Konspirationistisches Manifest

1. Die „Gesellschaft“ – ein reaktionäres Konzept

Es ist wie ein Summen, ein Basso continuo, dumpf und beharrlich. Seit gut 15 Jahren.

Es ist eine Vorahnung, eine Andeutung, eine stumme Verfügung, die dem ganzen öffentlichen Leben als Kulisse dient. Den ganzen „verantwortungsvollen“ Debatten.

Ein Gegengesang, der nur von einem verfeinertem Gehör wahrgenommen werden kann: „Die Gesellschaft, die muss man sich verdienen. An ihr teilzunehmen ist nicht jedem gegeben. Und was ist mit Ihnen, sind Sie sich sicher …“.

Die Gefängnisse wurden gebaut und gefüllt, um denjenigen, die nicht darin waren, glauben zu machen, sie seien frei, respektabel und unschuldig.

Die Anstalten wurden gebaut und gefüllt, um den Vorübergehenden zu zeigen, dass sie vernünftig, gesund und normal sind.

Es gab gute und schlechte Bürger, solche erster und zweiter Klasse, aber immerhin waren, bis heute, alle Bürger.

Zwar wurden die „Ausgeschlossenen“ zur Schau gestellt, um zu zeigen, was es kostet, sich gehen zu lassen, aber niemand zweifelte daran, dass sie dennoch einen „Teil der Gesellschaft“ ausmachten, selbst wenn sie im Pissoir oder in der Gosse lebten.

30 Jahre schleichender Neokonservatismus haben mit diesen ökumenischen Leckereien Schluss gemacht. Die „Werte“ sind wieder zurück. Und der Konstruktivismus ist vergangen. Eine Gesellschaft erzeugt sich, löst sich wieder auf – und vor allem erzeugt sie sich aufs Neue.

Die alte hat versagt. Machen wir eine neue.

Jahr für Jahr hat sich nämlich allmählich und unmerklich – vom Kärcher zu den Zahnlosen, von der Aberkennung der Staatsangehörigkeit für „Terroristen“ bis hin zu den Internierungsvorschlägen für die als ‚Gefährder‘ deklarierten – die Ahnung durchgesetzt, dass es bestimmte Attribute gibt, ohne die man sich nicht für die gesellschaftliche Zugehörigkeit qualifiziert, ja, die einen sogar disqualifizieren, und dass daher die Staatsbürgerschaft, die Staatsangehörigkeit und die Gesellschaft einen moralischen Gehalt haben; dass es keinen schlechten Bürger gibt, da man, um Bürger zu sein, gut sein muss. Die Gesellschaft hat ihre Ansprüche, ihr erforderliches Glaubensbekenntnis, ihre unabweisbaren Verpflichtungen.

Man verhandelt nicht mehr.

Man hat einen Türsteher an die Pforte zur Gesellschaft gestellt.

Nicht jeder kann eintreten.

Es wird darum gehen, dazu zu gehören.

Das ist es, was der „Gesundheitspass“ festschreibt. Ganz sanft. Elektronisch. Zum Anfassen.

Er verleiht demjenigen, der sich der Impfung unterworfen hat, den Titel eines Bürgers mit vollem Recht auf die Terrassen der Cafés.

Er entspricht seinem Namen so sehr, dass die Unerwünschten nicht mehr reinpassen.

Die oberflächlichste, verspielteste und anlassloseste Geselligkeit hat ihre Unschuld verloren. Sie hat sich mit unsichtbaren Checkpoints eingezäunt. Um sich in sie zu mischen, war man aufgefordert, alles, was im Leben wirklich intim ist – den Charakter, den Gemütszustand, die Meinungsverschiedenheiten oder seine Bestimmung –, an der Garderobe abzugeben. Das war die Voraussetzung für ihre besondere Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit hat sich nun mit Bleisohlen beschwert.

Die Vorahnung hat sich materialisiert.

Aus dem leisen Brummen ist nun das Bellen einer deutschen Dogge geworden.

