Kapital ist Finance – Grundlagen einer marxistischen Finanztheorie

Die »Deregulierung der Finanzmärkte« seit den 1970er Jahren hat paradoxerweise gerade an ihnen selbst die Kapazitäten und die Nachfrage nach Regulierung, nach Regulierungsinstrumenten und nach Regulierungsagenturen ansteigen lassen. Die Stärkung von Marktmechanismen auf allen Ebenen bedarf einer Reihe von öffentlichen, substaatlichen und insbesondere privaten Unternehmen und Institutionen, die in ihrer Vervielfältigung und Verstreutheit solche Macht- und Regierungsfunktionen übernehmen, die bisher den Staaten vorbehalten blieben. Nationalstaatliche Institutionen, transnationale Netzwerke und Unternehmen, informelle Gruppen und Organisationen haben ein vielfältiges Gefüge aus Verordnungen, Regeln und Machtsystemen mit unterschiedlicher Dichte und Streuweite über den ganzen Globus errichtet. Regierungsfunktionen, Machttechnologien und Strategien des finanziellen Kapitals durchdringen sich gegenseitig und definieren ein spezfisch regulatives und gleichzeitig instabiles und krisenhaftes Finanzregime, das inzwischen globale Governancefunktionen in Anspruch nehmen kann. »Global Governance«, das ist keineswegs die Folge einer entfesselten Liberalisierung der Kapitalmärkte und der gleichzeitigen Degradierung der Staaten zu rein ausführenden Organen, sondern inhäriert spezifische Regierungs- und Regulierungsbedingungen des finanziellen Kapitals, wobei die staatlichen und substaatlichen Institutionen die dem Kapital korrelierenden Marktmechanismen rechtlich absichern. Man kann hier von einer doppelten Regierungsrationalität ausgehen, nämlich der des finanziellen Kapitals im Verbund mit staatlichen und transnationalen Organisationen und Institutionen, wobei aber die erstgenannte letztere dominiert. Darauf weisen eine ganze Reihe von Faktoren hin, man nehme nur die private Geldschöpfung durch Banken und die Liquiditäts-, Steuerungs- und Derivatinstrumente, mit denen heute sämtliche Felder des Ökonomischen, des Sozialen und des Politischen vom finanziellen Kapital durchquert und teilweise auch besetzt werden. Es sind nicht die Finanzmärkte, wie Vogl dies annimmt, sondern es ist das finanzielle Kapital, das sich an dieser Stelle zum Richter über Regierungen und quasi zur vierten Gewalt transformiert und ein neues »Einschließungsmilieu« (Vogl 2015: 25) errichtet hat, in das Unternehmen, Staaten, Haushalte und semi-demokratische Institutionen integriert sind.

An den Finanzmärkten findet die Kapitalisierung – die Diskontierung zukünftiger Gewinnströme und der entsprechende Handel mit finanziellen Assets – als Prozess der kontinuierlichen Bewertung der Risiken mittels Derivaten statt. Da jeder zukünftige Renditestrom kontingent und unbekannt ist, kann ohne die Kalkulation, wie denn nun das jeweilige konkrete Risiko hinsichtlich einer zukünftigen Generierung von Renditen zu bewerten sei, keine finanzielle Kapitalisierung stattfinden. Kapitalisierung erfordert also einen bestimmten Modus der Identifizierung, der Kalkulation und der Ordnung von ökonomischen Entitäten, von sozio-ökonomischen Ereignissen, die zuerst einmal unterschieden und dann als Risiko-Ereignisse objektiviert werden müssen. Zumindest diesbezüglich muss heute jedes Kapital als fiktives Kapital gelten. Zudem benötigt die Kapitalisierung bestimmte Technologien, mit denen sich Risiken überhaupt erst unterscheiden, vergleichen und handeln lassen, das heißt, sie inkludiert einen Prozess der Normalisierung gemäß der statistisch erfassbaren Risiken. (Vgl. Sotiropoulos/Milios/Lapatsioras 2013b: 157ff.)

Bei der Untersuchung der Preisgestaltung der Derivate konnte man schon feststellen, dass sich die Preise des fiktiven Kapitals weder direkt auf die Kosten der Produktion beziehen noch unbedingt als Kreditsummen die Produktionsprozesse in Gang setzen, sondern die Preise beeinflussen hier stringent eine auf Zukunft ausgerichtete (monetäre) Verwertung, insoweit diese immer auch die Übersetzung und die Transformation der Klassenkämpfe leistet. Wenn der Preis eine sehr spezifische, »ideologische« Repräsentation des Kapitals inhäriert, dann scheint das Problem der informatorischen Effizienz an den Finanzmärkten zumindest für das Verständnis der Strukturen und Prozesse des finanziellen Kapitals an Bedeutung zu verlieren. Zwar spielen informatorische Dispositionen durchaus eine Rolle, wenn es etwa um die wettbewerbliche Determination der Preise von Derivaten geht, aber Informationen sind im diesem Fall als »ideologische« Repräsentationen zu verstehen. Die Repräsentation von ökonomischen Machtbeziehungen und ihre Transformation in finanzielle Produkte lässt Relationen als Objekte oder Ereignisse erscheinen, die im Kontext eines Gefüges von Diskursen, Wissensformationen und mathematischen Modellen (von der Ökonometrie bis hin zu dynamischen stochastischen Gleichgewichtsmodellen) zum Ersten quantifizierbar und zum Zweiten auch dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen an Marktteilnehmer adressiert und von diesen auch abgerufen werden können. (Ebd.: 225) Quantifizierbarkeit meint hier nicht nur das Zählen oder die Zuordenbarkeit von Verfahren zu Zahlen, sondern eine durch Standards hergestellte algebraische Repräsentation, die eine Vorstufe zur allgorithmischen Verarbeitung der Repräsentation darstellt. Der Aufstieg der Derivate erlaubt die Replikation (Bündelung und Trennung) der finanziellen Sicherheiten und somit die Kommodifizierung/Kapitalisierung von Risiken. Was kapitalisiert wird, das besitzt einen Preis. Die derivative Art der Preisgestaltung inhäriert eben nicht nur Zeittechnologien, sondern insbesondere auch Technologien der Kapital-Macht. Und die Machttechnologien kondensieren sich in partikularen Wissensformen, Semiotypen, Mathemen und Diskursen, insofern sie die sozio-ökonomische Realität repräsentieren, i. e. die ökonomische Realität in gewisser Weise naturalisieren oder gar unkenntlich machen. Im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften werden bestimmte ökonomische Ereignisse in der Theorie so aktualisiert, dass mit der Repräsentation auch Regeln zur Steuerung der individuellen Handlungen der Marktteilnehmer geschaffen werden (Performanz), die von den Teilnehmern als Wahrheit ihrer eigenen gelebten Realität anerkannt werden. (Ebd.: 103)

Für John Milios bleiben die Preisbewegungen und die ihnen entsprechenden Informationalisierungen in die Prozesse der Ideologisierung eingebettet, oder, anders gesagt, die Mechanismen der finanziellen Preisbildung (ökonomische Modelle) sind, egal ob sie effizient sind oder nicht, je schon Teil der ideologischen Apparate. (Ebd.: 149) Milios bezieht sich hier auf Althusser und dessen Theorie der ideologischen Staatsapparate, wobei Althusser das Problem der Ideologie generell im Kontext der Konstitution des ideologischen Subjekts und seiner Pragmatik begreift, als Anrufung, ja als die Aufforderung, ein Set von sozialen Verhaltensweisen und (diskursiven) Praktiken, Gewohnheiten, Gesten und Verboten, ohne jeden Einspruch zu leben. Damit akzeptieren die sozialen Akteure nicht nur die durch Diskurse in spezifischer Weise repräsentierten sozialen Relationen, sondern sie erfahren die Ideologie auch als Ausdruck der Wahrheit ihres eigenen sozialen Lebens. Wenn Individuen als Subjekte angerufen werden, dann werden ihnen die notwendigen Motivationen übermittelt, um sich mit den dominanten imaginären und symbolischen Verhaltensweisen, Diskursen und Vorstellungen zu identifizieren.

Für Marx »findet« man den Wert weder in einem Ding, noch stellt dieser eine imaginäre Relation dar, vielmehr erscheint er in zwei distinkten und polarisierten Relationsformen: Geld und Ware. (Ebd.: 63) Wenn nun das Derivat – für Milios ist das Geld als Kapital eine Ware sui generis – eine »Verdinglichung« der Kapitalrelation darstellt, dann muss sein Tauschwert auch im Kontext der Repräsentation von spezifischen sozio-ökonomischen Machtverhältnissen gesehen werden, und das heißt, dass die ökonomischen Ereignisse an den Finanzmärkten »spontan« in objektive Perzeptionen und quantitative Zeichen übersetzt werden. Und all diese objektiven Wahrnehmungen (und Zeichen) gestalten die Dimensionen eines konkreten und eines abstrakten Risikos mit.

Selbst Deleuze/Guattari betonen, dass das Ökonomische nicht an sich gegeben sei, sondern eine interpretationsbedürftige differenzielle Virtualität (vgl. Deleuze 1992a) enthalte, die durch diskursive Formen der Aktualisierung des Ökonomischen auch überdeckt werden könne. Allerdings lehnen Deleuze/Guattari den Begriff der Ideologie ab. Vor allem Guattari hat gegen diese Begriff vielfach die a-signifikanten Semiotiken (Algorithmen, Diagramme, mathematische Gleichungen, Indizes, statistische Gesamtrechnungen etc.) ins Spiel gebracht; Semiotiken, die nicht so ohne weiteres unter die »ideologischen Staatsapparate« zu subsumieren sind. Bei den a-signifikanten Semiotiken handelt es sich nämlich nicht um sprachzentrierte Dispositive zur Reproduktion der Ideologie, sondern um Diagramme, binäre oder wahrscheinlichkeitsorientierte Codes und Algorithmen, die das finanzielle Kapital heute insbesondere zukunftsorientiert operieren lassen. Das finanzielle Kapital operiert mit Zeichen (der Macht), die nichts repräsentieren, sondern etwas antizipieren, erschaffen und gestalten. Die a-signifikanten Zeichen eröffnen eine Ökonomie der Virtualisierung und einen Spielraum für zukünftige Optionalitäten – sie dienen der Kalkulation der Zukunft in Hinsicht auf kapitalkonforme Verwertung. Für Deleuze/Guattari erscheint das Kapital weniger als ein linguistischer, sondern als ein semiotischer Operator.

