(K)ein heißer Frühling in Frankreich

Nein, der Mai 2018 wird kein zweiter Mai 1968. Sicherlich werden viele jener Protagonisten, die sich mittlerweile den bestehenden Verhältnissen angedient haben, einen wehmütigen Blick auf die Sorbonne riskieren, bevor sie damit fortfahren, eben jenes System, das sie einst beseitigen wollten, noch etwas flexibler zu gestalten und mit einem höheren Grad an Resilienz gegenüber allen subversiven Bestrebungen zu versehen. Und vielleicht wird sogar der Eine oder die Andere sich auf ein gutes Gläschen Rotwein mit dem Herrn Präsidenten treffen.

Und nein, wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach keine bestreikten und blockierten Raffinerien erleben, es werden sich keine Autoschlangen an den Tankstellen bilden, es werden nicht Nacht für Nacht manifs sauvage (wilde Demos) durch die Pariser Innenstadt ziehen, von den Bullen nicht zu kontrollieren und auf ihrem Weg frische Parolen an den Wänden und zerstörte Schaufensterscheiben hinterlassend. Es werden nicht in ganz Frankreich Schulen blockiert und am frühen Morgen schon große Schülermobs durch die Provinzstädtchen joggen, die Bullen im Nacken und das Tränengas in den Augen. Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir auch kein zweites 2016 erleben, als die Bewegung gegen die „Reformierung“ der Arbeitsgesetzgebung Millionen auf die Straße brachte und das ganze in einer landesweiten Demo im Juni mit einer halben Million Menschen und den schwersten Ausschreitungen seit eben jenen Mai 1968 kulminierte (1) .

Trotzdem erleben wir dieser Tage Bemerkens- und Berichtenswertes in Frankreich.

Monsieur le Président, Absolvent des Pariser Elitegymnasium Lycée Henri IV und ehemals Mitglied der „Sozialistischen Partei“ hat sich aufgemacht, Frankreich im Kreise der großen Wirtschaftsmächte wieder den ihm vermeintlich zustehenden Rang zu verleihen. Schon als Wirtschaftsberater von Hollande war er eine zentrale Figur im neoliberalen Umbau, sorgte für eine Senkung der Abgaben der Großunternehmen, machte sich stark für weitere wirtschaftliche Liberalisierungen, wie z.B. die Privatisierung des Busfernverkehrs oder die Abschaffung der Schließzeiten von Geschäften an Sonn- und Feiertagen. Macrons Politik ging sogar irgendwann dem „linken Flügel der Sozialisten“ zu weit, sodass die Gesetzesänderungen, genauso wie die „Reform des loi travail (Arbeitsgesetzbuch)“ per Dekret durch gebracht werden mussten. Am Ende verlor dann Macron den Machtkampf innerhalb der PS, die sich zu diesem Zeitpunkt schon selber völlig als politische Kraft herunter gewirtschaftet hatte. (Hollande war am Ende seiner Amtszeit der am meisten mit Verachtung in der Bevölkerung gestrafte französische Präsident, was eine wahre Leistung darstellt, wenn man sich die Liste seiner Vorgänger vergegenwärtigt.)

Macron gründete also flugs eine eigene Sammlungsbewegung um als unabhängiger Kandidat zur nächsten Präsidentschaftswahl anzutreten, schaffte es (Oh Wunder) eine beträchtliche Summe von Spenden zu generieren und setzte sich schließlich in der Stichwahl gegen Marie Le Pen durch.

Nun also setzt er sein Werk, ungebremst durch eine „sozialistische“ Parteibasis, die zu mindestens Pfeiler des alten Sozialstaates erhalten will, mit voller Effizienz fort. Dabei gelingt ihm die Kunst, gesellschaftlich progressive Teile des Bürgertums ideologisch an sich zu binden, indem er in der politischen Klasse tabuisierte Themen, wie z.B. die Kriegsverbrechen der französischen Armee während des algerischen Unabhängigkeitskampfes, offen benennt.