Seit 200 Jahren gibt es Fortschrittler, die vorgeben, die soziale Frage zu stellen, und so hat man fast vergessen, dass das Konzept der Gesellschaft in seiner heutigen Form eine Erfindung von Reaktionären ist. Allerdings nicht von denen, die von den Fortschrittlern als solche angeprangert werden, indem sie unterstellen, es wäre normal, banal und im Sinne der Geschichte, revolutionär zu sein, und dass sie es selbst außerdem ein wenig wären. Vielmehr von den wahren Reaktionären, die sich als solche begreifen und die – angesichts der von ihnen in jeder Hinsicht als katastrophal, abscheulich, verrückt und, um es kurz zu sagen, teuflisch empfundenen Französischen Revolution – die notwendige Reaktion entwickelten; von Leuten, die seit den 1790er Jahren nicht aufhörten, den Grundstein für eine siegreiche Gegenrevolution zu legen: Joseph de Maistre und Louis de Bonald. Sie theoretisierten als erste die „Gesellschaft“. Aber nicht die „gute“ Gesellschaft oder die, die einfach zivil ist und die daher von einem Stand der Zivilisation zeugt und deren Kriterium die Organisation im Staat bleibt. Vielmehr die Gesellschaft der „Soziologie“, derjenigen, deren allgemeine Ordnung alles umfasst und der man nicht entfliehen kann. Mithilfe dieses Konzepts wollen sie den inakzeptablen Einbruch des Volkes in die Geschichte zurückschlagen. Das Volk, die Volkssouveränität, die individuellen Rechte – das sind Begriffe, die vom Blut des Königs nur so triefen. Der Sturz des Ancien Régime ist insofern unverzeihlich, als mit der gesellschaftlichen auch die göttliche Ordnung ihren Charakter einer natürlichen Evidenz verloren hat. Die Welt wurde durch all diese Aufstände, all diese Agitation, all diese Aufrufe, all diese Verfassungen, all diese Konvente und all diese Ideen denaturiert. Mit seinen impliziten Hierarchien, seinem jedem vorbehaltenen Platz, seinen komplexen Vermittlungen, seinem Kopf und seinen Armen, seinem Oben und seinem Unten bietet sich ihnen der Begriff der Gesellschaft an, um das verloren gegangene Reich wieder zu naturalisieren. Unsere Reaktionäre spielen, kurz gesagt, die Gesellschaft gegen das Volk aus. Mit seiner Theorie der politischen und religiösen Macht von 1796 ist Bonald der erste Denker, der sich mit einer „Gesellschaftswissenschaft“ befasst, der erste Theoretiker des „gesellschaftlichen Bandes“. Er macht dabei keine Umschweife: „Nicht nur steht es nicht dem Menschen zu, die Gesellschaft zu schaffen, es steht der Gesellschaft zu, den Menschen zu schaffen, ich meine damit, ihn durch gesellschaftliche Erziehung zu formen. Der Mensch existiert nur für die Gesellschaft, und die Gesellschaft formt ihn nur für sie. […] Man kann die Gesellschaft nicht abhandeln, ohne über den Menschen zu sprechen, und man kann nicht über den Menschen sprechen, ohne auf Gott zurückzugehen. […] Es gab nie eine Gesellschaft ohne Gott, es gab nie Nationen ohne Führer, es gab nie Götter ohne Priester und nie Kriegsherren ohne Soldaten. […] Man kann die konstituierte Zivilgesellschaft als die Gesamtheit der notwendigen Beziehungen oder Gesetze definieren, die Gott und Mensch, intelligente und körperliche Wesen mit dem Zweck ihrer gemeinsamen und notwendigen Selbsterhaltung verbinden. […] Was ist der Zustand eines Untertanen? Das Recht, regiert zu werden. Ein Untertan hat das Recht, regiert zu werden, wie ein Kind das Recht hat, gefüttert zu werden. […] Regierungen werden eingesetzt, um [die Menschen] zu zwingen, frei, das heißt, gut zu sein.“ Hier wird Rousseau gegen ihn selbst gewendet. Man muss zugeben, dass er dafür eine offene Flanke bot.