Das Autorenteam um Milios behauptet, dass die Mechanismen des finanziellen Kapitals heute eindeutig zur Intensivierung der Konkurrenz zwischen den Unternehmen, egal welchem Sektor sie nun angehören, beitragen, indem ihre Mobilität, die die Tendenz zur Herstellung einer durchschnittlichen Profitrate und gleichzeitig zur Realisierung von Extraprofiten in sich trägt, verbessert und zugleich die Kontrolle ihrer Effizienz verstärkt wird. Die Operationen der finanziellen Kapitalisierung sind als Versuche zu verstehen, kapitalimmanente, effektive Bedingungen der Verwertung (Mehrwertabschöpfung) zu schaffen, insofern sie Ersparnisse verschiedener Herkunft in Investitionen umzuwandeln helfen, wobei diese Funktion für die monetäre Verwertung des Kapitals kausale Priorität besitzt. Die moderne Finance generiert, speziell in ihrer neoliberalen Version, normalisierende Verfahren der statistischen Evaluation, Kalkulation und Beobachtung, die die Bewertung und die Regulation der ökonomischen Effizienz der Unternehmen konsolidieren, wobei diese Prozesse zum einen die Kapitalisierung der an den Finanzmärkten gehandelten Assets und Derivate inkludieren, zum anderen mit Hilfe des ökonomischen Mathems – mathematische Modelle, Derivate etc. – Praktiken zur ständigen Kontrolle (qua statistischer Durchschnittswerte) der kapitalistischen Unternehmen in Gang setzen, die auf eine Verbesserung ihrer Effektivität und auf die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Machtrelationen insgesamt abzielen.

In diesem Kontext können die ökonomischen Fundamentaldaten der Unternehmen keineswegs als vorrangig gegenüber den Wissensformen, Diskursen und Repräsentationen der Finanzindustrie gelten, sondern jene sind selbst als eine Form der Interpretation der kapitalistischen Realität zu verstehen, oder, um es anders zu sagen, sie sind je schon Teil der diversen Konstruktionsweisen, mit denen die Marktteilnehmer die ökonomischen Strukturen perzipieren, modellieren und affirmieren, indem sie bestimmte theoretische Praktiken in den Feldern der Ökonomie ausüben. (Ebd.: 152) Diese nicht-empiristische Sichtweise verneint die Unterscheidung zwischen Fundamentaldaten und den auf sie bezogenen Informationen, insofern der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Akteuren in der Finanzsphäre von vornherein impliziert, Informationen über die Fundamentaldaten der Unternehmen in aktuelle Preise zu übersetzen und damit die Unternehmen zu bestimmten Operationen zu veranlassen. (Ebd.: 51) Man geht allgemein davon aus, dass im Fall einer ausreichenden Markteffizienz eines Unternehmens dessen Aktienkurse die Dynamik der Mehrwertabschöpfung gemäß den Fundamentaldaten des Unternehmens korrekt ausdrücken. Ein Unternehmen, dessen Fundamentaldaten jedoch auf eine ungenügende Verwertung hinweisen, wird an den Finanzmärkten schnell das »Vertrauen« der Investoren/Spekulanten verlieren, was zu einer Reduktion der Marktkapitalisierung des Unternehmens führen kann. Für die klassische Finance besitzt diese Art der Korrektur die Funktion, kapitalistische Investoren, die nach wie vor bereit sind, in das Unternehmen zu investieren, für die Affirmation eines erhöhten Risikos, das den verschlechterten ökonomischen Perspektiven des Unternehmens entspricht, umgehend mit höheren Risikoaufschlägen zu entschädigen. Das Unternehmen muss deshalb mit schwierigeren Finanzierungsmöglichkeiten an den Finanzmärkten rechnen.

Die permanente »Kontrolle« der Unternehmen durch das finanzielle Kapital beinhaltet ihre molekulare Interpretation und Bewertung auf betriebswirtschaftlicher Ebene, und dies geschieht systematisch durch die performative Gestaltung bzw. den Einsatz mathematischer und stochastischer Modelle, die darauf abzielen Operationen und Verfahren, die innerhalb der Produktionsprozesse des Unternehmens eingesetzt werden, zu evaluieren und zu bewerten, um daran anschließend spezifische Strategien, die der Profitmaximierung dienen, auszuarbeiten. Diese Art der Operationalisierung wird durch den Einsatz einer Vielzahl von Instrumenten (Algorithmen, Matheme und Modelle) ganz praktisch durchgeführt. Wenn ein großes Unternehmen hinsichtlich seiner Finanzierung von den Finanzmärkten abhängig ist, dann erhöht jeder Verdacht einer inadäquaten Verwertung, selbst wenn er unbegründet sein mag, die Kosten der Finanzierung und reduziert damit den ökonomischen Handlungsspielraum, i.  e. er senkt die Aktien- und Anleihenkurse des Unternehmens. (Ebd.: 153) Auch die Arbeiter des Unternehmens sind solch ökonomischen Restriktionen ausgesetzt, sie stehen unter Umständen vor dem Dilemma, in den Tarifverhandlungen für sie ungünstigere Ergebnisse zu akzeptieren oder durch einen militanten Standpunkt das Unternehmen zur Insolvenz oder zur Übernahme zu nötigen (Transfer des Kapitals in andere Anlagesphären und/oder Länder). Die letztere Option ist für die Arbeiter fast immer mit einer gewaltsamen Restrukturierung ihrer eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen verbunden. Es geht für die Arbeiter also exakt darum, die »Gesetze« des Kapitals zu akzeptieren oder mit einer höheren Unsicherheit oder gar dem Absturz in die Arbeitslosigkeit zu (über)leben. Dieses Dilemma ist der Wirkung und Funktionsweise des fiktiven Kapitals durchaus immanent, denn dessen Effekte berühren schließlich die nicht nur die Organisation der Unternehmen, sondern auch die spezifischen Organisationsformen des kollektiven Arbeiters und last but not least die Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital. Die Finanzialisierung befördert also in Permanenz die Notwendigkeit zur Umstrukturierung der kapitalistischen Produktionsprozesse, und infolgedessen gibt es heute längere Arbeitszeiten, höhere Arbeitsintensivierung und mehr Entlassungen zu verzeichnen, während die Forderungen der Arbeiter nach realen Lohnerhöhungen kontinuierlich still gestellt werden, was natürlich auch auf die Fragmentarisierung der Arbeiterklasse und generell auf das Phänomen einer transversalen Prekarisierung zurückzuführen ist. Diese Entwicklungen setzen einerseits die steigende Macht der kapitalistischen Klasse insgesamt voraus, andererseits die Möglichkeit der Ausschöpfung des flexiblen Instrumentariums der modernen Finance, um jedes inadäquat verwertende Kapital zu liquidieren (Schließung von Unternehmen) und gleichzeitig zur effektiveren Ökonomisierung des konstanten und variablen Kapitals beizutragen.

Mariana Mazzucato hat an dieser Stelle eingewandt, dass die Unternehmen mit ihren Praktiken wie Aktienrückkäufen, die dazu dienen, die Kurse des Unternehmens zu erhöhen, die Forschung und Innovation eher blockierten als förderten. So habe der Pharmakonzern Pfizer im Jahr 2011 90% seines Nettogewinns in Aktienrückkäufe »investiert«, was ca 99% seiner Ausgaben für Forschung und Entwicklung entspreche. (Mazzucato: 2013: 41) Zudem würden sich solche Unternehmen als Trittbrettfahrer erweisen, insofern sie über diverse Kanäle die Innovationswellen, die letzlich der Staat initiiert habe, konsequent anzapften. Für einzelne Unternehmen mag das zwar gelten, jedoch muss man immer auch die Rolle des finanziellen Kapitals bzw. der Finanzialisierung bezüglich des Kapitals als Gesamtkomplexion im Auge behalten. Das finanzielle Kapital hat sich heute von vorhergehender Wertproduktion weitgehend emanzipiert, insofern seine systematische Kalkulation und Bewertung auf zukünftige Verwertung abzielt, sodass eben auch neue »innovative Wachstumsindustrien« finanziert oder sogar regelrecht konstruiert werden, auch wenn der Staat nach wie vor einen nicht zu unterschätzenden Anteil von Geldsummen zur Grundlagenforschung zur Verfügung stellt. So hoffte das Kapital im Vorfeld des Aktienbooms in den 1990er Jahren im damals neu entstehenden IT-Sektor über Jahrzehnte überdurchschnittliche Profitraten zu realisieren wären, oder man denke etwa an die Kapitalisierung der Biotechnologie und bestimmter Naturressourcen, an Genpatente, mit denen Teile des Naturerbes der Menschheit in Privateigentum überführt werden. Hier wird ein freies Gut kapitalisiert und das daraus entstehende Kapital wird zum Bezugspunkt der Kreation neuen fiktiven Kapitals, sobald Biotechnologie-Unternehmen eben Aktien ausgeben oder Kredite aufnehmen. Eine weitere Möglichkeit, steigende Profitraten zu realisieren, zeigt sich mit der Kreation des Immobilienbooms an, der von der Hoffnung auf immer weiter steigende Immobilienpreise angetrieben wird. Gegenwärtig übernehmen die Notenbanken eine wichtige Rolle bei der Neuproduktion des fiktiven Kapitals, wenn sie in großen Dimensionen Staatsanleihen aufkaufen und zugleich mit ihrer Negativzinspolitik frisches fiktives Kapital in die Geld- und Kapitalmärkte pumpen. Mit Hilfe der Niedrigzinspolitik der Notenbanken flossen seit der Finanzkrise im Jahr 2008 große Geldsummen auch in den Immobiliensektor. Weil die Naturressource Grund und Boden aber endlich ist, schlägt sich dies, vor allem in den Metropolen, in rapide steigenden Immobilienpreisen nieder.

