LiPumas “The Social Life of Financial Derivatives” (2)

Das generelle Problem der Finanzmärkte besteht für LiPuma darin, soviel Volatilität als möglich zu erzeugen, ohne dass die Volatilität eine Beeinträchtigung der Liquidität produziert. Die immanente Dynamik der Märkte liegt dann genau in der Notwendigkeit, durch finanzielle Transaktionen Arbitrage auf die Volatilität auszuüben und die Höhe des Risikos (durch Leveraging) zu kalkulieren, die notwendig ist, um wiederum genau diejenige Volatilität zu erzeugen, die es ermöglicht, Arbitrage funktionieren zu lassen. Dabei impliziert die Tendenz zu krisenhaften Prozessen, dass ein Sinken der Volatilität, das in den auf die Produktion bezogenen Märkten zu einem Anwachsen der Stabilität führt, gerade die Instabilität auf den Derivatmärkten verstärken kann. Ein erwartetes Sinken der Volatilität reduziert die Profitabilität der Arbitrage, was wiederum die Trader dazu motiviert, das Sinken der Profite durch eine Steigerung des Leverage zu kompensieren, womit wiederum noch ausstehende Positionen schwieriger gehegt werden können und kleine Veränderungen in den Underlyings hohe Veränderungen in den Preisen der Derivate nach sich ziehen. Wenn das Derivat systematisch transformativ ist, dann weil es eine sich selbst verwertende und expandierende Geldform, das heißt spekulatives Kapital ist.

Dabei ist die Expansion der Kreditschöpfung durch die privaten Banken eine wichtige Ressource des spekulativen Kapitals, das wiederum die Derivatmärkte beflügelt und auch die Realökonomie befeuert. Das Wachstum der Finanzmärkte verstärkt die Finanzialiserung des Geldes. Dabei müssen die Derivatmärkte volatil genug sein, um spekulatives Kapital anzuziehen, aber sie müssen den Punkt verhindern, an dem die Elastitizität der Volatilität für sie selbst gefährlich werden kann. Sie erzeugen quasi die Krankheit, gegen die sie sich immunisieren müssen. Die Logik des spekulativen Kapitals ist die andauernde Verstärkung des Motivs, Möglichkeiten für die differenzielle Monetarisierung zu schaffen, oder, sagen wir es anders, sie muss die Kapitalisierung der Differenz erzeugen. Die Logik ist ein Modus der Zirkulation, der auf dem Risiko in seiner derivativen Form basiert, und dies bezieht sich stets auf Kapitalakkumulation. Die Derivate organisieren die Kapitalströme zwischen verschiedenen Sicherheiten, Währungen und Ländern, das heißt sie besitzen unbedingt regulatorische Kapazitäten und übernehmen damit staatliche Aufgaben und Funktionen und integrieren damit die Politik in die Ökonomie. Dabei bleibt jedoch das Soziale in seiner Kontingenz, das die Raumzeiten durchquert, eine erhebliche Ressource für die Derivatmärkte und für das Mosaik der Unsicherheiten, das es den Derivatmärkten erst erlaubt, einen nachhaltigen Markt zu erzeugen.

Das Soziale bleibt für LiPuma, egal ob es sich auf Länder, Währungen oder Zinsraten bezieht, die ontologische Lücke zwischen dem Preis und dem Wert eines Derivats, da die Teilnehmer sich stets auf eine Derivatpreis einigen müssen, um zukünftig einen Spread zu schließen, aber in ihren Ansichten über den Wert des Derivats in einem bestimmten Zeitintervall differieren.

Es gibt ein Zusammenspiel zwischen der Zeitlichkeit der Kalkulation und der Unlesbarkeit der Chance, und es gibt die Art und Weisen, wie dies mit dem Leverage der derivativen Form korreliert. Der Hedge der derivativen Transaktion stellt einen Versuch dar, die Relation »Kalkulation und Chance« einer Arbitrage zu unterwerfen, indem die Akteure das Zukünftige zu lesen versuchen. Diese Arbitrage wird heute als mathematische Wahrscheinlíchkeit codiert, wobei dies aber immer eine retrospektive Interpretation der Märkte ist, während weiterhin die existenzielle Unsicherheit bestehen bleibt. Es gibt zwei Möglichkeiten der Messung der Bewegung eines auf die Zukunft ausgerichteten Derivats: Entweder die Messung der historischen Volatilität, indem man nachverfolgt, wie das Derivat und sein Preis in der Vergangenheit fluktuiert, oder, indem man die implizite Volatilität liest, einen antizipierten Preis bei seinem Verfall annimmt, und dies auf die Gegenwart zurückverfolgt (Diskontierung). Hier kalkuliert man mit der Black-Scholes Formel das Leverage eines gegebenen Derivats.