Auguste Comte war in seiner Jugend ein begeisterter Leser der „Philosophen der Ordnung“, Maistre und Bonald, die er liebevoll „rückwärtsgewandte Richtung“ taufte. All diese Erschütterung der Gewissheiten, diese Infragestellung der natürlichen Hierarchien, diese Proteste eines jeden zu jeder Zeit und all diese inneren und äußeren Unruhen, die die Welt seit der Französischen Revolution belasteten, machten den Polytechniker traurig und empörten ihn. „Die gesellschaftliche Ordnung wird auf immer mit der andauernden Freiheit unvereinbar bleiben, tagtäglich die Grundlagen der Gesellschaft selbst in endloser Weise in Frage zu stellen.“ Wie sein Lehrer, der Graf von Saint-Simon, strebte Comte nach einer „rationalen Reform der sich in der Krise befindenden Gesellschaft“ und danach, „die unseren Zustand kennzeichnende, intellektuelle Anarchie zu beendigen“. Im Alter von 24 Jahren verfasste er einen „Plan der zur Organisation der Gesellschaft notwendigen wissenschaftlichen Arbeiten“. Er beabsichtigt, die „abendländische Krankheit“ zu heilen: den „fortwährenden Aufstand der Lebenden gegen die Toten“. Die Aufgabe seiner „Sozialphysik“ wird es sein, der Gesellschaft, der Ordnung und der Macht ihre natürliche Selbstverständlichkeit zurückzugeben: „Die Sozialphysik, diese wirklich endgültige Wissenschaft, die notwendigerweise unmittelbar in der richtig verstandenen biologischen Wissenschaft wurzelt, wird von nun an die Gesamtheit der Naturphilosophie in einem vollständigen und unteilbaren doktrinären Korpus zusammenfassen.“ Er versäumte nicht, Maistre und Bonald in den positivistischen Kalender einzutragen, nämlich in den elften, der modernen Philosophie gewidmeten Monat. Schon der Name „Positivismus“ benennt implizit seinen Feind: die Revolution, dieses Monster der Negation. Seine zur Schau gestellte Positivität verdeckt auch hier einen erbitterten Willen zur Verneinung. Die meisten Geschichtsschreibungen der Soziologie und der Sozialwissenschaften hüten sich davor, bis zu Bonald – diesem so unangenehmen Ursprung – zurückzugehen, selbst wenn sie mit einem obligatorischen Kapitel über ihren exzentrischen Begründer Auguste Comte beginnen. Es brauchte die erfolgreichen Arbeiten eines amerikanischen Akademikers der 1980er Jahre, damit man dieser Ahnenfolge nicht mehr den Status eines böswilligen Gerichts zuweisen konnte. In der Regel spielt man zudem lieber die für die Geschichte dieses Fachs historische Bedeutung der Schule von Frédéric Le Play herunter – eines anderen Polytechnikers, der ein eifriger Leser von Bonald und Maistre war –, motiviert dadurch, dass er wie Comte konservativ, bekennender Paternalist und ein großer Verteidiger von Napoleon III. war. Und doch waren es die Epigonen von Frédéric Le Play, die 1886 die Zeitschrift Die Sozialwissenschaft gründeten. Und den Begriff des „sozialen Ingenieurswesens“ verdanken wir einem seiner wichtigsten Schüler, Émile Cheysson vom Musée social – noch ein Polytechniker des Corps des Mines –, der ihn 1897 in einem Vortrag über „die gesellschaftliche Rolle des Ingenieurs“ verwendete.

Diese ganze feine Gesellschaft findet durch den Schrecken des Kontrollverlustes, der Angst vor dem Klassenkampf und dem gesellschaftlichen Zerfall zusammen.

Der Begriff „Gesellschaft“ wurde von reaktionären Denkern in ihrem wahnwitzigen Krieg gegen eine Revolution geprägt, von der sie sicherstellen wollten, dass sie niemals stattgefunden hat.

Die Soziologie wurde geboren, um die Ordnung wiederherzustellen – besser: um eine Soziokratie zu errichten.

Die Statue von Auguste Comte thront auf dem Place de la Sorbonne.