Die Analyse der Finanzialisierung sollte man ganz und gar nicht auf das Einzelkapital beschränken, vielmehr muss man sie auf die Ebene des Gesamtkapitals (Tendenz zur Herstellung einer durchschnittlichen Profitrate) übertragen. Zudem sollten sämtliche Marktteilnehmer in die Analyse einbezogen werden, Unternehmen, private Haushalte und auch die Staaten, bei deren Bewertung und Kontrolle die moderne Finance die Durchsetzung der neoliberalen Form kapitalistischer Macht qua Austeritätspolitik einfordert: Es geht schließlich um die Implementierung der neoliberalen politischen Agenda in das gesamte gesellschaftliche Feld. Wenn heute souveräne Schuldner – Staaten – von der fiskalischen Disziplin, die ihnen von der neoliberalen Agenda aufgezwungen wird, abweichen, dann destabilisiert das ihre Position an den internationalen Geld- und Kapitalmärkten und sie verlieren schnell das »Vertrauen« des Kapitals und werden, wie derzeit Griechenland an vorderster Front, den restriktiven Maßnahmen einer Institution wie der Troika (EU-Kommission, EZB, IWF) ausgesetzt. (Sotiropoulos/Milios/Lapatsioras: 2013a:168) Die Aufforderung an die Regierungen, konsequente Austeritätspolitik zu betreiben, u. a. Budgetkürzungen, Sanierungen der Staatshaushalte und Privatisierungen vorzunehmen, impliziert, dass die Finanzmärkte jederzeit bereit sind, die jeweiligen Risiken der Finanzierung von Staaten neu einzupreisen, um so den Verlust ihres Vertrauens zu signalisieren, i. e. die Kreditkosten für die Staaten an den Geld- und Kapitalmärkten zu erhöhen.

An dieser Stelle nimmt das Autorenteam um Milios die Marx`sche Argumentationslinie zum fiktiven Kapital erneut auf, um sie am Beispiel der Finanzialisierung weiterzuentwickeln, ohne allerdings die wesentlichen Problematiken und Begriffskonstellationen der Marx`schen Analysen selbst aufzugeben. So wird dargestellt, dass Marx im dritten Band des Kapital das fiktive Kapital als die konkreteste Form des Kapitals bestimmt hat, das sich auf einem komplexen Niveau der Analyse folgendermaßen in einer Formel anschreiben lässt:

G – [ G – W – G′] – G′′ oder eben G – G′′. (Ebd.: 155)

Diese Formel, die für das fiktive Kapital steht, verweist für Milios auf die Form des Geldes als Kapital, und dies impliziert schlichtweg Kommodifizierung, i. e. Geld als Kapital nimmt in seiner entwickelsten konkreten Form die Form einer Ware sui generis an, die einen Preis besitzt: W – G. Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Marx mehrfach gegen Proudhon eingewandt habe, dass die Form des zinstragenden oder fiktiven Kapitals stets als eine Ware zu begreifen sei. (Ebd.) Nicht nur Naturressourcen wie Grund und Boden, sondern das Kapital selbst kann in der Gestalt des sich selbst verwertenden Geldes zur Ware werden. Dabei lässt sich das Geldkapital in den unterschiedlichsten Formen verkaufen, u. a. vermag ein Geldkapitalist, sein Geld gegen einen Eigentumstitel zu tauschen, gegen einen juristisch fixierten monetären Anspruch, der von ihm wiederum gehandelt werden kann. So wird beim »Handel« von Geldkapital dessen Gebrauchswert als potenzielles Kapital auf den Käufer übertragen und zugleich wird das Geldkapital vom Verkäufer genutzt. Dieser Handel nimmt die Form eines Vertrages an, wobei der Geldkapitalist sein Kapital an den Käufer überträgt, der das Geld produktiv einsetzt und sich zugleich verpflichtet, in Zukunft bestimmte Zahlungen an den Geldkapitalisten zu leisten. Man hat es hier mit einer Verdopplung des fiktiven Kapitals zu tun. Wir melden aber an dieser Stelle schon einmal Zweifel an der Bestimmung des fiktiven Kapitals oder der Derivate als Ware sui generis an, obwohl wir mit Milios durchaus darin übereinstimmen, dass es sich bei den Derivaten nicht um Geld handelt, da Derivate ja gerade in Geld getauscht und realisiert werden. Der Tausch der Ware gegen Geld ist für Marx, sieht man einmal von der speziellen Ware Arbeitskraft ab, ein Äquivalententausch. Um diese Art Tauschgeschäft handelt es sich beim Tausch von Derivaten gegen Geld gerade nicht, denn es soll ja mit der Realisierung der Derivate ein Gewinn erzielt werden. Deshalbi ist bezüglich der Derivate von einer neuen Form des spekulativen Geldkapitals zu sprechen. Doch schauen wir uns weiter den Gang der Argumentation bei Milios an.

Der Einsatz von fiktivem Kapital generiert die Erwartung (E1) von zukünftigen Einkommens- und Gewinnströmen (Dt+1,Dt+2,Dt+3 . . .), die kontinuierlich zum Eigentümer des Geldkapitals zurückfließen sollen. Im Fall der Anlage D (aus vereinfachenden Gründen nimmt man an, dass es einen Rückfluss von Geldströmen mit einer konstanten Zinsrate bis hin zu (R10) gibt – einer Zinsrate, die alle involvierten Risiken berücksichtigt) lässt sich die Kapitalisierung bzw. der Preis von zu erwartenden, zukünftigen Einkommensströmen gemäß folgender Gleichung anschreiben: (Ebd.: 140)

Kapitalisierung inkludiert im Zuge der Fixierung des Preises (Pt) die Berechnung des erwarteten Werts von zukünftigen Rendite- bzw. Einkommensströmen. Dabei soll die fluktuierende Liquidität an den Finanzmärkten rein der Vermehrung des Geldkapitals dienen. Für die marxistische Interpretation der obigen Formel gibt es jedoch zwei Probleme zu berücksichtigen: Zum Ersten inkludiert die Materialität der Preisbildung je schon die komplexe Artikulation von sozialen Machtbeziehungen, welche die Verwertung des Geldkapitals mitorganisieren und reproduzieren. Zum Zweiten lässt sich die Struktur der monetären Verwertung (Kapitalisierung) von der »Realökonomie« überhaupt nicht trennen, und man kann heute davon ausgehen, dass das finanzielle Kapital als dominante Form des Kapitals ihr wichtigstes Instrumentarium in den Derivaten besitzt und exakt mit deren Handel die »Realökonomie« dominiert und kontrolliert. Hier gilt es, die gegenseitige Übersetzung der Dynamik zwischen kapitalistischen Machtbeziehungen und der Preisbildung, welche in den Größen Et[Dt+i] und (R) angezeigt ist, als essenziell zu verstehen, wenn es um die Prozesse der Finanzialisierung geht. (Ebd.: 141)

An dieser Stelle führt das Autorenteam um Milios die Begriffe »Risiko« und »Gouvernementalität« ein, mit deren Analyse die Derivate nicht nur als neue Geldkapitalform, sondern auch als eine Technologie der Macht, die äußerst effizient die Reproduktion der kapitalistischen Machtbeziehungen insgesamt sichert, verstanden werden. In Rekurs auf Foucaults Gouvernementalitätsstudien (Foucault: 2004b) beschreibt das Autorenteam um Milios die Prozesse der Finanzialisierung als Technologien der Macht, die es ermöglichen, die ökonomischen, politischen und sozialen Machtbeziehungen repräsentational zu artikulieren. (Sotiropoulos/Milios/Lapatsioras 2013a: 155ff.) Repräsentationen, die stets mit der Preisbildung der finanziellen Instrumente konnotiert sind, sind als aktive Entitäten, die innerhalb der Machtrelationen wirken, zu verstehen. Bei den Derivaten geht es also nicht ausschließlich um die Vermehrung des Geldkapitals, sondern auch um die repräsentative Reproduktion der kapitalistischen Machtbeziehungen, und dies bezogen auf den jeweiligen Modus der finanziellen Operation. Dies gilt es jetzt anhand der Problematik der Risikoproduktion aufzuzeigen.

Die moderne Finance operationalisiert die Kapitalisierung der in Derivaten oder synthetischen Wertpapieren kondensierten, zukünftig erwarteten Rendite- und Einkommensströme, egal ob diese Renditen oder Einkommen nun aus der Extraktion von Mehrwert durch private Unternehmen, der Besteuerung durch den Staat oder der Subtraktion von Lohnanteilen stammen. (Ebd.: 179) Diese Art der Kapitalisierung bedeutet auch, dass der Klassenkampf und die ihn inhärierenden Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und Klassenfraktionen mit der monetären Quantifizierung verbunden sind, die wiederum zur Repräsentation kapitalistischer Realität in Beziehung zu setzen ist. (Ebd.: 156) Die singulären finanziellen Ereignisse, die in den sozio-ökonomischen Strukturen anwesend sind, werden an den Finanzmärkten mit Hilfe von wissenschaftlichen Diskursen, Charts, Modellen etc. interpretiert und daraufhin in quantitative Zeichen konvertiert (Warenpreise). Sind die ökonomischen Ereignisse erst einmal in die Semiotik/Linguistik der Finanzmärkte übersetzt, dann ist darin die spezifische Gestaltung des ökonomischen Risikos eingeschlossen. Sowohl das Konzept des fiktiven Kapitals, das Marx im dritten Band des Kapital in Bruchstücken entwickelt hat, als auch die Praktiken der gegenwärtigen Kapitalisierung schreien für Milios förmlich nach einer ausgefeilten Analyse des Risikobegriffs. (Ebd.: 155ff.) Dabei gilt es stets zu berücksichtigen, dass der »Wert« einer finanziellen Anlage (der Wert des Geldkapitals) dem kapitalistischen Produktionsprozess nicht nachgeordnet ist, sondern ihm logisch vorausgeht, i. e. er existiert nicht, weil entweder bereits Mehrwert produziert oder eine andere Art des Einkommens oder des Vermögens an den Märkten realisiert wurde, sondern weil das finanzielle Kapital bis zu einem gewissem Maße zuversichtlich ist, dass die Realisierung von Renditen im Zuge der Produktion/Zirkulation von Kapital in der Zukunft stattfinden und sich nach den Maßstäben der erweiterten Reproduktion auch wiederholen wird. Dafür werden die permanente Kalkulation, der Handel und die Realisierung von Derivaten, die auf der Kapitalisierung von zukünftigen Einkommensströmen und entsprechenden Renditen beruhen, benötigt, und dies verlangt eben nach einer spezifischen Konstruktion des (ökonomischen) Risikos.