Der wirkliche Ehrgeiz aber gilt seiner wirtschaftlichen Agenda. So will er die öffentlichen Ausgaben innerhalb von fünf Jahren um 60 Milliarden reduzieren, zu diesem Zweck sieht er u.a. massive Einsparungen im Gesundheitswesen sowie bei den Staatsbetrieben vor. Im Herbst 2017 wurde (gegen einen übersichtlich ausfallenden gesellschaftlichen Widerstand) eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch gesetzt, die u.a. den Kündigungsschutz lockert, die Höhe der Abfindungen begrenzt und in den Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten (die 95% aller Unternehmen ausmachen!) die Macht der Gewerkschaften massiv beschneidet.

Doch verlassen wir nun das Werk des Mannes, der Frankreich da hin führen will, wo Deutschland und Italien schon lange sind und wenden wir uns wieder seinem natürlichen Widersacher, dem französischen Frühling zu.

Als sich Anfang 2017 die ersten Bewegungsansätze gegen die geplanten, erneuten Umstrukturierungen formierten, konnte man sich nicht des Eindruckes erwehren, man strebe eine Wiederholung des ebenso fulminanten, wie erfolglosen Widerstandes gegen das loi travail an. Zu ähnlich klangen die Satzbausteine in den Aufrufen und Pamphleten, zu billig kopiert die einst relativ erfolgreichen Taktiken des „cortège de tête“, des „Kopfes der Demo“. Jenes Gebildes, das man hierzulande als schwarzen Block bezeichnet, das aber in Wahrheit viele heterogene Ziele und Sehnsüchte in sich vereint. So kam es wie es kommen musste, das Sequel zog nicht mehr die Masse an Leuten an, die sich noch für die Bewegung gegen das loi travail begeistern konnten. Die Gewerkschaften beschränkten sich weitgehend auf mäßig besuchte Aufmärsche, zu relevanten Arbeitsniederlegungen kam es nicht.

Aber so sicher, wie der letzte Winter in Frankreich grau und trostlos geriet, geraten musste, so sicher war auch davon auszugehen, dass diese Tage zu Ende gehen würden. Nun bliebe nur die Frage zu klären, ob wir dieser Tage den zweiten Aufguss von 2016 erleben dürfen, oder ob sich vielleicht doch die eine oder andere neue Irritation im Empire Gehör verschaffen wird. Es ist nicht zu viel verraten, wenn an dieser Stelle und zu dieser Zeit die Hoffnung besteht, dass sich etwas verändert hat. Sich kein allgemeiner Aufstand, ein großes Rauen, oder was auch immer ankündigt, aber sich etwas verändert hat. Die Lage nicht statisch ist. Nicht bleiben wird.

Fangen wir mit den Eisenbahner*innen an. Beim Staatskonzern SNCF sollen u.a. zahlreiche Stellen gestrichen, das Streckennetz um 9.000 KM reduziert werden. Der Organisierungsgrad unter den Beschäftigten der SNCF ist für französische Verhältnisse sehr hoch. Auch gibt es hier mit der SUD- Rail eine unabhängige, undogmatisch links orientierte Gewerkschaft, die viele Mitglieder hat. Trotzdem gelang es den Gewerkschaftsspitzen, vor allem denen der CGT, zu verhindern, das es zu spontanen, oder zeitlich unbefristeten Arbeitsniederlegungen kommt. Gestreikt wird in Intervallen, der Zeitplan wurde für die nächsten Monate vorab fest gelegt und öffentlich angekündigt. Ob dies dauerhaft von der Basis mit getragen wird, wird sich erst noch im Laufe der nächsten Wochen beweisen. Spannend aber ist vor allem die zunehmende Zusammenarbeit von Militanten der SUD – Rail mit Leuten aus anderen gesellschaftlichen Sektoren, die Widerstand gegen Macrons Politik organisieren.

