Katalonien: „Dies ist ein antifaschistischer Kampf, nicht nur ein Kampf um Unabhängigkeit“

Ein Interview mit zwei jungen Anhänger*innen der „katalanischen Bewegung“ über die jüngste Entwicklung. Das Interview entstand am 22. Oktober.

Juan: Mein Name ist Juan, ich bin 23 Jahre alt, ich studiere an der Universität und arbeite.

Sira: Mein Name ist Sira, ich bin Fotojournalistin und Photographin, und ich berichte über die aktuelle Mobilisierungen in Katalonien.

Wie habt Ihr an den letzten Demonstrationen teilgenommen? Wie habt Ihr sie wahrgenommen? Gibt es einen Strategiewechsel bei diesen Demonstrationen, einen Wechsel von Gewaltlosigkeit zum Ausüben von Gewalt?

Sira: Als Fotografin habe ich alle Demonstrationen der letzten 2,3 Jahre in diesem “katalanischen Prozess” – wie er sich selbst nennt – dokumentiert. Ich habe keinen klaren Strategiewechsel gesehen, denn in Wirklichkeit haben wir in den letzten Wochen einen Wendepunkt erlebt, den niemand so erwartet hat. Früher waren es gewaltfreie Demonstrationen. Nun, ich würde nicht sagen, dass es sich jetzt um gewalttätige Demonstrationen handelt, aber ich würde sagen, dass es eine Menschenmenge gibt, die vorher keinen Raum hatte, sich zu äußern, und die jetzt mit viel Wut auf die Straße geht. Die sich mit einer Strategie der populären Selbstverteidigung gegen Repressionen sowie mit anderen Arten von Demonstrationen äußert, die wahrscheinlich radikaler sind, so wie wir es bisher noch nie erlebt haben.

Organisieren sich die Menschen auch außerhalb von Demonstrationen, in Versammlungen, Kollektiven, in anderen Formen?

Juan: Ja, es gibt einige Organisationen wie “Demokratischer Tsunami”, “Republikanische Verteidigungskomitees (CDR’s)” oder Nachbarschaftsversammlungen, die eine wichtige Rolle spielen, aber viele Dinge, die auf der Straße passieren, entziehen sich ihnen. Viele Menschen hatten nie an politischen Veranstaltungen teilgenommen oder mitgekämpft, und jetzt sehen sie, dass sie auf die Straße gehen müssen, um etwas zu tun. Es gibt viele Gruppen von Jugendlichen, die einfach zusammen zur Universität gehen, zusammen arbeiten oder gemeinsam die Oberschule besuchen. Sie haben erkannt, dass, wenn sie sich gegenseitig helfen und Selbstverteidigung praktizieren, sie eher unversehrt davonkommen. Aber es gibt keine große Organisation, die die Dinge auf der Straße organisiert, es ist etwas eher spontanes, die Leute sehen, dass die Polizei unten auf der Straße Menschen angreift, sie fragen ihren Vater nach dem Motorradhelm, und sie gehen runter, um ihre Nachbarschaft und ihre Freunde zu verteidigen.

Sira: Wir können auch hinzufügen, dass es diese Woche das erste Mal nach zwei Jahren des “Katalanischen Prozesses” ist, dass wir in anderen spanischen Städten Solidarität mit Katalonien, wie z.B. in Madrid, Bilbao und auch an vielen anderen Orten gesehen haben. Die Menschen sind gegen das Urteil und gegen die Repression, die wir hier erlebt haben, auf die Straße gegangen, weil es eine sehr starke polizeiliche und juristische Repression gibt. Wir haben auch Pro-Unabhängigkeitsdemonstrationen gegen diese Repressionen erlebt, wo Menschen mit spanischen Flaggen, in Solidarität und Unterstützung für das katalanische Volk, teilgenommen haben. Auch wenn sie sich nicht durch die Pro-Unabhängigkeitsideologie repräsentiert fühlen, auch wenn sie damit nicht einverstanden sind oder sich schämen. Auf jeden Fall schämen sie sich für den spanischen Staat, so wie er es jetzt ist.