Der Kredit hat, was die Zeitlichkeit anbetrifft, die Kreation der Derivate zu antizipieren, die wiederum als eine Absicherung für Kredite dienen, aber auch für die Derivate selbst oder für die Liquidität einer Institution. Die symbiotische Form zwischen Kredit und Derivaten kreiert eine zeitliche Dynamik, die für LiPuma die Ontologie des Geldes rekonfiguriert, wobei die Produktion des Geldes nicht länger mit der Produktion und Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen korreliert. Für LiPuma deutet das das Wachstum der Produktion weit übersteigende Wachstum des US-Dollars sowie die Tatsache, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in der Produktion sinkt, auf ein zirkulatives Kapital hin, das sich weitgehend unabhängig von der Produktion bewegt.

Das spekulative Kapital nimmt die Form der Derivate an, weil diese in einem einzigen Instrument verschiedene konkrete Risiken vereinheitlichen, selbst wenn sie die Unsicherheit, die am Horizont aufscheint, maskieren. De Market-Maker gestalten dabei Derivate, um die Risiken, die in verschiedenen konkreten Situationen auftauchen, zu liquidieren, und um die Derivate als Objektivation des abstrakten Risikos einzusetzen. Diese Form der monetären Zirkulation unterscheidet sich vom Kredit und vom fiktiven Kapital. Dabei wird das finanzialisierte Risiko von seinen sozialen Kontexten und Relationen getrennt, i.e. eine gegebene Situation wird als risikoreich angenommen und  das Risiko wird von den sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen abstrahiert, um es in einen analytischen und mathematischen Raum zu übersetzen, der eben als unabhängig von den Umständen angenommen wird. Dabei entstanden in den letzten 40 Jahren generative und klassifikatorische Schemata (Zinsratenrisiko, Kreditrisiken, Transaktionsrisiken, direkte Risiken, Gegenrisken, Liquiditätsrisiken etc.), und letztendlich wird jede Variable, die identifiziert werden kann, zu einem Risiko. Diese Nominalisierung impliziert, dass die Finance jeden Typ von Risiko als ontologisch reales Objekt setzt. Dabei werden die jeweiligen Typen von Risiko in eine abstrakte Form übersetzt. Die inkommensurablen und variablen Formen des Risikos werden in eine singuläre Form verwandelt: abstraktes Risiko.

Es geht hier, wie auch schon John Milios vermerkt hat, nicht um zwei getrennte Formen, sondern um zwei untrennbare Dimensionen des Risikos, die im Handel von Derivaten involviert sind. Jedes Derivat ist im Einzelfall qualitativ, partikular in der Erfassung eines bestimmten Ensembles identifizierbarer Risiken und es ist systemisch, insofern das abstrakte Risiko als Mediation den Markt mitproduziert. Die konkreten Risiken sind wiederum notwendig, damit eine sozial generierte Volatilität stattfinden kann. Die abstrakten Risiken synthetisieren, damit die Preissetzung der Volatilität überhaupt möglich ist. Mit ihm wird die Konnektivität erst hergestellt. Abstrahiert von all den sozio-ökonomischen Kontexten können die abstrakten Risiken durch mathematische Formeln wie die Black-Scholes-Gleichung konkrete Risiken vergleichen und quantifizieren.

In einem gegebenen Markt ist ein konkretes Risiko (die Fluktuation von Währungen) partikular und wird durch eine fluide, heterogene Zirkularität erzeugt, aber als abstraktes Risiko ist es eine individuierte Dimension einer homogenen und systemischen Mediation, die auf die Reproduktion des Marktes als Totalität abzielt. Das abstrakte Risiko zielt genau auf das ab, was die Agenten ausnahmslos und unbewusst tun, nämlich den Markt als eine Totalität imaginieren, sodass er liquide bleibt, und zwar durch zahllose Iterationen der Preissetzungen hindurch und unter Umständen, die sich andauernd verändern, insbesondere solche, welch die Rekalibration der Preise erst ermöglichen. All die in diesen Relationen inkludierten Relationen werden an den Finanzmärkten ausgepreist, sie zirkulieren und auf sie wird spekuliert. Die Agenten verkennen dabei andauernd die sozialen Dimensionen des Risikos, gerade indem der Markt als eine objektivierte und formale Konstruktion erscheint.