Es hat niemals eine Sozialwissenschaft gegeben, die nicht ihre Anwendung als Sozialtechnik im Sinn hatte.

Jeder kennt diese linken Leute – kultiviert, fortschrittlich, cool, sympathisch, kritisch –, die sich in den vergangenen zwei Jahren nach nichts anderem sehnten als nach noch verhängnisvolleren Freiheitseinschränkungen und die dabei nichts anderes im Mund führten als „Solidarität“, „Altruismus“ und „soziale Ungleichheit“.

Der Progressismus ist seinem Wesen nach reaktionär. Er war schon immer auf die Aufrechterhaltung der Ordnung ausgerichtet. Übrigens: „Der Fortschritt ist die Entwicklung der Ordnung.“ (Auguste Comte).

Im Windschatten des Altruismus folgt die Soziokratie.

Der Sozialismus der Intellektuellen ist dem Konservatismus der Besitzenden ebenbürtig.

All das war noch nie so offensichtlich wie heute.

Wir lassen uns nicht von der Allgegenwart des Adjektivs „sozial“ bei den Technokraten, die unsere Knechtung heranreifen lassen, ihrer Begeisterung für die „kollektive Intelligenz“ oder gar ihrer neue Religion des „Superkollektivs“ täuschen: Es sind alles kalte Kriegserklärungen.

Einer hartnäckigen amerikanischen Neurose stellen sich die Vereinigten Staaten als das Paradies einer Welt dar, deren Hölle das stalinistische Russland gewesen sei. Das heißt, nichts von nichts verstehen. Beide Länder wurden im 20. Jahrhundert von Wissenskapitalisten gelenkt – Ingenieuren, Experten, Bürokraten oder Managern. Und sie werden es noch immer. Nachdem die UdSSR die kurzen und katastrophalen Versuche der „Materialbuchhaltung“ und der Abschaffung des Geldes hinter sich gelassen hatte, setzte sie den Markt als Planungsinstrument für ihre Wirtschaft ein. Seit man davon spricht, also seit der Begründung der neoklassischen Ökonomie durch Walras Ende des 19. Jahrhunderts, hat es nie eine Alternative zwischen Markt und Planung gegeben. Stalinisten und Liberale hatten lediglich ein Interesse an der Inszenierung eines Gegensatzes, der die tatsächliche Machtstruktur ihrer jeweiligen Gesellschaften auf so erfreuliche Weise verschleierte. Die Eigentümer der Gesellschaft wollten immer einen Superrechner. Das russische soziale Ingenieurswesen war nur roher, tragischer und bizarrer als das amerikanische. Heutzutage treffen sich China und die USA – und Europa noch nebenbei, das nur seine bürgerliche Art beisteuert –, indem sie ganz offensichtlich der gleichen Richtung folgen. Seit 2007 hält das WEF sein jährliches Sommertreffen in China ab. Bereits 1978 lud Klaus Schwab Deng Xiao Ping als Redner nach Davos ein. Im Jahr darauf brachte er eine Delegation von Unternehmern nach Peking. Der fortschrittliche Teil des US-Kapitals hat nur noch Augen für China. Im Februar 2020 beglückwünschten sich Bill Gates und Xi Jinping in öffentlichen Briefen gegenseitig zu ihren gemeinsamen Bemühungen, die „global public health security“ zu verteidigen, da, wie jeder weiß, „die Menschheit eine Gemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft“ (Xi Jinping) ist. Das Modell, das Zuckerberg für Facebook verfolgt, ist nichts anderes als WeChat, die chinesische App, aus der man nie wieder herauskommt.

Es war kein Startup-Unternehmer der Kommunistischen Partei Chinas, der sagte: „Ich glaube tatsächlich, dass die meisten Menschen nicht wollen, dass Google ihre Fragen beantwortet. Sie wollen, dass Google ihnen sagt, was sie jetzt tun sollen“. Das ist Eric Schmidt, der CEO von Google, gegenüber dem Wall Street Journal im Jahr 2010.