Gab es schon 2016 Treffen zwischen Student*innen von besetzten Universitäten und Leuten von SUD Rail, so intensiviert sich die Zusammenarbeit derzeit deutlich. Auf den Versammlungen der Eisenbahner*innen sind mittlerweile regelmäßig Delegierte aus den Unis dabei, umgekehrt besuchen Streikende die Vollversammlungen in den Unis. Bei den beiden Pariser Demo an den Aktionstagen im Frühjahr liefen die Antagonist*innen wie selbstverständlich mit den Leuten von der Eisenbahn gemeinsam, eigentlich konnte man sogar erstmalig von einem gemeinsamen Block sprechen.

Ein weiteres Kampffeld sind derzeit die Universitäten. Die Regierung plant, die Zulassung in Zukunft anhand von Logarithmen durchzuführen. Der theoretisch freie Zugang zur Uni existiert auch derzeit nur auf dem Papier. Es fehlen Studienplätze in allen Bereichen, sodass jetzt schon häufig freie Plätze verlost werden. Der Behauptung der Regierung, die neue Regelung werde hier mehr Gerechtigkeit bringen, schenkt so gut wie niemand Glauben. Alle gehen davon aus, dass in Zukunft Kinder von Bessergestellten noch stärker als bisher bevorzugt werden. Aus diesem Grunde gibt es seit Wochen im ganzen Land Demos von Student*innen, zahlreiche Institute sind derzeit besetzt. Es kam zu etlichen Bulleneinsätze, so wurde z.B. die geschichtsträchtige Sorbonne von den Bullen geräumt, außerdem wurden in mehreren Städten die Besetzer*innen von bewaffneten Schlägertrupps der Faschisten angegriffen (2).

Nachdem die Regierung kürzlich angekündigt hatte, auf den Neubau eines Flughafens bei Nantes zu verzichten, hatte eigentlich niemand damit gerechnet, dass es kurz darauf zu einer massiven Bullenaktion gegen die Zone A Défendre (ZAD) Notre-Dame-des-Landes (NDDL) kommen würde. Seit vielen Jahren leben hier hunderte Menschen auf dem Terrain des ursprünglichen Baulandes für den neuen Flughafen, weitgehend autonom von staatlichen Strukturen. Es gibt innerhalb des Besetzer*innen – Milieu sehr unterschiedliche Flügel, teilweise wurde in der Vergangenheit gut zusammen gearbeitet, teilweise kam es aber auch zu heftigen Konflikten (3). Vielleicht zielte das staatliche Kalkül genau auf letzteres ab, als 2.500 Mann der Gendarmerie in Richtung ZAD in Bewegung gesetzt wurden. Unter dem Vorwand, „nur bestimmte Teile der illegal errichteten“ Infrastruktur zu zerstören und damit „wieder die Ordnung herstellen zu wollen“, begann der Angriff noch vor dem Morgengrauen des 9. April. Mit Räumpanzern, Wasserwerfern und Hubschraubern rückten die Bullen vor, hunderte von Tränengas– und Offensivgranaten wurden verschossen. Zuerst waren es nur einige hundert Leute, die dem auf unterschiedliche Art und Weise Widerstand entgegen setzten, aber schon ab dem zweiten Tag kamen immer mehr Menschen auf das umkämpfte Terrain. Teilweise stießen die Bullen auf gut organisierte Gruppen, die mit Steinen, Molotows und Katapulte die auf den Zufahrtswegen errichteten Barrikaden verteidigten, teilweise gab es auch eher einen „passiven“ Widerstand von Leuten, die Ketten bildeten, Dächer der Gebäude besetzten, die nieder gerissen werden sollten oder die Bullen immer wieder einfach mit Matsch und Lehmklumpen bewarfen.

Letztendlich lief das politische Kalkül der Staates ins Leere. Die Bewegung von NDDL wurde unter dem Druck des staatlichen Angriffes wieder zusammen geschweißt, es gab keine gegenseitigen Distanzierungen. Die Zerstörung der Infrastruktur gelang nur zum Teil, an dem Wochenende des 14./15. April beteiligten sich über 5.000 Menschen an einer landesweiten Demo in Nantes am Samstag. Zehntausend strömten am Sonntag auf die ZAD, um bei dem Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu helfen. Die Bullen verkündeten letztendlich nach einer Woche heftiger Kämpfe das Ende des Polizeieinsatzes und zogen sich vorübergehend wieder zurück. Seitdem kommt es trotzdem immer wieder zu Zusammenstößen, allerdings auf wesentlich niedrigen Niveau.

