Kojin Karatani und die historotranszendentale Logik des Kapitals

Marx hat, wenn man dem japanischen Philosophen Kojin Karatani folgen will, das Problem der Wertform und des Werts im Zuge der theoretischen Bearbeitung der Antinomie von intrinsischem Wert und Wertrelativismus gestellt. (Vgl. Karatani 2003) Für Marx bot sich diese Problematik im Hinblick auf die verschiedenen Strömungen der bürgerlichen politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts folgendermaßen dar: Einerseits gab es die politische Ökonomie eines Ricardo, die rein auf einer intrinsischen Arbeitswerttheorie basiert und als deren Erbe gemeinhin Marx gilt. Andererseits wurde Marx schon früh mit den Positionen eines Samuel Bailey konfrontiert, der Ricardo im Jahr 1825 schärfstens dafür kritisierte, die Arbeit bzw. die Arbeitszeit fälschlicherweise als Substanz des Werts begriffen und sie damit zu einer intrinsischen Eigenschaft von Dingen gemacht zu haben. (MEGA II/3.4: 1319). Bailey argumentierte nämlich dahingehend, dass der Wert ein ausschließlich relationales Phänomen sei, heute würden wir sagen, dass der Wert nur als sog. Marker existiert, der anzeigt, wie Waren aufeinander bezogen und (in Geld) konvertierbar sind, um schließlich ausgetauscht zu werden. Während für Ricardo der Wert ganz einfach die Arbeit misst, die in den Waren vergegenständlicht ist, besitzt für Bailey der Wert eine rein relationale Implikation, wobei Bailey dem Geld als Medium/Form, in dem diese Relationen sich darstellen, kaum Beachtung schenkt – d. h., Bailey vergisst einfach das simple Faktum, dass Waren in größerem Stil historisch niemals direkt gegeneinander ausgetauscht wurden, etwa im Rahmen einer einfachen Warenproduktion, die im Anschluss an Engels viele Marxisten bis heute noch als eine realhistorische Etappe konzipieren. Im Falle von Bailey kommt nun noch erschwerend hinzu – vorausgesetzt man erfasst den Wert ausschließlich als Relation der Waren zueinander –, dass das System der Wertrelationen durch die Veränderung eines einzigen Postens beträchtlich affiziert werden könnte. Und es sieht so aus, als müsste Bailey zur Stützung seines synchronen Systems das Geld als ein Nullzeichen oder als abwesendes Zentrum aus rein taktischen Gründen doch wieder einführen, um so etwas wie Stabilität in der Ökonomie anzeigen oder fingieren zu können. (Vgl. Karatani 2003: 213f.) Hingegen fungiert in der klassischen Arbeitswerttheorie eines Ricardo das Konzept des Werts als eine komplett andere Art einer theoretischen Rationalisierung in der Ökonomie, wobei Ricardo die menschliche Arbeit als diejenige Substanz, die allen Waren gemeinsam ist, konzipiert, über die dann als Prinzip auch die rationale Verteilung in die verschiedenen Sektoren der Produktion gesteuert wird.

Nach Auffassung von Karatani hat nun Marx sein eigenes Konzept der Wertform als eine Art Transkritik ausgearbeitet, die sich zwischen den Polen Bailey und Ricardo ansiedelt. (Ebd.) Karatani argumentiert also, dass Marx seine »Kritik der politischen Ökonomie« implizit an eine parallaktische Sichtweise heranführt, und zwar bezüglich der Antinomie, die sich zwischen Baileys subjektiver, relationistischer Werttheorie und Ricardos objektiver Arbeitswerttheorie auftut. Dabei sieht Karatani Marxens Lösung der an Kant orientierten Antinomieproblematik nicht in der Reduktion der einen Theorie auf die andere oder etwa in einer dialektischen Synthese der beiden Theorien, vielmehr sei, wie bei Marx eben geschehen, die Antinomie selbst als irreduzibel zu begreifen, als irreduzible Lücke zwischen beiden theoretischen Positionen, die strukturelle Spalte dazwischen. (Vgl. Žižek 2006: 24) (Parallaxe ist gleich dem Winkel zwischen zwei Geraden, die von den sich verschiebenden Standorten eines Subjekts auf denselben Punkt – ein Objekt vor einem Hintergrund – gerichtet sind. Dabei bleiben Subjekt und Objekt so aufeinander bezogen, dass eine Verschiebung der epistemologischen Sichtweise des Subjekts eine ontologische Veränderung des Objekts beinhaltet, das in gewisser Weise einen Blick erwidert, der das Subjekt übersteigt – das Auge ist immer schon die Leinwand und nicht die Kamera.)