Das Autorenteam um Milios transponiert die Risikoproblematik in den marxistischen Diskurs. Wenn man das Risiko im Rahmen der Anwendung der Statistik bzw. Stochastik ausschließlich als Ungewissheit über die Entwicklung der zukünftigen Volatilität (das Maß für die Fluktuation von Parametern wie etwa Aktienkursen, Zinsen etc. – gemeinhin wird Volatilität als die Standardabweichung der Veränderung des jeweils betrachteten Parameters definiert) beschreibt, dann berücksichtigt man nicht, was die objektiven Mechanismen der Kapitalisierung und die ihnen entsprechenden Praktiken der verschiedenen Marktteilnehmer an den Finanzmärkten wirklich anzeigen. Es gibt zahllose Forschungsabteilungen in den verschiedenen Finanzinstitutionen, die die zukünftigen Trends von globalen Preisbewegungen der Derivate einzuschätzen und zu bewerten versuchen, indem sie Fundamentaldaten der Unternehmen sammeln und klassifizieren, die jeweils zu ihren mathematischen Modellen »passen«, und dies basiert auf dem Einsatz der Statistik bzw. Stochastik, um letztendlich mögliche Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von ökonomischen Ereignissen prognostizieren zu können.

Risiko ist zunächst als ein sozio-ökonomischer Begriff zu verstehen, der dazu dient, das Potenzial zukünftiger ökonomischer Ereignisse zu interpretieren und zu bewerten, um daraufhin die Chancen, dass ganz bestimmte – profitbringende Ereignisse auch eintreten, zu erhöhen. (Ebd.:157f.) Und das Risikomanagement impliziert den Versuch des finanziellen Kapitals inklusive der ihm angeschlossenen Diskurssysteme, Meinungsindustrien und Forschungsabteilungen, zukünftige ökonomische Ereignisse und Trends zu antizipieren; Ereignisse, die man mit Hilfe der Modelle der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung, die dem ökonomischen Mathem zuzurechnen sind, kontinuierlich ausformuliert. (Ebd.: 161) Kapitalisierung, eine Methode der Kalkulation des fiktiven und spekulativen Kapitals, beinhaltet also einen spezifischen Modus der Repräsentation und der Identifizierung, der Regulation und der Prognostik zukünftiger ökonomischer Ereignisse, die voneinander unterschieden werden müssen, um sie daraufhin als Risiken zu identifizieren bzw. zu objektivieren und schließlich als Derivate auch zu handeln. Es gibt keine Kapitalisierung ohne die Spezifizierung und ohne den Vergleich von Risiken, ohne dass man ökonomische Ereignisse im Kontext konkreter Risiken identifiziert, um diese dann zu objektivieren, das heißt, Risiken als Risiken (als abstraktes Risiko) adressiert und handelt. (Ebd. 175) Das Risiko ist sui generis in die Logik des Kapitals integriert.

Die Wirtschaftswissenschaften fassen das Risiko im Zuge der als Wahrscheinlichkeit ausdrückbaren Chance als ein Maß für das Vertrauen, den zukünftigen Preis eines Einkommensstroms auch realisieren zu können, wobei die statistische Varianz des Preises und der Renditen das Maß für das Vertrauen abgeben soll. (Ebd.: 157) Wertpapiere mit einer hohen Varianz (bezüglich der Renditen) sind als risikoreicher einzustufen als solche mit einer niedrigen Varianz. Wenn der Preis der Staatsanleihe A gegenüber dem Preis einer Aktie B nur halb so volatil ist, dann lässt sich dies folgendermaßen anschreiben: x· VjA= 2·VjB (V ist die Varianz; j bezieht sich auf individuelle, hypothetische Einschätzungen). (Ebd.) In dieser Gleichung, der sich die Finanzwissenschaften gewöhnlich bedienen, bleibt unberücksichtigt, dass die subjektiv antizipierte Varianz keinesfalls das abstrakte Risiko ausdrücken kann, das schließlich von allen Marktteilnehmern akzeptiert werden muss. Die subjektiven Erwartungen eines Marktteilnehmers j können mit folgender Formel angeschrieben werden: x· VjA= y· VjB =z· VjC= … (ebd.). Es fehlt hier offensichtlich ein Maß, das dazu dient, die verschiedenen Erwartungen der Marktteilnehmer zu homogenisieren, i. e. es kommt zu keinem Vergleich der verschiedenen konkreten Risiken (qua abstraktem Risiko), sodass ökonomische Objektivität und Relationalität, die das Kapital fordert, nicht zwingend hergestellt werden können. (Ebd.: 158)

Sämtliche Prozesse der Preisgestaltung der Derivate benötigen die Dimensionierung von konkreten und abstrakten Risiken. Dafür bedarf es eines spezifischen ökonomischen Raumes (finanzieller Märkte), an dem die verschiedenen Marktteilnehmer als Träger von Risiken ein bestimmtes Risikoprofil zugewiesen bekommen, das es ermöglicht, kontingente Forderungen zu verhandeln bzw. auszupreisen. (Ebd.: 168) Es handelt sich hier um Markt-Felder, in denen die konkreten Risiken gestaltet, formiert und in abstrakte Risiken, die den Vergleich konkreter Risiken qua Derivaten inhärieren, transformiert werden. Dabei »normalisiert« das finanzielle Kapital die Marktteilnehmer auf der Basis von Risiken; die Finanzmaschinen ermöglichen die Verteilung und Streuung der verschiedenen konkreten Risiken auf die Marktteilnehmer (die sich in heterogenen Marktpopulationen aufhalten und in Konkurrenzbeziehungen zueinander stehen) und die Bündelung der konkreten Risiken, die dann als singuläre Risiken einen einzigen Preis und einen einzigen Cashflow besitzen und damit auch als abstrakte Risiken als Derivate gehandelt werden können.

Wenn ausnahmslos alle Marktteilnehmer sich des Risikomanagements bedienen müssen, so unterliegen sie jedoch keineswegs der Subsumtion unter identische Risikokategorien (die konkreten Risikoereignisse müssen gerade deshalb einem Vergleich unterzogen werden), und selbst diejenigen, die sich in der Umgebung ähnlicher Risikoeinschätzungen und Risiken befinden, besitzen deshalb nicht dieselben Möglichkeiten zur Realisierung bestimmter Risiken. (Ebd.: 161) Wir haben es von vornherein mit einer spezifischen Formierung der verschiedenen Risikoprofile zu tun: der Antizipation, der Bewertung und dem Vergleich von möglichen finanziellen Ereignissen und den sich daraus ergebenden Chancen zur Realisierung des jeweils gewünschten Ereignisses im Kontext einer notwendigen Evaluation des jeweiligen Risikoträgers. (Ebd.)

Die Erstellung von Risikoprofilen lässt sich als ein Prozess der Normalisierung interpretieren, da durch die Attribution dieser Profile an bestimmte Marktteilnehmer diese voneinander unterschieden und zugleich miteinander verglichen werden, um sie bezüglich des Risikos machtkonform zu individualisieren. (Ebd.: 157ff.) Demzufolge haben wir es mit äußerst flexiblen Prozessen der Normalisierung zu tun, d. h. einer ganz spezifischen Art der Individualisierung im Kontext sozio-ökonomischer Machtrelationen, innerhalb derer ausnahmslos jeder Marktteilnehmer als ein Risikofaktor gilt, i. e. jeder Marktteilnehmer per se dem Risiko ausgesetzt ist, das ihn jeweils charakterisiert. (Ebd.: 161) Jedoch impliziert der Prozess der Risikozuteilung keineswegs die Affirmation einer invarianten Norm, welche die Marktteilnehmer von vornherein zu inkorporieren haben, sondern die Normalisierung ist als ein Spiel von »Differenzial-Normalitäten« (Foucault) zu verstehen, das in Relation zu fluiden ökonomischen Relationen steht, in denen die Marktteilnehmer sich befinden, wenn sie an den Finanzmärkten konkurrieren und mit dem Handel von Derivaten Profite realisieren wollen. Normalisierung qua statistischer Modelle erweist sich als differenziell und zugleich homogenisierend; sie inkludiert die permanente Evaluation von Informationen, das heißt variablen statistischen Erhebungen und situativ einsetzbaren Wahrscheinlichkeitsrechnungen, mit denen man Normalitäten berechnet.

Das Autorenteam um Milios bringt an dieser Stelle erneut Foucaults Gouvernementalitätsstudien ins Spiel. Es stellt sich an dieser Stelle mit Foucault die Frage, wie eine systemische Marktpopulation, die durch eine Vielfalt von Machtrelationen gekennzeichnet ist, durch die Klassifikations- und Regulationsmechanismen des finanziellen Kapitals in einen »Zustand« versetzt werden kann, mit dem die Kohäsion und Kontinuität objektiver und subjektiver wirtschaftlicher Verkehrsformen garantiert ist. Es geht weiterhin um die Frage, ob und wie das Konzept der Gouvernementalität hilfreich sein könnte, die Organisation und Operationalität der Finanzmärkte zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass in ihren Territorien differenzielle Machtrelationen in durchaus hierarchischen Formationen verstreut und verteilt sind. Um diese Frage zu beantworten, sollte man Milios zufolge einen spezifischen Typus der Normalisierung untersuchen, nämlich die Normalisierung auf der Basis von ökonomischen Risiken.

Man wendet sich der Analyse heterogener Marktpopulationen zu, deren normalisierende Regulation nicht nur auf die Unterscheidung, den Vergleich und die Individualisierung der Marktteilnehmer abzielt, sondern vor allem auch auf die Herstellung ganz spezifischer Populationen, die man als höherskalige »Agencies« erfasst. (Ebd.: 164) Die gegenwärtige finanzielle Gouvernementalität konzentriert sich auf die Kontrolle dieser Marktpopulationen, wobei man diese mittels ganz spezifischer Machttechnologien in die existierenden ökonomischen Machtrelationen integrieren will. Es handelt sich hier um kollektive Phänomene, die bis zu einem gewissen Grad als aleatorisch einzustufen sind, und die zugleich seriell, das heißt über bestimmte Zeitperioden hinweg, untersucht werden müssen. Diese kollektiven Phänomene – Machtrelationen und Machttechnologien – erfordern zwingend das ökonomische Mathem, Messungen und weitere Generalisierungen und Regulationen qua statistischer Methoden und Modelle.