Der Kampf um die ZAD bringt aus meiner Sicht den Stand der Entwicklung in Frankreich exemplarisch auf den Punkt.

  • Auf der einen Seite sehen wir hier das antagonistische Milieu gut abgebildet. Zahlenmäßig nicht besonders umfangreich, aber gut organisiert und mit der Erfahrung der zahlreichen Zusammenstöße mit der Staatsmacht in den letzten Jahren. Nur so war es möglich, einen zahlenmäßig und technisch weit überlegenen Gegner immer wieder aufzuhalten und zu taktischen Rückzügen zu zwingen. Politisch dabei aber offen gegenüber anderen Sektionen des Widerstandes zu bleiben.

  • Zahlenmäßig war die Mobilisierung insgesamt überschaubar. Zwar gab es landesweit Solidaritätsaktionen, aber insgesamt beteiligten sich daran nur einige tausend Menschen. Zehntausend Menschen am Sonntag auf dem Gelände der ZAD sind zwar viele, allerdings haben sich bei Protestaktionen dort in jüngster Vergangenheit auch schon weit größere Menschenmengen versammelt.

  • Die vielbeschworene convergence des luttes, in Deutschland würde man „das Zusammenkommen der Kämpfe“ sagen, gelingt, in kleinem Rahmen, besser als noch 2016. Auf der Demo am Samstag in Nantes wurde das nicht nur auf den Fronttransparenten verkündet, es gab auch einen ziemlich durchmischten Block von verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, die sich gerade an Kämpfen beteiligen, der sich auch auf unterschiedliche Art und Weise den Bullen entgegen gestellt hat. Im Übrigen war diese Entwicklung auch schon im letzten Jahr in Nantes ansatzweise sichtbar, als Ordnungsdienst der CGT und Antagonisten erstmalig gemeinsame Sache gegen die Bullen gemacht haben.

Es wäre vermessen zu behaupten, den Gang der Entwicklung der nächsten Monate voraussagen zu können. Ich hoffe, diesen fragmentarischen Anmerkungen gelingt es trotzdem sowohl das Potenzial als auch die Begrenzungen der derzeitigen Entwicklung in Frankreich aufzuzeigen. Was weiter passieren wird, bleibt letztendlich immer unberechenbar, manchmal passieren ja auch einfach völlig unerwartete Dinge. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die seit drei Nächten anhaltenden Unruhen in den Vororten von Toulouse hinweisen, nachdem ein von dort stammender Häftling unter bisher ungeklärten Umständen tot in seiner Zelle aufgefunden wurde. In den Banlieues Frankreichs gärt es in den letzten Jahren wie schon lange nicht mehr. Alle Reaktionen auf rassistische Gewalt der staatlichen Institutionen erschöpften sich aber in letzter Zeit in örtlich begrenzten Unruhen. Aber ob dies so bleiben wird, weiß niemand.

So, oder so. Es gibt eine Einladung von Gefährt*innen aus Frankreich, im Mai nach Paris zu kommen. (4) Eine Gelegenheit, sich kennen zu lernen, sich zu finden, vielleicht sogar zusammen zu kämpfen.

Sebastian Lotzer, 18.04.2018

Von Sebastian Lotzer erschien im März 2018 „Winter Is Coming – Soziale Kämpfe und Unruhen in Frankreich“ über die Entwicklung von März 2016 – März 2017. Erschienen bei Bahoe Books, Wien

(1) https://www.youtube.com/watch?v=gHvjQBEd2gU

(2) https://www.youtube.com/watch?v=lzSEg15QSzY

(3) https://de.indymedia.org/node/19966

(4) https://www.lespaves.net/1968-2018-von-einem-wilden-mai-zum-anderen-treffen-wir-uns-am-1-mai-in-paris/?lang=de

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