Es war kein heißgelaufener Verschwörungstheoretiker, der verkündete: „Die Technologie wird in die Gehirne der Menschen eingebunden sein. Am Ende werden Sie ein Implantat haben, das Ihnen, sobald Sie an etwas denken, einfach die Antwort gibt“. Das ist Larry Page, als er 2012 gegenüber der New Republic seine „Vision“ von den persönlichen Assistenten der Zukunft erläuterte.

Mit diesem Traumbild einer „Biokontrolle“ schließt Die geheimen Verführer von Vance Packard, der schon 1958 Ingenieure fand – voll zarter Liebe für „diese neue Wissenschaft, die es ermöglicht, die geistigen Vorgänge, die Gefühlsreaktionen und die Sinneswahrnehmungen mittels elektrischer Signale zu steuern“.

Um sich von der gesellschaftlichen Sicht der Dinge zu befreien, muss man wieder bei der Art und Weise ansetzen, in der die „soziale Frage“ hergestellt und durchgesetzt wurde, und bei dem, was sie zu verdrängen diente. Die Apokalypse der Freude von Jean-Baptiste Fressoz, erlaubt uns einmal mehr, das klar zu sehen. Louis-René Villermé, ein französischer Arzt und Ökonom der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war Pionier der sozialen Frage – der Frage nach dem Entgelt der Arbeiter, ihren Arbeitsbedingungen, der Länge ihrer Arbeitstage, aber auch nach ihren Lebensbedingungen: ihren Unterkünften, ihrem „Zusammengepferchtsein“, ihrer „Hygiene“, ihrer „Trunksucht“, ihrem „schlechten Leben“ usw. Nach einer ersten Arbeit über die Gesundheitsschädlichkeit der französischen Gefängnisse, im Vergleich zu den wirklich modernen Strafanstalten der Vereinigten Staaten, verfasste er die berühmte Übersicht über den körperlichen und moralischen Zustand der Arbeiter, die in den Baumwoll-, Woll- und Seidenfabriken beschäftigt sind, mit der sich 1840 endgültig die „soziale Frage“ durchsetzte. Was dieser Fortschrittler damit krönte, war ein 50-jähriger Kampf der Industriellen und ihrer Verbündeten in den Regierungen. Seit dem Ende des Ancien Régime führt die industrielle Mafia einen Krieg gegen die sie betreffenden und behindernden Überbleibsel des vormaligen Gewohnheitsrechts. Die Tradition des Ancien Régime gab den Anwohnern von die Umwelt verschmutzenden Betrieben einen Anspruch auf Einstellung der Tätigkeiten, wenn diese sie vergifteten, ihr Leben und ihre Gesundheit schädigten oder den natürlichen Ressourcen der Gegend Schaden zufügten. Die ersten Feindseligkeiten wurden 1768 durch den Bau der ersten großen französischen Chemiefabrik in Rouen eingeleitet – noch nicht Warren Buffetts Lubrizol, nein, nur eine Schwefelsäurefabrik auf Initiative eines englischen Geschäftsmannes, der in den Ministerien gut vernetzt war. Man musste die Macht der lokalen Honoratioren in Rouen entschieden beenden, die mit ihrer „Streitlust“ sowohl dem Fortschritt als der Macht der Nation so sehr schaden. Zum Gefallen dieser „Unternehmer“ – denen gegenüber man, wie schon der Chemiker und Finanzbeamte Trudaine de Montigny meinte, „kaum auf Rücksichtnahme verzichten kann“ – wird sogar das Parlament von Rouen abgeschafft, bevor 1771 alle Parlamente abgeschafft werden. Die Zeit ist reif für eine „chemische Revolution“. Der „Nutzen des Königreichs“ gebietet, dass alle Anwohner – ob Adlige, Bürger oder Pöbel – aufhören, sich über die „Ausdünstungen“ zu beschweren, die sie töten – sie selbst, ihr Vieh und ihren Anbauflächen. Man ließ sogar durch Gutachten festsetzen, dass diese sich in der Luft auflösenden Rauchschwaden eher gesund sind, was ihnen auch immer ihre Sinne sagen und was