Man kann also davon ausgehen, dass die Finanzmaschinen eine flexible Normalisierung auf der Basis von Risiken leisten, indem sie den verschiedenen Marktteilnehmern ganz spezifisch konzipierte Risikoprofile zuordnen. Es gilt also die Prozesse der Risikoproduktion in denjenigen virtuell-aktuellen Dynamiken zu erfassen, die im Rahmen der differenziellen Strukturen der finanziellen Ökonomie wirken. Wenn Unternehmen an die Finanzmärkte gehen, um dort Anleihen zu verkaufen oder Kreditverträge oder Versicherungen abzuschließen, dann müssen sie mit Risikoprofilen ausgestattet werden, deren Gliederung, Skalierung und Taxonomie davon abhängt, inwieweit sie nach Ansicht der maßgebenden Finanzunternehmen in einer kompetitiven ökonomischen Umgebung in der Lage sind, effektive Profitstrategien zu verfolgen. Komplementär dazu benötigt heute ein kapitalistischer Staat als souveräner Schuldner ein von Ratingagenturen produziertes Risikoprofil, das seine Fähigkeit artikuliert, die neoliberale Hegemonie qua Austeritätspolitik erfolgreich auszuüben, ohne dass es zum Ausbruch der von den herrschenden Kapitalfraktionen so gefürchteten Klassenauseinandersetzungen kommt. Und das Risikoprofil eines Lohnempfängers basiert auf seiner Fügsamkeit in Sachen Affirmation der kapitalkonform regulierten Arbeitsverhältnisse. Man sollte des Weiteren davon ausgehen, dass die Finanzunternehmen im Rahmen der Normalisierungsprozesse auf der Basis des Risikos nicht nur Risikoprofile differenziell ausstreuen, sondern zudem kontinuierlich Stresstests durchführen, die eine ganz bestimmte Pragmatik der Marktteilnehmer im Kontext der differenziellen Verteilung des Risikos auf Grundlage der monetären Kapitalisierung einfordern. Normalisierung als Risikoproduktion ist den Mechanismen der Finanzmärkte immanent und erfordert eine spezifische Technologie der Macht (Finanzialisierung), damit es zu einer halbwegs stabilen Organisation der kapitalistischen Machtrelationen kommt, und dies ganz im Sinne der ökonomischen und politischen Effizienzsteigerung von Unternehmen, Staaten und Haushalten. (Ebd.: 168) Als eine Technologie der Macht wirkt sich die Finanzialisierung direkt auf die Bilanzierung, die Finanzierung und die Kreditierung der Unternehmen aus. Risiken werden ständig neu generiert, das heißt gehandelt, diversifiziert und gebündelt bzw. verpackt. An dieser Stelle ist auch die Kapitalisierung der beiden Seiten der Unternehmensbilanzen zu verzeichnen: Es erfolgt sowohl die Securitization der Schuldenobligationen (Passiva) als auch die Securitization der Einkommen (Aktiva). (Ebd.: 227)

Wenn verschiedene Marktteilnehmer in die Mechanismen der Risikoproduktion integriert sind und damit bestimmte sozio-ökonomische Praktiken inkorporieren, die sie als Träger von Risikoprofilen individualisieren, dann werden sie auch gezwungen, ein spezifisches Risikomanagement zu betreiben, was einerseits die Versicherung oder das Hedgen gegen Risiken beinhaltet, andererseits die Möglichkeit offenhält, Risiken offensiv zu handeln, das heißt, spezifische Strategien auszuüben, welche die Effizienz der Projekte befördern, um das Ziel der Profitmaximierung weiter zu verfolgen, so wie es die sozio-ökonomischen Machtrelationen und Akkumulationsdynamiken auf der Ebene des Gesamtkapitals verlangen. (Ebd.: 169f.) Zusammen skizzieren diese beiden Momente des Risikomanagements eine komplexe Technologie der Macht. Generell impliziert die Risikokalkulation eine systemische Evaluation jedes einzelnen Marktteilnehmers, und zwar hinsichtlich der Effektivität seines jeweiligen Risikomanagements und der in es implementierten Ziele, i. e. jeder Marktteilnehmer lebt das Risiko als seine eigene Realität und ist zugleich in seiner Rolle als Risikonehmer be- und gefangen. Dieser Prozess birgt in sich die komplexen Konturen und Konstellationen einer Technologie der Macht. (Ebd.: 164) Und zur Ausgestaltung der Machttechnologien bedarf es wiederum eines Ensembles verschiedener sozialer Institutionen, Wissensanordnungen, analytischer Diskurse und Taktiken: Repräsentiert von Banken, Hedgefonds und Versicherungen mit ihren hochspezialisierten Forschungsabteilungen, Rating-Agenturen, Zeitschriften, Think Thanks etc.

Man kann die Implementierung der Finanzialisierung in die Kapitalakkumulation nicht verstehen, wenn man nicht die Struktur der Kommensurabilität untersucht, mit der die differenten konkreten Risiken überhaupt erst vergleich- und messbar werden. Die differenten Risikoprofile umfassen verschiedene konkrete Risiken, wobei zunächst die Wahrscheinlichkeiten der Realisierung dieser Risiken zu beachten sind, wobei mit dem Einsatz der Stochastik der Handel von Risiken heute überhaupt erst möglich erscheint. Wenn es jedoch keine Garantie dafür gäbe, dass die signifikant differenten Typen von konkreten Risiken mittels eines höchst differenziellen und zugleich allgemeinen »Maßes«, welches das ökonomische Mathem des Geldes supplementiert, miteinander verglichen werden könnten, dann ließe sich die Finanzialisierung weder als eine normalisierende Machttechnologie durchsetzen, noch ließe sich deren Funktionsweise im Rahmen des Kapitals als Gesamtkomplexion strukturell erfassen. Um die Normalisierung auf Basis des Risikos im Kontext der sozio-ökonomischen Machtbeziehungen zu konzeptualisieren, erscheint es also evident, dass verschiedene Typen des konkreten Risikos in eine singuläre Dimension transformiert werden müssen – in ein abstraktes Risiko, durch das Derivat verkörpert, wobei dieses in Geld gehandelt wird. (Ebd.: 178) So stellen die Derivate heute definitiv eine effektive Lösung dar, mit der die Kommensurabilität der konkreten Risiken gewährleistet ist. Die derivativen Instrumente, mit denen die Unternehmen ihre Risiken kapitalisieren, spielen eine ganz entscheidende Rolle für die Funktionsweisen der Finanzialisierung, sowohl hinsichtlich der Technologie der Macht als auch bezüglich der Vertiefung der monetären Kapitalisierung. (Ebd. 155ff.) Erst mit Hilfe der Derivate erscheint es möglich, differente Typen des konkreten Risikos zu vergleichen, und damit stabilisieren und verstärken die Derivate sowohl die Prozesse der Kapitalisierung als auch die Kontrollfunktionen der Finanzialisierung, indem mit ihnen eine homogenisierende und zugleich differenzierende Bewertung der verschiedene Aspekte der monetären Zirkulation des Kapitals möglich wird. Die Finanzialisierung ist damit auf keinen Fall als die wilde Bestie der Spekulation zu begreifen, sondern sie stellt eine notwendige Bedingung dar, damit die dominanten Kapitale ihre erweiterte Reproduktion qua Profitproduktion absichern können.

Der Aufstieg der Derivatmärkte bedeutet heute intensive Exploitation, wobei hinsichtlich der Profitmaximierungsstrategien der Unternehmen nicht nur auf die Steigerung der absoluten Profitsummen, sondern vor allem auf die Erhöhung der Profitraten abgestellt wird. Wenn Kapitalist A 1000 Euro investiert und 200 Euro Gewinn realisiert, und Kapitalist B investiert 100 Euro und realisiert 50 Euro Gewinn, dann ist es unter Umständen Kapitalist A, der vom Markt verschwindet, und eben nicht Kapitalist B. Kapitalist A hätte nämlich in den Produktionsprozess von Kapitalist B investieren und damit womöglich einen Profit von 500 Euro anstatt 200 Euro realisieren können, denn die Funktion der Finance besteht eben auch darin, solcherlei Aufteilungen, Transformationen und Verschiebungen von Investments mit einer hohen Fluidität zu ermöglichen, sodass es auf der makroökonomischen Ebene zur Bildung von durchschnittlichen Profitraten und zum ungleichgewichtigen Anstieg der Profitraten kommt (Extraprofite auf der mikroökonomischen Ebene). Es geht hier zudem um die Disponibilität von Zinsraten, wobei die Analyse des Verhältnisses von Profit- und Zinsrate anzeigt, warum unter Umständen dann doch keine Investitionen getätigt werden (auch aufgrund der in der marxistischen Theoriebildung diskutierten Problematik einer tendenziell fallenden Profitrate; siehe Kliman 2006, Roberts 2015, Shaikh 1992 etc.). Es gilt hier noch einmal festzuhalten, dass die moderne Finance weder eine Gefährdung des »Realkapitals« darstellt noch ausdrücklich eine allgemeine stukturelle Schwäche des Kapitals (tendenzieller Fall der allgemeinen Profitrate) symbolisiert, vielmehr setzt die Finance als eine spezifische Technologie der Macht (neben ihrer Funktion der Verwertung von Geldkapital) die »Gesetze« des Kapitals effektiver durch denn je, ja sie flexibilisiert die dem gegenwärtigen Kapital eigenen Axiomatiken und Regeln, wobei die Derivate als ein integrativer Teil der transversalen Kapitalakkumulation zu verstehen sind, welche die Einzelkapitale auf Grundlage der Risikoproduktion differenzieren, aber damit zugleich deren Verwertungsstrategien im Sinne der Effizienzsteigerung auch vergleichbar machen und wenn möglich effektivieren. Es kommt zur permanenten Mobilisierung der Einzelkapitale, wenn konkrete Risiken in einem singulären, abstrakten Risiko zusammengefasst werden und dieses dann als Derivat gehandelt wird, und zwar immer mit dem Zweck, die Profitabilität jedes einzelnen ökonomischen Investments zu realisieren.