Die abstrakten Risiken subsumieren die konkreten Risiken und sorgen als Mediator für die Liquidität, die den Derivatmarkt erst ermöglicht. Ohne das abstrakte Risiko gibt es keine Liquidität und keinen Derivatmarkt. Es ist nicht die Realökonomie, welche die Finanzökonomie vorantreibt, sondern es ist umgekehrt die Finanzökonomie, welche die Realökonomie strukturiert. Das vom Risiko getriebene Derivat ist das neue Mittel, welches die Zirkulation vernäht, indem es die Risiken objektiviert (durch Abstraktion und Monetarisierung) und damit genau diejenige Konnektivität herstellt und handelt, welche das Kapital benötigt. Vollkommen anonyme Agenten und Organisationen werden durch ihre Partizipation an Märkten, die auf risikobasierten Transaktionen beruhen, zusammengeführt.

Das neue zirkulatorische Regime beruht weniger auf der Macht Staaten, es ist kulturell diffus und enthält eine höchst abstrakte Gewalt, die in einem spekulativen Ethos kulminiert, nämlich der Abstraktion des Risikos, einer monetarisierten Subjektivität und einer Reorganisation der Beziehungen zwischen Produktion und Zirkulation. Zwar kann die finanzielle Zirkulation die Produktion nicht ersetzen, aber sie gibt ihr eine neue Gestalt. Die Allokation des Kapitals wird immer stärker von finanziellen und derivativen Interessen dominiert.

Für LiPuma ist der Shareholder-Value ein wichtiges Mittel zur Regulation von Unternehmen, das zudem den Shift von der Warenproduktion hin zum Derivat anzeigt: Die Gleichsetzung des Firmenwerts mit seinem Marktpreis und damit mit kontinuierlich fortfahrenden Preissetzungen plus die Annahme, dass der Markt einen objektiven und nicht-personalen Richter des Firmenwerts darstellt. Durch seinen massiven Einfluss auf den Kredit, die Währungen und die Kapitalmärkte infiltriert das spekulative Kapital die Finanzierung in die Realökonomie und sickert in den Logos der Reproduktion der Produktion ein. Die Bewegung des Börsenwerts der Firma ist nun das einzige Maß, um insbesondere den Shareholder-Value zu generieren. Und dies inkludiert die zeitliche Kompression der Horizonts der Investoren, deren kurzfristige Perspektiven die Produktion nun massiv beeinflussen, gerade indem relative Trennungen zwischen der Zeit der Allokation des Kapitals und der Zeit der Produktionsprozesse eingeführt werden. Die Periode, in der eine Aktie gehalten wird, meist nur noch von Quartal zu Quartal, ist viel geringer als die Zyklen des Produktumschlags. Dies ist auch insofern wichtig, als die Finanzialisierung die Besitzer von Häusern zu passiven Investoren gemacht hat, die nun ihre Ersparnisse den institutionellen Fondsmanagern anvertrauen müssen. Zudem übersteigen die Einkünfte der Aktien die Gewinne, die aus dem Verkauf von Produkten resultieren, auf die jene bezogen sind. So steigt mit der Quantität der Gelder, welche die Fondsmanager bewirtschaften, ihr Einfluss und ihre Macht in den Unternehmen, deren Strategien nun darauf bedacht sein müssen, den Strategien des spekulativen Kapitals unabhängig von der Vermarktung ihrer Produkte (langfristige Strategien oder lokale Anbindungen an die Konsumenten) nachzukommen.

Die Logik des Shareholder-Values besteht darin, die Abstraktion des spekulativen Kapitals vom Körper des Unternehmens zu ermöglichen und gleichzeitig diesen radikal umzustrukturieren, das heißt in jedem einzelnen Aspekt des Unternehmens ein Potenzial, zu sehen, aus dem noch Profite herauszukitzeln sind. Tag und Nacht sucht ein Heer von Analysten weltweit nach verborgenen Quellen der Verwertung, i.e. Aspekten des Unternehmens, die zukünftig monetarisiert werden können, aber bisher in den Akteinkursen noch nicht reflektiert sind. Der Shareholder-Value ist der Logos des Derivats, wenn man diesen auf die Umgebung des Unternehmens bezieht. Dabei wird der Unterschied zwischen Kapital und Unternehmen zunehmend ausgelöscht, insofern jeder Aspekt auf die Monetarisierung ausgerichtet wird, auf die Transformation des Unternehmens als eine soziale Organisation in eine Maschine zur Verwertung des Kapitals. Der Unternehmensprofit wird nun direkt an die derivative Profitlogik des Kapitals angebunden. Die Logik des Shareholder-Value zeigt die Logik des Derivativen an: die direktionale und quantitative Vermehrung innerhalb einer Spiralbewegung, welche das spekulative Kapital selbst designt.