Im Unterschied zum Begriff der Transzendenz enthält der kantianische Begriff der Transzendentalität ein Moment der Innerweltlichkeit, insofern das Transzendentale als Prinzip den Dingen und Verhältnissen in der Welt vorausgesetzt ist, ein Prinzip, »vermöge dessen die Erfahrung notwendigerweise unseren Vorstellungen a priori unterworfen ist.« (Deleuze 2008: 40-41) Die transzendentale Bedingung (die sich weder auf Noumena noch auf Dinge an sich bezieht) ist, wie wir in der Auseinandersetzung mit Laruelle gesehen haben, im kantianischen Sinne als universell zu begreifen und enthält unabhängig von der Erfahrung ein Apriori der Vorstellungen mit den Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit, bezieht sich aber immer auch auf die Erfahrung. Dennoch darf man das Transzendentale nicht als empirisch begründet auffassen, da es nicht in der Erfahrung existiert, während es auf der anderen Seite in gewisser Weise nichts als empirisch ist, da es sich auf nichts anderes als auf die Erfahrung beziehen kann. Damit ähnelt das Transzendentale zunächst einem Borderline-Konzept. Im Bruch mit dem kantianischen Apriori, das sich auf Vorstellungen bezieht, die nicht den Erfahrungen entspringen (obwohl sie ohne diese nicht auskommen), ließe sich ein nicht-metaphysisches, historisches Apriori, das den Handlungen und dem Denken als unhintergehbare Form vorausgesetzt ist, konzipieren, das wiederum auf die Quasi-Transzendentalität des Kapitals bezogen bleibt. Kant glaubte, dass das, was er »transzendentale Apperzeption« (des Subjekts) nannte, vollkommen zusammenbräche, wenn sie tatsächlich so atomisiert wäre, wie Hume dies z. B. annahm. Kant lehnte einerseits den damaligen Rationalismus als Metaphysik ab, das Cartesianische Cogito als eine mit sich selbst identische Entität der res cogitans, andererseits versuchte er zu zeigen, dass Humes Vielfalt flüchtiger sensueller Daten schon immer das Produkt einer Vermittlung ist, und dies in Form einer intelligiblen Sensibilität, der Einbildungskraft, die reflexiver und abstrahierender ist als jede bloße Addition von Empfindungen. Kant erfand in gewisser Weise die Einbildungskraft als die tragende symbolische Form, als das Dazwischen von Sinnlichkeit und Verstand, er »überwand« damit die Antinomie von Empirismus und Rationalismus, die seiner Auffassung nach der blinde Fleck aller Philosophen bis dahin gewesen war, ohne sich selbst für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden oder ohne sie nur rein imaginär zu synthetisieren, wie man das durchaus annehmen könnte, wenn man denn bereit ist, zwei Schritte mit Kant zu gehen: Einerseits die transzendentale Ästhetik als Einführung der »reinen Anschauung« zu verstehen, während man andererseits die transzendentale Analytik mit ihrem Mechanismus des Schematismus, der eine Zwischenstellung zwischen Anschauung und Begriff einnimmt, als die Vollendung der Synthese begreift, womit es der Einbildungskraft tatsächlich gelingt, Anschauung und Verstand auf Grundlage der reinen Anschauung zusammenzubringen, und zwar als Versinnlichung der Transzendenz und Entsinnlichung der Anschauung. Allerdings hatte schon Adorno bemerkt, dass die sog.n reinen Anschauungen nichts als Begriffe sind, was darauf verweist, dass das Material, an dem die kategoriale Arbeit sich betätigt, je schon vorgeformt ist, womit es eher von »Formen der Anschauung« zu sprechen gilt. Es lässt sich zudem das (transzendentale) Subjekt problematisieren, wenn