ihnen auch immer ihr Geruch anzeigt. Sie sind zugegebenermaßen unangenehm, aber keineswegs schädlich. Im Jahr 1829 gründeten die Mitglieder des Pariser Gesundheitsrates die Annalen der öffentlichen Hygiene und der Gerichtsmedizin. Mit diesem Dreh gelang es schließlich, den Widerstand gegen die Industrialisierung zu brechen. Man beraubte die Arbeiter und Einwohner im Namen der öffentlichen und dann gesellschaftlichen Hygiene jeglicher Einflussnahme auf ihre Umgebung – die Circumfusa der alten hippokratischen Medizin. Nämlich wie folgt: „Die ersten Artikel der Annalen, die von der Hygiene am Arbeitsplatz handeln, mögen überraschen: Anstatt sich mit gesundheitsschädlichen Manufakturen zu beschäftigen, untersuchen sie die Gesundheit der Arbeiter! Das Ziel: den Stadtbewohnern die Unschädlichkeit der Fabriken zu beweisen. […] Die Krankheiten der Pariser Hafenarbeiter waren nicht auf die unhygienischen Verhältnisse am Ufer der Seine zurückzuführen, sondern auf ‚ihre Gewohnheiten und ihre Lebensweise‘. […] Die Sozialhygiene von Louis-René Villermé, die die Lebensbedingungen und den Reichtum als eine (nicht die einzige, aber die wichtigste) Ursache für die Unterschiede in der Sterblichkeit ansieht, entstand in diesem hygienischen und industriellen Umfeld. […] Sein grundlegender Artikel von 1830, der die Sterblichkeit in den Pariser Stadtvierteln nicht zur Umgebung (enge Straßen, Nähe zur Seine, Vorhandensein von Werkstätten usw.) in Korrelation setzt, sondern zum Einkommen der Bewohner, fügt sich direkt in das Programm der Gründergeneration des Gesundheitsrats ein: die mit der Statistik vollbrachte Abwertung der Krankheitsursache Umwelt. […] Villermés Sozialhygiene spielte eine ähnliche, wenn auch umgekehrte Rolle: Der Arbeiter litt nicht mehr unter der Arbeit, sondern unter seinem schwachen Einkommen. […] Die Reduzierung der Krankheiten der Handwerker auf eine Frage der Moral und der Wirtschaft rechtfertigte einen gemäßigten Liberalismus. […] Die damals prinzipiell umstrittene Industrialisierung […] wurde zum Preis einiger Ergänzungen zu einer akzeptablen, geschichtlichen Transformation: sittliche Besserung der Arbeiter, Erhöhung der Löhne auf das Niveau der ‚tatsächlichen Bedürfnisse‘, Abschaffung der Kinderarbeit und Vorsorgekassen. Der Hygienismus definierte die Biopolitik des liberalen Kapitalismus, d.h. die gesellschaftlichen Mindestbedingungen, die die Erhaltung der für die Industrie notwendigen menschlichen Arbeitskraft aufrechterhalten. […] Die Verbindung von Industrie und gesundheitlichem Fortschritt wurde durch den Übergang von der medizinischen Topographie zur hygienischen Erhebung ermöglicht, d.h. durch die Verlagerung der Ätiologien von der Umwelt auf die Gesellschaft.“ (Jean-Baptiste Fressoz, Die Apokalypse der Freude, 2012) Die Verwendung des Begriffs „Umwelt“ ist hier vielleicht nicht glücklich gewählt. Da die Circumfusa durch ihren Plural auf das verweisen, was sie umschließen und wo es sich befindet, unterscheiden sie sich deutlich vom allgemeinen Begriff der Umwelt. Wir haben es hier mit einer Armut des Vokabulars zu tun, die nicht von ungefähr kommt. Diejenigen, die die soziale Frage durch die Umweltfrage korrigieren wollen, fügen der Pest die Cholera hinzu. Wenn sich die Ökologie als „Wissenschaft der Beziehungen“ definiert hat, weiß man immer noch nicht, wo im Netz dieser Beziehungen sich derjenige befindet, der sie kartographiert. Man sieht ihn nie nirgendwo, in all den „Umwelten“, diesen göttlichen Schöpfer.