Das Autorenteam um Milios erläutert die verschiedenen Momente der Finanzialisierung anhand eines Beispiels (ebd.: 170ff.): Ein Akteur A kauft ein Wertpapier S, das eine Reihe von konkreten ökonomischen Risiken beinhaltet, die eine wichtige Rolle in den weiteren Preisbildungsprozessen des Wertpapiers spielen. Dabei werden in diesem Beispiel die konkreten Risiken auf zwei Risiken reduziert: Zinsraten- und Ausfallrisiko. Akteur A tritt in eine Relation mit Akteur B, der einen US Treasury-Bond hält. Die beiden Akteure einigen sich darauf, ihre Wertpapiere auszutauschen. Akteur A überschreibt das Wertpapier mit all seinen künftigen Forderungen und Zahlungen, die in diesem involviert sind, und erhält dafür einen Long-Term-Bond mit derselben Laufzeit, innerhalb derer alle im US Treasury Bond involvierten Zahlungen stattfinden, womit Akteur B nun das Ausfallrisiko des Wertpapiers S übernimmt. Gleichzeitig kann Akteur A ein Zinsratenrisiko an einen Akteur C verkaufen, der als Halter eines US-Treasury-Bills ebenfalls ein Zinsratenrisiko verkaufen will. Bis zu den 1980er Jahren beruhte die Mehrheit der finanziellen Transaktionen, die an den Geldmärkten vollzogen wurden, auf dieser Art des Handels bzw. der Bilanzierung.

Im Zuge des unaufhörlichen globalen Aufstiegs der derivativen Finanzmärkte wurde jedoch der Derivathandel von dieser Art des Austauschs entkoppelt: Um bei dem obigen Beispiel zu bleiben (ebd.: 171): Es gelingt nun den drei Marktteilnehmern, weitere Risikopotenziale zu absorbieren, indem sie die auf ihre Wertpapiere künftig anfallenden Einkommensströme austauschen. Anstatt also die Eigentumstitel selbst auszutauschen, gehen die Akteure nun weitere Risiken ein, indem sie die künftigen Einkommensströme, welche diese Papiere vorwegnehmen, austauschen und gegeneinander verrechnen. Akteur A hält nun weiterhin das Wertpapier S, aber er tauscht die auf es bezogenen, künftigen Cashflows mit denjenigen Cashflows aus, die einer Sequenz von künftigen Zahlungsströmem der Treasury Bonds und Bills entsprechen. Akteur A ist der einzige, der das Wertpapier S hält, und die Akteure B und C tragen isoliert das jeweilige Ausfall- und Zinsratenrisiko. Während der Akteur B beim Ausfall des Wertpapiers das Risiko trägt, muss der Akteur C bei einer Erhöhung der kurzfristigen Zinsrate mit Verlusten rechnen. Diese Art der Übereinkunft impliziert den Abschluss eines CDS (credit default swap) und eines IRS (interest rate swap).

Mit den Derivaten können konkrete Risiken, beim obigen Beispiel das Ausfall- und Zinsratenrisiko, aus dem ursprünglichen Wertpapier ausgelagert und daraufhin auch geschnitten, gebündelt, transferiert und quasi-autonom, das heißt unabhängig von der Preisbewegung der Basiswerte, gehandelt werden. Dieses »repacking« von konkreten Risiken inkludiert die Preisbildungsprozesse und den Handel von abstrakten Risiken. Obgleich man das Zinsraten- und Ausfallrisiko als Bündelungen diverser konkreter Risikokomponenten ansehen kann, erscheint es hier sinnvoll, diese Risiken als eine spezifische derivative Form zu begreifen, insofern sie aktuell zu einem komplexen Bündel von bestimmten Operationen an den Märkten geschnürt werden. Somit sind CDS und IRS als eine Kondensierung bzw. Bündelung von spot market-Transaktionen in ein einziges finanzielles Instrument aufzufassen. (Ebd.) Derivate können erst dann als Objektivierung eines abstrakten Risikos fungieren, wenn verschiedene Typen von Assets/Sicherheiten in einem einzigen Sicherheit zusammengefasst werden. (Ebd.) Diese (virtuelle) Realität als Wert ermöglicht den Vergleich von heterogenen, konkreten Risiken, oder, um es anders zu sagen, das Derivat verweist auf die Abstraktion von der Ungleichheit der konkreten Risiken, indem diese auf ein singuläres soziales Attribut reduziert werden: auf ein abstraktes Risiko. In diesem Kontext findet an den Finanzmärkten – also ökonomischen Räumen sui generis – die Bewertung der Einzelkapitale und die Beförderung von partikularen Formen der Finanzierung im Zuge der Durchsetzung von Profitmaximierungsstrategien statt. Und dabei haben die Derivate als notwendige multilineare »Instrumente« eines finanziellen Systems zu gelten, mit denen es zur Implementierung der Finanzialisierung in den Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals kommt, gerade indem die Derivate eine formgebende Perspektive auf die aktuellen konkreten Risiken werfen, sie kommensurabel machen und damit ihre Heterogenität auf eine einzige Singularität reduzieren.

Traditionelle marxistische oder heterodoxe Ökonomen behaupten jedoch nach wie vor, dass die Derivate nur als fatale Loslösung von der klassischen kapitalistischen Produktion zu verstehen seien. Letztendlich kommen diese Argumentationen immer wieder zur selben Schlussfolgerung: Die Entwicklung der Derivatindustrie sei definitiv mit einem Rückgang der Profitraten in der klassischen Produktion in Verbindung zu bringen, wobei der industrielle Sektor der Ökonomie in der Stagnation begriffen sei (tendenzieller Fall der Profitrate). Im Gegensatz dazu argumentiert Milios, dass die moderne Finance eine zwar partikulare, aber doch zugleich eine äußerst effektive Weise der Organisation kapitalistischer Realität (auf der Ebene des Einzel- und des Gesamtkapitals) darstelle, welche unter Umständen sogar zu einer Erhöhung der Profitraten führen könne; und dafür stellen die Derivate eben die entsprechenden intermediären Instrumente bereit.

Die Mechanismen der Kapitalisierung normalisieren die verschiedenen Marktteilnehmer an den Finanzmärkten auf der Basis von Risiken. Verschiedene konkrete Risiken sind mit verschiedenen Risikoprofilen assoziiert, die wiederum verschiedene Möglichkeiten der Realisierung der Risiken anzeigen. Zunächst kann der Prozess der Normalisierung qua Finanzialisierung so viele Versionen des Risikomanagements beinhalten wie es eben subjektive Erwartungen über die Entwicklung zukünftiger Einkommensströme gibt. (Ebd.: 174) Wir sollten uns deshalb an dieser Stelle noch einmal fragen: Kann es überhaupt so etwas wie eine Art allgemeiner Messung der konkreten Risiken geben, die mit verschiedenen (subjektiven) Risikoerwartungen gekoppelt sind? Kann es überhaupt zu einem Vergleich von verschiedenen konkreten Risiken auf Grundlage einer objektiven Messung kommen? Vorausgesetzt, es gibt eine Relation zwischen den Prozessen der Normalisierung auf Basis des Risikos und der allgemeinen Organisation sozio-ökonomischer Verwertungsprozesse und Machtrelationen des Kapitals, so erscheint es zunächst notwendig, verschiedene Typen von Risiken als singulär und monodimensional einzustufen, um sie dann in einer objektiven Art und Weise zu vergleichen. (Ebd.: 174) Gerade weil jede singuläre Risikostrategie im Rahmen der Ökonomie des Kapitals ein einziges Ziel verfolgt (monodimensionale Maximierung des Profits), gibt es stets auch Abweichungen (Risiken hier als »Anomalien« im Kontext der Normalisierungsprozeduren verstanden) und Verschiebungen der Strategien, die damit als heterogen und multipel in ihren Charakteristiken und Möglichkeiten aufzufassen sind. Erfolgt die Realisierung kapitalistischer Effizienz zunächst als ein mono-dimensionaler (profitorientierter) Prozess, so lässt sich dies jedoch nicht über die Risikobewertung der Marktteilnehmer an den Finanzmärkten aussagen: Hier gibt es verschiedene Kategorisierungen und subjektive Gesichtspunkte der Risiken, aber gerade deswegen muss der Prozess der Normalisierung auf der Basis von Risiken auf die Vergleichbarkeit der konkreten Risiken abstellen, ansonsten würde der finanzielle Reproduktionsprozess des Gesamtkapitals über kurz oder lang wohl auseinanderbrechen.

Hier kommen nun tatsächlich die Derivate ins Spiel, weil man mit ihrer Hilfe die differenten konkreten Risiken vergleichen und eine Art objektiver Messung in Gang setzen kann. Derivate tragen zur Auflösung der Multidimensionalität und Multisubjektivität der Risiken bei, die nun auf ein objektives Niveau reduziert werden, i. e. es wird ein »System« etabliert, das zu einer homogenen bzw. sozial fundierten Messung von differenten Risiken zumindest tendiert. Man nehme an, dass im Framework des CAPM-Modells der Term »Beta« eine quantifizierte Bewertung des Risikos jedes einzelnen Assets beinhaltet. Alle Assets mit einem gegebenen/identischen »Beta« können jetzt als perfekte Substitute unter dem Gesichtspunkt des Risikos betrachtet werden. Dies gilt jedoch nicht für jedes einzelne konkrete Risiko, das in eine Sicherheit involviert ist, denn die Vergleichbarkeit der verschiedenen Assets ist nicht gleich der Kommensuration der verschiedenen konkreten Risiken, da jedes einzelne Asset verschiedene Typen von konkreten Risiken inkorporiert. Der Vergleich der verschiedenen Risiken ist also nur mit Hilfe der Derivate möglich, die sich auf die Preisbewegungen der Assets beziehen. Selbst wenn man nun annehmen würde, dass das »Beta« eine adäquate Messung für jedes einzelne Risiko, das in einem Asset enthalten ist, ausdrücken könnte, wäre das noch nicht ausreichend, um die einzelnen konkreten Risiken zu vergleichen, weil »Beta« eine Kalkulation beinhaltet, die nicht von jedem Marktteilnehmer akzeptiert werden muss, während der monetäre »Wert« der Derivate, das heißt das Faktum, dass sie in Geld eingelöst werden können, doch so etwas wie eine »objektive« Messung garantiert, die von jedem Marktteilnehmer im Zuge seiner alltäglichen finanziellen Transaktionen anerkannt wird. (Ebd.: 243) Nur mit Hilfe der Derivate, deren Handel wiederum weitgehend unabhängig von den zugrunde liegenden Basiswerten erfolgt, werden heute die Prozesse der Preisbildung an den Finanzmärkten möglich. Und es gilt unbedingt festzuhalten, dass mit dem Handel von Derivaten das abstrakte Risiko je schon in Geld gemessen wird. Wie lässt sich dieser Prozess der Kapitalisierung qua Derivate nun auf die wichtigsten Aussagen der Marx´schen Kapitaltheorie beziehen?