das Subjekt der transzendentalen Apperzeption einerseits selbstreflexiv gedacht wird, sich aber andererseits keineswegs auf den Schematismus der empirischen Mannigfaltigkeit reduzieren lässt, womit das Subjekt erst in der Lücke oder im Spalt bzw. in der Parallaxe zwischen Phaenomenon und Noumenon entstünde, als die Gespaltenheit des Ich in der Zeit. (Vgl. Žižek 2006: 26f.) Die Bestimmbarkeit des »Ich bin« durch das »Ich denke« wird in der Zeit geregelt. Somit ist die unbestimmte Existenz des »Ich bin«, die ja durch das Cogito impliziert wird, nur als Existenz eines passiven Ich bestimmbar, d. h. durch die Zeit mit ihren aktuellen, aber vor allem virtuellen Speichern. (Vgl. Deleuze 1992a: 119f.) Das Ego des Cogito konkretisiert sich in riskanter Gleichzeitigkeit, die aber ohne zeitliche Verschiebungen nicht zu haben ist; das Ego ist eine Flocke, die in der Zeit im Prozess der Differenzierung transportiert wird.

Für Karatani stellt sich an dieser Stelle hinsichtlich der Kritik Kants an Hume eine Analogie zu Marx insofern ein, als Marx sieht, dass die kapitalistische Ordnung tatsächlich auseinanderbrechen würde, wenn die Wertrelationen dermaßen atomisiert bzw. relativ wären, wie dies bspw. Bailey annahm und wie dies bis heute in gewisser Weise die neoklassischen Marginalisten postulieren. Karatani zufolge bedient sich Marx eines kantianisch inspirierten, transzendentalen Arguments, wenn dieser die Wertformanalyse sowohl gegen die nominalistisch inspirierte Ablehnung der Kategorie des Werts durch Bailey als auch gegen Ricardos essenzialistische Arbeitswerttheorie ins Spiel bringt. Karatani argumentiert weiter, dass Wert und Mehrwert, wie in Bd.1 des Kapital dargestellt, die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit des Kapitalismus anzeigen, womit wir Wert und Mehrwert niemals empirisch begegnen, empirisch begegnen wir immer nur Preisen und Profiten. (Karatani 2003: 241f.) Analog der ersten Kritik Kants, in der dieser die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit jeder Erfahrung freilege, beschreibe Marx in Bd.1 des Kapital die allgemeinen Strukturen des Kapitals, so Karatani, während Marx analog zu Kants dritter Kritik der singulären Erfahrungen (der Frage, wie man von den singulären Multiplizitäten zu den transzendentalen Bedingungen kommt, die jene generieren und zugleich voraussetzen) im Kapital Bd. 3 die (empirischen) Zusammenhänge zwischen den einzelnen Kapitale untereinander untersuche, um aber auch an dieser Stelle nach den transzendentalen Bedingungen zu fragen, deren Aktualisierung die Realisierung von Profiten für Einzelkapitale durch die Bewegung der Konkurrenz hindurch anzeige. Und wie die dritte Kritik Kants eine Antinomie zwischen a) der universellen Natur des ästhetischen Urteils (das allgemein akzeptiert werden muss), und b) der unbegründbaren Singularität jedes einzelnen Urteils einführt, so akzentuiert laut Karatani Marx im Kapital Bd. 3 die Antinomie zwischen a) der Fundierung der Preise im Wert und des Profits im Mehrwert (Thesis: Ricardo), und b) der relativen Unabhängigkeit der Preise vom Wert und des Profits vom Mehrwert (Antithesis: Bailey). (Ebd.: 133f.) Während Bailey also den Preis unabhängig vom Wert und damit innerpreislich und rein relational bestimmt, und zwar als Resultat des Spiels von Angebot und Nachfrage, so gilt Ricardo der Input Arbeitszeit in seiner Arbeitswerttheorie als derjenige Faktor, der den Wert einzig und allein determiniert.