Die soziale Frage, die in unseren Ohren so positiv klingt – weil sie in den vergangenen zwei Jahrhunderten von so vielen Reformern und Revolutionären, die sich dummerweise auf sie gestürzt haben, mit so vielen guten Absichten aufgeladen wurde –, ist ein Manöver. Sie dient dazu, die Enteignung der Lebewesen von ihrer Welt zu verhüllen, und gestattet die Schändung ihrer Einschreibung in die ihnen vertrauten Orte.

Sie zielt darauf ab, Extraterrestrische zu produzieren, die man beliebig verlagern kann, deren Land man verwüsten und deren Lebensräume man vergiften kann. Und die man nebenbei in die Fabriken schicken kann. Derart entwurzelt, derart isoliert, und derart geschwächt, wehren sie sich weniger gegen ihre Behandlung als unterschiedslose Materie ohne Eigenschaften und Bestimmungen, gegen ihre Behandlung als eine Art Knetmasse für die Regierungstechnik.

Seit zwei Jahrhunderten leistet die soziale Frage diesen unschätzbaren Dienst: Sie bringt mit ihrer ganzen moralischen Autorität diejenigen zum Schweigen, die irgendwo auf eine bestimmte Weise leben und die daran festhalten.

Es handelt sich um eine Verwüstungsmaschine, die übrigens vollkommen erfolgreich der Planierung unseres Lebens diente und die damit mehr denn je fortfährt.

Sie ist ein Apparat zur reflexiven Betäubung, ein Spiegelkabinett, in dem man die verlorene Welt nie wiederfindet.

Diejenigen, die Erwin Chargaff die „Verbesserzerstörer“ nennt – diejenigen, die alles unter dem Vorwand der Verbesserung zerstören –, scheinen vor der Vorstellung zu erschrecken, dass wir uns auf das Leben beziehen könnten, indem wir von uns selbst ausgehen, von dort, wo wir sind und uns in die Welt eingeschrieben haben.

Sie müssen uns mit allen Mitteln von dem abstrahieren, was wir sind, was wir wissen und was wir fühlen.

Man darf nichts begreifen, außer „von außen“ – wie Durkheim sagte, der dies zur eigentlichen Garantie der „Wissenschaft“ und zum Ideal eines von der Welt unberührten erkennenden Subjekts machte.

Ihnen zufolge gibt es nichts, was uns undurchschaubar bliebe, nicht einmal unsere körperliche Verfassung. „Hüten Sie sich davor, sich auf Ihre Sinne zu verlassen“, wie Littré sagte.

Sie empört die Möglichkeit einer unmittelbaren Inbesitznahme des Lebens und einer direkten Erfassung der Welt.

„Intuition“ ist für sie ein Schimpfwort. Denn es impliziert, dass sie niemand für seine Existenz braucht.

Das ist die große politische, anthropologische und erkenntnistheoretische Unstimmigkeit, die wir mit ihnen haben.

Wir sind keine „gesellschaftlichen Tiere“. Wir sind allenfalls „relationales“ Sein, wenn man unbedingt ein Zugeständnis an die im Umlauf befindlichen Kategorien machen muss. Aber auch hier wird das Wesentliche verfehlt. Denn das Beziehungsgeflecht, das unsere eigene Kraft und unsere Einbettung in die Welt ausmacht, gestaltet selbst einen Ort. Wir sind dieser sich bewegende und nicht objektivierbare Ort. Und dieser kann nicht abstrahiert, modelliert, verräumlicht, gleichgesetzt und dann aus der Ferne verwaltet werden – eben ein Ort.

Wenn die Kosmokraten so sehr wünschen, alles und überall zu sein, wenn sie in alles eindringen wollen, dann bedeutet das, nichts und nirgends zu sein.

Sie wären zu bedauern, würden sie nicht überall in dieser Welt triumphieren.

Wir werden die soziale Frage nicht überwinden können, ohne Bejahung einer neuen Geographie, unauftrennbar physisch und spirituell.

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Foto: Sylvia John

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