte steht.

Die globalen Finanzmärkte leisten heute einen sehr speziellen Beitrag zur Intensivierung der Konkurrenz und zur Mobilität der Einzelkapitale; sie beschleunigen damit die Tendenz zur Herstellung von Durchschnittsprofitraten. Diese Prozesse beinhalten die ständige Evaluation, Bewertung und Kalkulation der Einzelkapitale, während gleichzeitig immer mehr private Ersparnisse in Investitionen umgeleitet werden sollen. Die Finanzmärkte generieren eine instabile, eine multiple Struktur zur Kontrolle der Effektivität von Unternehmen, sie sind als eine Art flexibilisierende, kontrollierende, dezentralisierte Aufsicht über die Kapitalbewegungen zu verstehen wobei fast alle Unternehmen sich den Erfordernissen der Bewertung des finanziellen Kapitals anzupassen haben, von dem sie auf Dauer evaluiert und getestet werden. Gleichzeitig verbessert die Governance des finanziellen Kapitals die Verwertungsmöglichkeiten für die Unternehmen, was diese aktiv nutzen. Die Governance ist allerdings nicht im Sinne einer zentralen Planung zu verstehen, da einerseits das finanzielle Kapital selbst in verschiedene Fraktionen gesplittet ist und es anderseits in die zyklischen, konjunkturellen und krisenhaften Bewegungen der Kapitalakkumulation auf der Gesamtebene voll eingebunden bleibt. Im Gegensatz zu den Annahmen von Keynes ist es gerade der illiquide oder hochregulierte Markt, i. e. das Kapital, das an Fabriken und Maschinen gebunden bleibt, das der Effektivität des postmodernen fluiden Kapitals nicht nachkommen kann; das Kapital muss nicht notwendigerweise für einen längeren Zeitraum an einen partikularen Einsatz gebunden sein, es kann ständig seine Geldform zurückgewinnen und nach besseren Verwertungsmöglichkeiten Ausschau halten. Gleichzeitig steht die molekulare Bewertung der Unternehmen während eines Zyklus nun im Vordergrund (im Vergleich zur Vergabe von Krediten), es werden nun Teile und Attribute der Unternehmen skizziert, bewertet und schließlich ausgepreist. Innerbetriebliche Parameter wie die Individualisierung der Vergütungs- und Verteilungssysteme, Flexibilisierung der Arbeit, atypische Arbeitsverhältnisse, Effektivierung des in Maschinen und Arbeitskraft kondensierten Wissens, Outsourcing von Produktionsbereichen werden permanent neu justiert. So interessieren sich Hedgefonds weniger für den Kursverlauf einer Aktie, sondern sie zerlegen die Unternehmen in verschiedene Teile und untersuchen dann ganz spezifische Aspekte, z. B., in welchem Land das Unternehmen angesiedelt ist, ob es ein Technologieunternehmen ist, ob die Aktie des Unternehmens als Teil eines bestimmten Index gehandelt wird, etc.

Es gibt zwar wichtige Parallelen zwischen dem nationalen Markt und dem Weltmarkt, aber jener ist nicht einfach eine Subkategorie des letzteren. Eine genauere Analyse des Weltmarktes, der stets in Verbindung mit den nationalen Ökonomien zu sehen ist, macht evident, dass der Weltmarkt mehr ist als nur die Aggregation der Staaten und Unternehmen, nämlich eine komplexe Struktur, eine Kette von internationalen Beziehungen, Waren- und Geldkapitalströmen und monetären kausalen Verbindungen, die zwar auf den verschiedenen nationalen Staaten sowie den verschiedenen Systemen der Kapitalmacht aufbauen, wobei aber die komplexe Struktur des Weltmarkts eine gewisse Eigenständigkeit entwickelt und es dennoch zu keiner einheitlichen ökonomischen Verfasstheit desselben kommt. Die Weltökonomie ist nicht einfach die Summe von nationalen Teilen, sondern sie ist selbst ein hierarchisch differenziertes System, innerhalb dessen heute das Wachstum der Kapitalexporte der Unternehmen der führenden imperialistischen Staaten befördert, der Raum für die Kapitalzirkulation und die Finanzindustrie erweitert und ein komplexes Verhältnis zwischen führenden und subalternen Nationen im Rahmen komplizierter Netzwerke der Informationsübertragung hergestellt wird. Zudem werden die internationalen Kreditbeziehungen ausgeweitet, transnationale Konzerne gebildet, die internationalen Derivatverkäufe ausgedehnt und periphere Länder durch die von den kapitalistischen Zentren ausgehende Dynamik sukzessive in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert, indem sie als Märkte oder als kostengünstige Produktionsstandorte erschlossen werden.