Das Autorenteam um Milios führt wieder ein simples Beispiel vor (ebd.: 176f): Davon ausgehend, dass der swap als eine zentrale Form für alle finanziellen Derivate zu gelten hat, führt man einen fixed-for-floating-rate-swap ein. (Ebd.:175) Generell handelt es sich beim swap um einen Vertrag, der dazu dient, die zukünftigen Cash Flows von Assets, die auf Risiken basieren, auszutauschen. Man nimmt nun an, dass das Asset A die Staatsanleihe eines souveränen, entwickelten kapitalistischen Staates sei, die ein festverzinsliches Einkommen Ra garantiert, während B ein Darlehen sei, das ein kapitalistisches Unternehmen aufnimmt, und zwar mit einer flottierenden Zinsrate Rb. .Auf einem abstrakten Level bringt nun der fixed-for-floating-rate-swap in sich selbst den Vergleich zwischen zwei zukünftigen Geldströmen zum Ausdruck (zwei differente Renditeströme werden getauscht):

x ·Ra= y ·Rb (Ebd.: 176)

Diese Gleichung zeigt keineswegs den Tausch von zwei verschiedenen Warenarten an, sondern es werden zwei differente, auf die Zukunft bezogene Rendite- bzw. Einkommensströme ausgetauscht. Wobei es festzuhalten gilt, dass im Gegensatz zur von Marx entwickelten (einfachen) Wertform keiner der beiden Einkommensströme seinen Wert in einem anderen Wert ausdrückt, denn der Wertausdruck der Einkommensströme ist je schon etabliert, da die zukünftigen Einkommensstöme prinzipiell in Geld gemessen und getauscht werden. Von daher kann man keineswegs davon ausgehen, dass Derivate ähnlich einem aggregierten System verschiedene Währungen, Zinsraten oder differente Assets miteinander vergleichen, vielmehr ist dieser Vergleich durch das Geld je schon gesetzt. Es geht hier um eine ganz andere Art der Kommensuration: Die verschiedenen konkreten Risiken werden in ein abstraktes Risiko transformiert, das von den swaps inkorporiert wird, die an den Derivatmärkten einen Preis besitzen, der wiederum Teil ihrer Kapitalisierung ist.

Die zukünftigen Einkommensströme Ra und Rb sind also je schon auf monetärer Ebene kommensurabel. Wie muss man nun die sozio-ökonomischen Relationen verstehen, die notwendig sind, damit es zu einem quantitativen Vergleich der Rate x/y überhaupt kommen kann? Die beiden Einkommensströme lassen sich nur dann in Geld messen und austauschen, wenn die sozio-ökonomischen Relationen, nämlich die der staatlichen Governance im Fall A und die der privaten Surplusproduktion im Fall B, in einem gewissen Maße einheitlich, das heißt zur Zufriedenheit des finanziellen Kapitals repräsentiert werden, was eben eine Art Vergleich der Assets (neben ihrer Messung in Geld) erfordert. Die obige Gleichung basiert auf dieser fundamentalen Bedingung: Es werden Serien von Klassenkonflikten, welche je schon als Risiken identifiziert sind, dem Vergleich ausgesetzt, oder, um es anders zu sagen, der Vergleich der beiden zukünftigen Einkommensströme, die je schon in Geld realisiert werden, bedarf zusätzlich einer objektiven Repräsentation und Kommensuration des Universums der konkreten Risiken. In diesem Zusammenhang basiert die neue institutionelle Qualität des finanziellen Kapitals, die durch die Existenz der Derivate signifiziert wird, auf einer gegenüber dem klassischen Kapital wesentlich stärker integrierten, normalisierenden und raffinierten Art und Weise, wie ökonomische Ereignisse im Kontext der monetären Kapitalzirkulation verwertet, kontrolliert und repräsentiert werden. Konkrete, differente Risiken sowie die dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten tendieren dazu, der Bewertung und dem Vergleich ausgesetzt zu werden, i. e. sie erhalten mit der Form des abstrakten Risikos einen objektiven Status und fungieren weitgehend unabhängig von den subjektiven Einschätzungen der Marktteilnehmer. (Ebd.:177) Finanzialisierung und Derivatmärkte haben es im Gleichklang ermöglicht, dass objektive Bewertungen von finanziellen Anlagen und Assets stattfinden, und zwar als Generalisierung der Interpretation und der Beobachtung der kapitalistischen Realität unter dem Gesichtspunkt des Risikos. Wenn Derivate konkrete Risiken integrieren und damit abstrakte Risiken inkorporieren, dann kann man sie unter dem Gesichtspunkt des Vergleichs der konkreten Risiken und der Kapitalisierung des abstrakten Risikos erfassen. So verlangt die Kommensurabilität der differenten, konkreten Risiken zunächst nach einer Abstraktion von ihrem konkreten Charakter und ihre diesbezügliche Transformation in ein einziges abstraktes Risiko. (Ebd.) Aufgrund der Annahme eines fiktiven Austauschs lässt sich dann jedes partikulare Risiko als gleichwertig mit jedem anderen x-beliebigen Risiko betrachten, und infolgedessen kann man jedes Derivat, das an den Derivatmärkten gehandelt wird, entweder aus der Perspektive des konkreten oder aus der Sicht des abstrakten Risikos betrachten. (Ebd.)

Wir können das abstrakte Risiko als ein singuläres Risiko auffassen, insofern man es unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Vergleichs von konkreten Risiken und der Messung des Risikos als Risiko betrachtet, wobei das abstrakte Risiko qua Derivat je schon in Geld realisiert wird, und damit darf das Derivat als eine wichtige finanzielle Relation innerhalb der erweiterten Reproduktion des Kapitals und des Gefüges der kapitalistischen Macht gelten. Die Form des abstrakten Risikos bzw. seine Inkorporation als Derivat beinhaltet also das in Geld gemessene Risiko. (Ebd.: 178) Die Bedingungen für die Abstraktion der (virtuellen) Risikokomplexionen sind durch das Geld gegeben, was auch heißt, dass die Unterscheidung zwischen konkreten und abstrakten Risiken nicht die Existenz zweier Risiken, sondern die Anwesenheit von zwei untrennbaren Dimensionen von Risiken bedeutet, die in der Konstruktion und der Zirkulation von Derivaten impliziert sind. Dabei inhäriert das abstrakte Risiko eine vermittelnde Funktion und eine dementsprechende Dimensionierung der konkreten Risiken, wodurch diese überhaupt erst eine sozio-ökonomische Dimension annehmen können. Der Vergleich von kontingenten, differenten, konkreten Risiken setzt also eine Abstraktion von ihrem konkreten Charakter und ihre anschließende Modifikation in ein singuläres und zugleich quantitativ vergleichbares abstraktes Risiko voraus. Das abstrakte Risiko gilt damit als ein vermittelnder Faktor, der es ermöglicht, differente konkrete Risiken zu vereinheitlichen, das heißt, die Pluralität der heterogenen Typen von Risiken wird im Zuge ihrer Bündelung auf ein singuläres Niveau reduziert, indem man das abstrakte Risiko als Derivat tauscht.

x·IRS= y·CDS= z·[FXfuture] = . . . (ebd.: 178)

Es handelt sich bei den synthetischen Wertpapieren immer um eine partiell determinierte Aktualität (konkrete Risiken) sowie um eine virtuelle Struktur (abstraktes Risiko), deren radikale Determination allerdings nach wie vor das Geldkapital als differenzielle Bewegung betreibt. Die Möglichkeit zur virtualisierenden Abstraktion ist je schon durch das Geld gegeben, das in der Form des Geldkapitals wiederum in Virtualisierung-Aktualisierung-Verschaltungen eingebunden bleibt. In diesem Kontext wird das abstrakte Risiko qua Derivaten wie etwa die der COD oder CDS verkauft. So besitzt das synthetische CDO im Rahmen des synthetischen Tauschs das Potenzial zur Aggregation (Mischung, Verpackung und Bündelung) eines heterogenen Sets von Wertpapieren in einen einzigen homogenen Pool, der als ein singulärer Geldstrom und als ein abstraktes Risiko fungiert. Daraufhin lässt sich der homogene Pool wieder in verschiedene Klassen von Risiken und Geldströmen aufteilen, wodurch beide Komponenten sich in ihrer Qualität radikal verändern können (die neu entstehenden Risiko-Klassen werden als Tranchen bezeichnet, die man je nach Liquidität, Fälligkeit und Cashflow in verschiedenen Weisen neu arrangieren kann).

Milios versteht Derivate, wenn diese eine Reihe von bekannten konkreten Risiken in ganz spezifischer Weise inkorporieren und »abstraktifizieren«, als Kommodifizierung von Risiken. Er hält in diesem Kontext zwei Aspekte für wesentlich: Zum einen sollte man Derivate nicht als Geld, sondern als (fiktive) Waren kategorisieren, denn Derivate werden je schon in Geld getauscht. Derivate sind zudem als Instrumente zu verstehen, die einer spezifischen Form der Macht und der Organisation der Zirkulation des Kapitals dienen. Marx hat jedoch den Tausch zwischen Geld und Ware, sieht man von der speziellen »Ware« Arbeitskraft ab, als Äquivalententausch bestimmt. Um einen Äquivalententausch handelt es sich beim Tausch von Derivaten gegen Geld aber gerade nicht, sondern das Ziel des Tauschs besteht eindeutig in der Gewinnerzielung qua der Realisierung der Derivate in Geld. Wir sprechen deshalb von Derivaten als einer neuen Form des spekulativen Geldkapitals.2 Von spekulativem Geldkapital zu sprechen bedeutet, dass es als eine Form des Kapitals die Funktion der Umsetzung der Imperative des Kapitals im Allgemeinen bzw. als Gesamtkomplexion übernimmt, nämlich der Profitmaximierung, der differenziellen Kapitalakkumulation und der Steigerung der Produktivität qua Innovation dient. Hinzu kommt die Inkorporation einer Machttechnologie des Kapitals. Ähnlich äußert sich diesbezüglich auch Detlef Hartmann, selbst wenn er von einem von der FED gesteuerten Kredit-Tsunami ausgeht. Er schreibt: »Denn die kleinkarierten und kleinbürgerlichen Kritiker der Spekulation – einschließlich der Linken – vergessen meist, dass die Spekulation nicht nur Zockerei ist. Sie ist – etwa im Bereich des Vermögens- und Fondmanagements – ein wettbewerbsförmiges alltägliches kapitalistisches Prüfungsverfahren zur Ermittlung der geld- und realwirtschaftlich mittel- bis langfristig produktivsten und im Klassenkrieg erfolgreichsten Unternehmen.« (Hartmann 2015: 54)

Wenn Milios schreibt, dass Derivate innerhalb eines finanziellen Universums von partiellen Repräsentationen (solchen, die in den verschiedenen Typen von Portfolios involviert sind) als Duplikate der Kapitalrelation an der Profitproduktion partizipieren und diese Relation komplementieren, dann erscheint es eben gerade angezeigt, von den Derivaten nicht als Waren und auch nicht als Geld, sondern als einer spezifischen Kapitalform auszugehen.