Juan : Das allgemeine Gefühl ist, dass wir Leute gesehen haben, die auf friedliche Weise ein Projekt vorgeschlagen und für 9 Jahre eingesperrt wurden. Wenn man sieht, dass man für ein Projekt, an das man glaubt, das man friedlich umzusetzen versucht, so viele Jahre im Gefängnis landet…

Die Menschen sind super verärgert, weil sie gesehen haben, dass es nicht geholfen hat, friedlich zu bleiben, obwohl sie von der Polizei geschlagen wurden. Dieses Urteil ist nur der Zündfunke. Dass Menschen ins Gefängnis gehen, weil sie eine Abstimmung vorgeschlagen haben, ist sehr beunruhigend…. Es ist sehr beunruhigend zu sehen, dass ich in einem „demokratischen Staat“ ein Referendum für illegal erklären kann. Ein Referendum ist der höchste Ausdruck der Demokratie. Es zu verbieten können oder eben auch nicht, ist nicht nachzuvollziehen.

Sira: Vom 14. bis 21. Oktober wurden 202 Personen in Barcelona oder Tarragona verhaftet, 104 dieser 202 Personen wurden vor Gericht gestellt, und bisher befinden sich somit 28 weitere politische Gefangene in Untersuchungshaft. Es gibt 7 Mitglieder der “CDRs” [s.o.,d.Ü], die bei „Anti-Terror-Einsätzen“ verhaftet wurden. Sie wurden wegen „Terrorismus“ verhaftet, und die Beweise, die sie gegen sie haben, können der Besitz eines Schnellkochtopfes, Chemikalien, die jeder zu Hause hat, Ausrüstung für traditionelle Dorffeste, pyrotechnische Ausrüstung, etc. sein.
Es ist offensichtlich, dass kein einziger von ihnen „Terrorist“ ist, aber sie werden sie für zwei Jahre in Haft behalten. So machen sie Menschen fertig, das ist die Strategie der Abnutzung, denn es ist offensichtlich, dass sie keine „Terroristen“ sind. Wir bauen hier keine Bomben für die Unabhängigkeit.

Ist die katalanische Regionalregierung ein Verbündeter oder Feind dieses Kampfes? Ich frage bewusst dichotom, ich schätze, es ist komplizierter als das?

Juan: Für mich ist die katalanische Regierung, die wir haben, ein Gegner, vor allem, weil sie versucht, die Menschen, die auf der Straße sind, zu demobilisieren und zu kriminalisieren. Weil es sehr einfach ist, von Ihrem Büro aus einen friedlicheren Kampf zu verlangen, aber wenn man an vorderster Front steht, ist diese Art von Selbstverteidigung keine Gewalt.
Uns Unabhängigkeitsanhängern wurde immer wieder gesagt, dass wir Schafe seien, dass wir korrupten Führern der Unabhängigkeitsbewegung folgten, etc..

Diese Woche haben alle „Unabhängigkeitspolitiker“ interveniert, und zwar um die Gewalt anzuprangern, doch die Menschen auf der Straße haben sie ignoriert. Wenn wir vorhin gesagt haben, dass wir ihnen wie Schafe gefolgt sein sollen, dann haben die Menschen diese Woche auch gegen sie gekämpft.

Vor zwei Tagen ist ein politischer Repräsentant aus Katalonien zu einer Demonstration gegangen und wurde aus der Demonstration rausgeschmissen. Denn theoretisch ist es eine „Unabhängigkeitspartei“, aber wenn sich die Menschen verteidigen, repräsentieren diese Politiker uns nicht mehr, sie werden zu Faschisten, etc. Und für mich ist es ein großer Schritt nach vorne, dass ich sagen konnte “außerhalb der Richtlinien der Verantwortung von aufeinanderfolgenden Parteien”. Die Leute fangen an zu tun, was sie wollen, Punkt.