Die Expansion der Finanzmärkte und der massive Kapitalexport aus den USA, Westeuropa und Japan seit den 1970er Jahren in die peripheren Staaten trug einerseits zur partiellen Deindustrialisierung dieser kapitalistischen Länder bei, führte dort zum Import billiger Konsumwaren und ermöglichte andererseits die exportorientierte Industrialisierung peripherer Staaten. Die Devisenreserven, die insbesondere China durch sein am Export orientiertes Wachstumsmodell erwirtschaftete, flossen wiederum in US-Staatsanleihen und andere Finanzanlagen und verstärkten damit die Expansion der Finanzmärkte. Dabei bleiben die Länder des globalen Südens und deren Wachsumsstrategien auf einen kontinuierlichen Zufluss ausländischen Kapitals und auf ausländische Absatzmärkte angewiesen. Wenn Kapital abgezogen wird oder die Nachfrage nach Rohstoffen oder Konsumgütern sinkt, dann kommt es in diesen Ländern zu ökonomischen Problemen, denn die Strategie, die inländische Nachfrage anzukurbeln und damit auf ausländische Absatzmärkte zu verzichten, greift nur langfristig. China und andere aufstrebende Ökonomien können gegenwärtig nicht an einem Niedergang der neoliberalen Regime des Westens interessiert sein, da sie in die neoliberal ausgerichtete Weltordnung ökonomisch vollständig integriert sind Heute ist die Etablierung des Weltmarkts längst erreicht, dabei war der Eintritt Chinas in die WTO der bisher letzte Schritt der Integration.

Die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und die Integration der Länder und Unternehmen auf ökonomischer Ebene erfordern immer auch entsprechende politische Regulationen. Dabei bleibt der Nationalstaat eine wichtige Instanz, wobei aber mit der zunehmenden Transnationalisierung des Kapitals auch supra-transnationale Institutionen für die internationale Regulation geschaffen werden und es zudem zu informellen Absprachen zwischen Regierungen kommt. Es gilt festzuhalten, dass hier eine Transformation von politischen Prozessen, die noch auf die parlamentarische Demokratie bezogen waren, in supra-nationale und von Experten dominierte Institutionen stattfindet, die sich selbst einer formellen demokratischen Kontrolle weitgehend entziehen (die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IMF), die Weltbank, die EU und die Europäische Zentralbank sind hier zu nennen). Damit können auch die konjunkturellen Bewegungsformen der Profitzyklen, insbesondere die Herstellung der Durchschnittsprofitraten, der tendenzielle Fall der Profitrate und dessen gegenteilige Tendenzen, allein auf der Ebene der nationalen Ökonomien nicht mehr diskutiert werden. Dennoch führen die internationalen Kapital- und Preisbewegungen nicht zu durchschnittlichen Profitraten auf dem Weltmarkt, sondern die nationalen Differenzen der Produktivität und der Entwicklung der Profitraten werden auf dem Weltmarkt in spezifischer Weise modifiziert.

Das Finanzsystem ist ein wichtiger ökonomischer Faktor in der Weltökonomie, in der die Unternehmen der verschiedenen Sektoren und Branchen und die Staaten in einem hierarchisch organisierten Netzwerk (als Konkurrentinnen) miteinander verflochten sind. Die globalen Finanzmärkte haben sich längst zu komplexen, multidimensionalen Systemen ausdifferenziert, die nicht nur die Geld-, Anleihen-, Aktien- oder Devisenmärkte einschließen, sondern zudem die Kapital- und Derivatmärkte sowie die Märkte für alle Arten von Sicherheiten. (Vgl. Sotiropoulos//Milios/Lapatsioras 2013a: 118ff.) Ein wichtiges neues Charakteristikum des internationalen Finanzsystems besteht definitiv in der rasanten Entwicklung des Schattenbank-Systems. Zugleich muss man berücksichtigen, dass seit der Aufhebung des Glass Steagal Acts von 1933 für sämtliche Geschäftsbanken die Trennung von Commercial Banking und Investmentbanking nicht mehr gilt.

Unter all diesen Gesichtspunkten leistet das Finanzsystem auf internationaler Ebene heute Folgendes: 1) Die Überwindung der Grenzen und Friktionen, die auf die nationale Territorialisierung und auf nationalstaatliche Restriktionen zurückzuführen sind. 2) Die Öffnung der nationalen Ökonomien für ausländische Unternehmen. 3) Die Überwindung der Schwerfälligkeit der klassischen Industrieproduktion, die nun sogar über die Integration in die globalen Wertschöpfungsketten »leichter« wird. 4) Die Förderung des internationalen Wettbewerbs. Das internationale Finanzsystem besitzt die Funktion, die Dominanz der großen Unternehmen und imperialistischen Staaten im Weltsystem zu stabilisieren und zu stärken, während umgekehrt die Position eines Landes am Weltmarkt, der Gebrauch der eigenen Währung im internationalen Handel und seine militärische Macht die Möglichkeit für inländische Unternehmen, ihre Macht und Kontrolle über ökonomische Ressourcen auf internationaler Ebene weiter auszubauen, verstärkt. Und nur wenige Länder besitzen ein international funktionierendes Banken- und Finanzsystem, das zumindest einen entwickelten Außenhandel und ein ausgedehntes internationales Investmentbusiness voraussetzt, das heißt, intensive finanzielle ökonomische Beziehungen zu anderen Ländern.