Umd dies zu verdeutlichen, nimmt man an, dass die Sicherheiten A und B die Schulden zweier kapitalistischer Unternehmen beinhalten. Wenn dann ein swap auf einem abstrakten Level in sich selbst den Vergleich zwischen zukünftigen Geldströmen dieser Sicherheiten zum Ausdruck bringt, dann handelt es sich eben nicht um die Tauschwerte zweier Waren, die miteinander verglichen und der monetären Verwertung ausgesetzt werden, sondern um den Vergleich bzw. Tausch von zwei künftigen Geldkapitalströmen. Wenn man so konsequent ist, die Aktien oder Anleihen unter das fiktive Kapital zu subsumieren, dann muss man auch so konsequent sein, Derivate als fiktives bzw. spekulatives Kapital zu qualifizieren. Demzufolge sind Derivate als eine spezifische Form des Geldkapitals, als die aktuell oft profitabelste Form des spekulativen Geldkapitals strukturell zu erfassen und zugleich eben als wirkungsmächtige Funktionsweise, mit der man die Bedingungen, Strukturen und Trajektoren gegenwärtiger kapitalistischer Reproduktionsprozesse auf den Ebenen des Einzel- und des Gesamtkapitals effektiver denn je zuvor beobachten und gestallten kann, ohne dass es dazu kommt, dass krisenhafte Prozesse in der Kapitalökonomie längerfristig eliminiert werden können.

1 Das spekulative Geldkapital, dem, wie wir gesehen haben, verschiedene Kontingenzen eigen sind, benötigt unbedingt die Quantifizierung. Dies betrifft die eine Seite der Modulation, nämlich das ökonomische Mathem oder die Modularisierung aller Prozesse als Normierung, Zahl, Algorithmus, Messung und Rasterung qua Geld. Modularisierung inkludiert die metrische und rasternde Reterritorialisierung, man denke hier etwa an zelluläre Automaten und Module, an die Existenz der Standardmaße, von der industriellen Norm bis hin zum Geld. Es geht hier auch darum, die Zeit und den Raum in alle Richtungen immer kleinteiliger zu kerben, um immer kleinere Teile von ökonomischen Größen zu messen (man denke etwa an die Einführung des Dezimalzahlensystems an der Börse), i. e. die Maßstäbe endlos zu verkleinern – und dies interferiert mit der Deterritorialisierung, der maßlosen Inwertsetzung bzw. Vermehrung des Geldkapitals und der Glättung von Zeit und Raum. Modularisierung bleibt also stets auf die Dynamiken der Virtualisierung/Deterritorialisierung/Differanzialisierung des spekulativen Geldkapitals bezogen. Gerald Raunig spricht bezüglich des letzteren Aspekts von Modulierung, welche die fortwährende nicht-numerische Glättung aller möglichen Reterritorialisierungsversuche und deren raumzeitliche Realisierungen in Gang setze. (Raunig 2015: 185f.) Als solche ist die nicht-numerische Virtualisierung der Quantifizierung keineswegs unterworfen – das sieht Malik durchaus richtig, während er jedoch das Problem der Quantifizierung und Messung ständig unterbetont.

Was vermittelt nun aber die Diskursivität des Geldkapitals mit der Quantifizierung (Mathem der Ökonomie)? Was Raunig an dieser Stelle als Vermittlung bzw. Mediation bezeichnet, das hat sicherlich nichts mit der Einführung eines vermittelnden Dritten zu tun. Mit Medium ist stets Mittigkeit, Barre oder Differenz zwischen zwei Seiten gemeint, und eben nicht die eine oder andere Seite. (Vgl. Fuchs 2001: 151) Raunig spricht an dieser Stelle von der »Einelung« der Differenz, von einem Prozess bzw. einem Modus der Modulation, der sowohl die Modularisierung als ein rasterndes, standardisierendes, quantifizierendes Verfahren (Mathem der Ökonomie) als auch die Modulierung als permanente Neuformung und geschmeidige, nicht-numerische Variation von Formen (nicht-quantifizierbare Prozesse der Re-Formierung wie der De-Formierung) umfasst. Die Stratifizierung von Ebenen und Schichten und die Formierung von Modulen (Modularisierung) interferieren mit der Modulierung, der Deterritorialisierung, der maschinischen Indienstnahme und der differanziellen Preisbewegung. Zwar lassen sich Modularisierung und Modulierung analytisch trennen, greifen aber, wie Raunig sagt, als doppelte Modulation ineinander. Raunig spricht hinsichtlich des Verhältnisses von Modulierung und Modularisierung schließlich von qualitativer Angleichung als Voraussetzung der quantitativen Abstufung. Das indefinit Multiple kippt dann ins defintiv Messbare und diesen Kipp-Vorgang bezeichnet Raunig als mögliche Nahtstelle sozialen Verkehrs, der heute zum Ordnungsprinzip werde. (Raunig 2015: 185f.) Wir würden in laruellschen Termen hingegen sagen – und dies trifft in der Tat den Aspekt der Einelung der Differenz viel präziser – Modulierung und Modularisierung überlagern einander, und sie sind zugleich bezogen auf das Eine, die Modulation des Kapitals als Gesamtkomplexion in der letzten Instanz. Die Superposition von Modulierung und Modularisierung bleibt also auf die Modulation in der letzten Instanz bezogen. Superposition zeigt hier eine nicht-klassische Beziehung zwischen verschiedenen Möglichkeiten an. (Vgl. Barad 2015: 87). Sein und Werden bleiben unbestimmt – die Superposition lässt sich als solche nicht messen oder zählen und bleibt geisterhaft. In der postfeministischen Konzeption der Quantenmechanik von Karen Barad kommt es nicht nur zur Infragestellung des Weses der Zwei-heit, sondern auch der Ein-heit, und nicht nur das, sondern selbst Multiplizität und Sein sollen absolut dekonstruiert werden. Laruelle hingegen bindet die Superposition an das Eine-Reale (es ist keine Einheit, sondern Gelegentliches), das allerdings die Beziehungen der Superposition nicht über- , sondern unter-determiniert, in der letzten und eben nicht in der ersten Instanz. Der letzte Grund ist hier das Reale, das Gelegentliche. Das Reale sollte man aber nicht mit der Realität des Kapitals gleichsetzen und diese wiederum nicht mit dem Begriff des Kapitals. Die Beziehungen zwischen Modularisierung und Modulierung müssen definitiv auf die Quasi-Transzendentalität des Kapitals bezogen werden.

Das Verhältnis zwischen Modulierung und Modularisierung gilt es natürlich noch genauer zu bestimmen, das heißt die modulierenden kontingenten Prozesse sind zugleich als Möglichkeitsbedingungen des Quantifizierens und des Messens vorzuführen. Gleichzeitig ist zu bestimmen, wie die Kontingenz kapital-systemisch produziert und kontrolliert wird. Identifizierende Transformation des potenziell Verschiedenen ins potenziell Gleiche bedeutet hier, eine fraktale Rhythmik oder eine Polyphonie in eine vergleichbare Transzendenz des Kapitals zu pressen. Es bleibt deshalb auch zu bezweifeln, ob sich eine libertäre Derivatpolitik im Sinne Randy Martins konstruieren und praktizieren lässt, die einen hypertrophen Intersektionalismus, eine maximal heterogene Menge aller Formen von Differenz einfordert, ohne unbedingt die Spezifizität und Differenz aller Elemente der Menge berücksichtigen zu müssen. Vielleicht sollte man heute lieber von einer minimalen Heterogenität ausgehen, in der die Kommunen der Alterität nicht durch radikale Differenz, sondern durch radikale Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. Diese Art der Non-Ontologie der Differenz würde sich, wenn man sie in Termen der radikalen Gleichheit beschreibt, eher auf die axiomatische Erkundung der Insuffizienz der Identität als auf die Euphorisierung der Differenz berufen.

2Der von Randy Martin in seinem Buch Knowledge LTD angesprochene Aspekt, der besagt, dass Derivate verschiedene Kapitalformen und -sorten miteinander kommensurabel machen und einem äußerst flexiblen Maß unterstellen, unterstützt in gewisser Weise die These vom Derivat als einer Form des Geldkapitals. Martin schreibt: »Während das massenhafte Fließband all seine Inputs an einem Platz versammelte, um eine straff integrierte Ware zu erzeugen, die mehr war als die Summe ihrer Teile, spulte das financial engineering diesen Prozess verkehrt ab, indem es eine Ware in ihre konstituierenden und veränderlichen Elemente zerlegte und diese Attribute zerstreute, um sie zusammen mit den Elementen anderer Waren zu bündeln, die für einen global orientierten Markt für risikogesteuerten Austausch interessant sind. Alle diese beweglichen Teile werden mit ihrem Risiko-Attribut wieder zusammengesetzt, sodass sie als Derivat mehr wert werden als ihre individuellen Waren.«(Martin 2015: 61; übersetzt von Gerald Raunig) Und weiter: »Während uns die Waren aber als Einheit des Reichtums erscheinen, die Teile in ein Ganzes abstrahieren kann, sind Derivate noch immer ein komplexerer Prozess, in dem Teile nicht mehr einheitlich sind, sondern ständig zerlegt und wieder gesammelt werden, wenn unterschiedliche Attribute gebündelt werden und ihr Wert die ganze Ökonomie übersteigt, unter die sie einst summiert worden waren. Größenverschiebungen vom Konkreten zum Abstrakten oder vom Lokalen zum Globalen sind nicht länger externe Maßstäbe der Äquivalenz, sondern im Inneren der Zirkulation der gebündelten Attribute, die Derivat-Transaktionen vervielfältigen und in Bewegung versetzen.« (Ebd.: 60; übersetzt von Gerald Raunig)

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