Sira: Katalanische Polizisten sind Polizisten wie alle anderen. Sie observieren die Menschen, damit diese ihre Häuser nicht verlassen, sie gehorchen den politischen Interessen des Augenblicks, wie alle Polizisten. Es gibt viele Menschen, die für die Unabhängigkeit demonstrieren, die noch nie an einer Bewegung teilgenommen haben und die denken, dass diese katalanische Polizei ihre Polizei ist, dass sie sie verteidigen muss und sich daher von ihr geschützt fühlen. Es kommt aber eine Zeit, in der die katalanische Polizei wie eine Polizei agiert und ihre Arbeit tut, indem sie Pro-Unabhängigkeitsdemonstranten angreift, genau wie sie es bei Studentendemonstrationen, bei Demos für Wohnraum oder für soziale Rechte im Allgemeinen tut. All diese Menschen, die getäuscht wurden, weil sie dachten, die katalanische Polizei sei auf ihrer Seite, beginnen zu erkennen, dass ihre Polizei wie jede andere ist, d.h. wie die nationale Polizei oder irgendeine Sicherheitsbehörde. Es ist diese Enttäuschung, die die Menschen erleben, dass diese katalanische Polizei nicht dazu da ist, mich zu schützen, sondern über mich zu wachen. Diese Woche werden sich viele Menschen dieser Realität bewusst und wissen nun, wie die Dinge funktionieren.

Sira: Für mich ist die Unabhängigkeit ein Instrument, um mit dem Regime von 1978 und mit dem spanischen Staat zu brechen, nachdem Franco „uns verlassen“ hat, mit einem „demokratischen Übergang“, der nicht real war. Eine Unabhängigkeit, die mit dem spanischen Staat völlig bricht. Dann geht es für mich ein wenig weiter, es geht nicht nur um die Schaffung eines unabhängigen Kataloniens, es ist ein antifaschistischer Kampf, nicht nur ein Unabhängigkeitskampf. Es gibt Menschen, die einen unabhängigen Staat wollen, und es ist ihnen egal, was jenseits der Grenze zu Spanien passieren wird. Aber nun, ich weiß nicht.

Juan: Ich denke, wir müssen den Kontext des Landes, in dem wir leben, berücksichtigen. Hier herrschte von 1939 bis 1975 die Franco-Diktatur unter der Führung von Francisco Franco, und diese Diktatur endete mit dem Tod des Diktators. Der Übergang begann in der Folgezeit, und das wäre nach Ansicht der spanischen Sozialistischen Partei ein Grund zum Stolz. Aber es ist merkwürdig, dass ein so exemplarischer und angeblich friedlicher Übergang 541 Menschen aus politischen Gründen das Leben gekostet hat. Es ist merkwürdig, dass ein Land, das behauptet, demokratisch zu sein, das Land ist, das nach Kambodscha bis heute im Jahr 2019 die am meisten ungeöffneten Massengräber hat. Es gibt Menschen, die da sind, um eine Kultur zu verteidigen, eine Sprache, die sie nicht verlieren wollen, weil die Zentralregierung immer versucht hat, ganz Spanien zu standardisieren.

Es gibt Menschen, die aus sehr nationalistischen Gründen dort [auf „katalanischer Seite“, d.Ü] sind, das ist möglich, aber das ist nicht mein Ding. Und viele Menschen sind da, weil sie nicht Teil eines Staates sein wollen, der diese ganze Geschichte hat und immer noch Organisationen und politische Akteure hat, die durch den Post-Frankismus determiniert sind. Wie die Genossin sagt, ist dies eine Möglichkeit, sich von einem Staat zu lösen, der nicht mehr den Arbeitern in Madrid, dem Volk von Katalonien oder jemand anderem gehört.

Sira: Am vergangenen Mittwoch hat der Rat der Innenminister die Demonstranten dieser Woche mit einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren bedroht. Du sagst zu dir selbst: “Okay, weil ich mich verteidige, wird mir mit sechs Jahren Gefängnis gedroht. Und diejenigen, die (im Oktober 2017) “in ein Auto gestiegen sind”, um die Menschen aufzufordern, nach Hause zu gehen und die Politiker die Arbeit machen zu lassen, wurden zu 9 Jahren Gefängnis verurteilt. Wir werden offensichtlich verarscht. Bei diesem Szenario werden die Menschen unruhig, gehen auf die Straße und tun, was sie gerade tun.

Anmerkung: Dieses Interview erschien am 31. Oktober 2019 auf acta zone https://acta.zone/catalogne-cest-une-lutte-antifasciste-pas-seulement-independantiste/


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