In den letzten Jahren wurde auch die Debatte um den Begriff des Imperialismus wieder aufgenommen, allerdings in einem anderen Sinn, als Lenin oder Hilferding ihn im zwanzigsten Jahrhunderts noch diskutiert hatten. Tony Norfield fasst seine eigene, an der Aktualität der Mechanismen des heutigen Weltmarktes orientierte Definition des Imperialismus in seinem Buch The City folgendermaßen zusammen: Eine kleine Anzahl von imperialistischen Staaten bildet heute eine hierarchische Allianz auf dem Weltmarkt, der zugleich mittels großer multinationaler Unternehmen, die enorme Mengen an Waren und Dienstleistungen in globalen Wertschöpfungsketten produzieren, integrieren und dort handeln und Kapital jedweder Art sowie finanzielle Serviceleistungen kapitalisieren, konstituiert wird. Die großen internationalen Unternehmen investieren heute sehr wohl noch, aber weniger in ihren eigenen Ökonomien. Die Liberalisierung des Welthandels, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Entwicklung der Logistik ermöglichen den großen Konzernen in den kapitalistischen Kernländern neue Profitquellen und Investmentmöglichkeiten im globalen Süden, während die Preise für ihre Inputs aufgrund billiger Importe von dort fallen. Die ökonomischen Machtzentren beruhen also auf einem komplexen Zusammenspiel zwischen imperialistischen Staaten, die aufgrund der Bereitstellung materieller und sozialer Infrastrukturen die Ausgangsplattformen für das entwickelte Kapital darstellen, und großen transnationalen Unternehmen, deren Geldkapital ständig rund um den Globus fließt. Dabei sind die ökonomischen Machtverhältnisse zwischen den führenden kapitalistischen Ökonomien streng hierarchisiert, wobei sich aber die relative Macht der einzelnen Länder und ihrer Ökonomien immer verschieben kann. Daraus folgt eine Aufteilung der Welt, die auf der expansiven Ausübung der ökonomischen, politischen und militärischen Macht der Staaten und ihrer großen Unternehmen beruht. (Norfield 2016: Kindle-Edition: 189f.) Die führenden imperialistischen Staaten müssen eine gewisse ökonomische Größenordnung erreicht haben, damit eine hohe Konzentration des Kapitals, ein entwickelter und differenzierter Arbeitsmarkt im eigenen Land sowie ein vorteilhafter Zugang zu den ökonomischen Ressourcen an den Weltmärkten und, bis zu einem gewissen Maß, auch die Kontrolle über die internationalen Kapitalströme möglich werden.

Die dominante Macht im internationalen geo-ökonomischen und geo-politischen Vergleich stellen, vor allem aufgrund ihrer militärischen Stärke und der Leitwährung Dollar, immer noch die USA dar. Norfield nennt fünf konkrete Kriterien, die für die ökonomische und politische Machtposition eines Landes auf dem Weltmarkt ausschlaggebend sind: 1) Die Größe der Ökonomie eines Landes (eine annähernde Kennzahl ist das BIP). 2) Die Menge an fremden Vermögenswerten, über die eine Ökonomie verfügt. 3) Die internationale Macht des eigenen Bankensektors. 4) Der Status der eigenen Währung als international gültiges Zahlungsmittel. 5) Die Höhe der Militärausgaben.

Die polit-ökonomische Machtposition eines Landes auf dem Weltmarkt kann schließlich nur dann festgestellt werden, wenn man dessen ökonomische und politische Beziehungen zu anderen Ländern berücksichtigt. Norfield kommt zu dem Schluss, dass heute zwanzig Länder insbesondere aufgrund der Stärke und Potenz ihrer Ökonomien wichtige und führende Stellungen auf dem Weltmarkt einnehmen, wobei die USA bei vier der fünf oben angegebenen Kriterien die führende Position innehaben und lediglich bezüglich der Größe des eigenen Bankenwesens und dessen Dienstleistungen im internationalen Kontext (Interbankenhandel) von Großbritannien mit seinem Finanzplatz London übertroffen werden. Großbritannien liegt aufgrund der hohen Anzahl von Banken und Direktinvestitionen, die sich auf ausländisches Vermögen beziehen, noch vor Deutschland (Platz 4) auf Platz 2, das als die führende politische Macht in Europa gilt. China nimmt als der führende »emerging market« den dritten Rang ein. (Ebd.: 2060) Unterhalb der Skala befinden sich die sogenannten Rohstoffländer, die vor allem als Lieferanten von billigen Rohstoffen, Energien, Lebensmitteln und Arbeit (Jason W. Moores Cheap Four; Moore 2016) sowohl für die westlichen Industrieländer als auch für die aufstrebenden Staaten interessant sind und deshalb beispielsweise permanent an den Rohstoffbörsen beobachtet und bewertet werden. Eine besondere Rolle spielen die Ölstaaten, die aufgrund ihres einzigartigen Naturprodukts Öl hohe Anteile am abstrakten Reichtum an den Weltmärkten erlangt haben und heute selbst versuchen, auf internationaler Ebene neue Standorte für die Kreditschöpfung und für den Handel von fiktivem und spekulativem Kapitals zu gründen.

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