Einen anderen Weg der Kant-Marx Debatte hat Oetzel während der theoretischen Nachwehen der Studentenbewegung mit seinem Buch Wertabstraktion und Erfahrung eingeschlagen, wenn er die Konstellation empirische Warenmengen einerseits und Transzendentalität des Geldes andererseits mit dem Rückgriff auf Kants Schematismuskapitel zu problematisieren versucht, um zu folgendem Schluss zu gelangen: »Das heißt: Im Schema ist die Subsumtion der Anschauung unter den Verstand vorgängig vollzogen, so daß sie vermittels des Schemas generell möglich geworden ist. Nicht anders beim Geld: der Gebrauchswert kann vermittels des Geldes unter den Wert subsumiert werden, weil er im Geld exklusiv unter ihn subsumiert ist. Im Schema schauen wir alle Gegenstände der Erfahrung rein an, so wie wir im Geld alle gesellschaftlichen Produkte rein anschauen. So wie das Geld den greifbaren Horizont der Warenwelt verkörpert, so stellt das Schema den ›vernehmbaren‹ (Heidegger) Horizont der Erfahrungswelt dar.« (Oetzel 1979: 150) Und Oetzel folgert weiter, dass der Wert mit dem Geld seine ontologische Basis insofern erweitert, als das Kapital sich schließlich seine stofflich-technische Seite reell subsumiert, sodass in dem Moment, in dem die wissenschaftlich-technischen Dispositive die Produktionsprozesse zu dominieren beginnen, die »statische Wertform des Geldes« in die »dynamische, technische Wertform der Maschine« übersetzt und damit das Transzendentale erst allgemein wird. (Ebd.) Oetzel ist durchaus darin recht zu geben, dass der Versuch einer naiven Trennung von Arbeitsprozess und Verwertungsprozess, ohne zu beachten, dass die kapitalistische Technologie sui generis die Naturalform des Kapitals darstellt, der Imagination aufsitzt, man könnte in die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte noch einmal eine Humanität hineinprojizieren, mit der die Vergegenständlichung des ontologischen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur einen würdigen Abschluss in und der Geschichte im Sinne einer zu sich selbst gekommenen Arbeit finden wird. Allerdings wäre neben der Hinterfragung eines durchaus fragwürdigen Zwei-Stufen-Modells der Wertform, das Oetzel zudem noch historisiert, an dieser Stelle vor allem die Frage zu stellen, ob Oetzel die Synthesisleistung der Einbildungskraft (qua Schematismus), die sich den Verstandesbegriffen gemäß a priori auf alle Formen der Sinnlichkeit anwenden lassen soll, nicht zu ernst nimmt, und damit, wie Deleuze sagt, einem theologischen Prinzip folgt, das im Sinne der Rekognition dasjenige Kants war, aber sich eben doch nicht so ohne weiteres auf die Problematik Marxens übertragen lässt. Auch ist die marxsche objektive Gedankenform (nicht Daseinsform), wie Žižek wiederum gegen Karatani argumentiert, nicht mit dem Status des transzendentalen Subjekts bei Kant identisch, denn das würde u. a. die Gleichsetzung des transzendentalem Subjekts mit den Begrifflichkeiten des Kapitals (inklusive der ideologischen Wissensformen) beinhalten, was übrigens der Gleichsetzung des Hegel’schen automatischen Subjekts mit dem Begriff des Kapitals durchaus verwandt ist, und dies wäre viel zu einfach gedacht. Weder als phänomenal noch als noumenal zu begreifen, zeigt sich das transzendentale Subjekt für Žižek als rein leer und formal. (Žižek 2006: 24f.) Das Apriorische des Kapitals wäre hingegen zumindest in der diskursiven Darstellung so anzuschreiben, als könne es sich durchaus in allem Empirischen aktualisieren und sich ganz im Sinnlichen einnisten, denn es wird ja immer und überall gebraucht, wo irgendetwas nur fehlt, und dies stellt sich absurderweise noch so dar, als wäre das Kapital die Arbeit oder die potenzielle Energie selbst, die sich in jedem einzelnen Phänomen ausdrückt.

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