Unter dem Produktionsregime erscheint das Kapital als Geld oder Ware, abhängig von den Perspektiven auf die zyklische Bewegung der Kapitalakkumulation. Der Aufstieg des Derivativen durchtränkt das Kapital mit einer zusätzlichen Dynamik, indem es sich vom Kredit als Zahlungsmittel hin zu einem durch das Risiko bestimmten Vertrag entwickelt, der sich wiederum auf den Kredit bezieht. Diese Entwicklung war dem Kapital von Anfang an inhärent und latent. Der sich selbst verwertende Wert erscheint nun objektiviert in der materiellen Form eines geschriebenen Derivatvertrags. Jeder Vertrag und jede Transaktion ist als die Fortsetzung innerhalb einer komplexen zirkulatorischen sozio-ökonomomischen Struktur zu verstehen, wobei das Soziale zunehmend in der derivativen Struktur aufgeht.

In gewisser Weise kann der Aktienpreis selbst als Derivat angewiesen werden, das auf das Underlying »Unternehmen« bezogen ist, wobei die Optionen, die auf den Akteinkurs laufen, als Derivate auf Derivate zu verstehen sind, sodass die Finanzmärkte selbst zu Orten transformieren, an denen über die Zukunft der Unternehmen entschieden wird. Im Gegensatz zu den Fundamentalanalysen, welche das Business eines Unternehmens einfangen, generiert die technische Analyse das Unternehmen ausschließlich auf der Grundlage der Trajektoren und der Volatilität seines Aktienkurses. Insbesondere für Tech-Unternehmen, die noch keine Produkte herstellen, ist die technische Analyse ein willkommenes Tool, um jetzt schon die in des Unternehmen implementierten Risiken zu messen. Ein wichtiger Interessenkonflikt im 21. Jahrhundert wird zwischen dem spekulativen Kapital und den Managern der industriellen und kommerziellen Unternehmen stattfinden, und dies geht weit über die Zerrüttung des Fordismus, wie dies von den meisten produktionsorientierten Theoretikern des Marxismus wie Harvey angenommen wird, hinaus.

LiPuma untersucht in einem weiteren Abschnitt die verschiedenen Institutionen des spekulativen Kapitals. Der erste Faktor sind Geschäfts- und Investmentbanken, die in an den Derivatmärkten spekulieren. Diese Unternehmen besitzen interne Hedgefonds, die mit dem firmeneigenen Kapital spekulieren, das heißt mit dem Kapital der Shareholder, und dabei gehebelte Strategien verwenden, um den Shareholder-Value zu erhöhen. Weitere Player sind die unabhängigen Hedgefonds, die vom Niedergang der langfristigen Strategien und der steigenden Volatilität an den Kapitalmärkten profitieren. Ein weiterer Akteur sind die finanziellen Abteilungen der großen transnationalen Unternehmen, die nun schneller wachsen als die industriellen Abteilungen und selbst als Nicht-Banken-Banken an den Geld- und Kapitalmärkten spekulieren. Dann gibt es noch die vom Staat unterstützen Unternehmen wir Fannie Mae und Freddie Mac. Sie verfügen über riesige Geldsummen, die sie zum Teil in die eigenen Hedgefonds investieren, um die Akkumulation ihres spekulativen Kapital zu beschleunigen.

Die Analyse der Derivate kann nicht von der Produktion des Wissens und seiner Zirkulation getrennt werden, ja es findet in der ökonomischen Theorie eine Objektivierung statt, welche die relationalen sozialen Objekte als natürlich erscheinende Objekte konstruiert.

Das soziale Leben wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend globalisiert, fragmentiert und ohne die Mitwirkung des Staates dezentralisiert. Die globale Ordnung gleicht heute einem derivativen Markt. Und das spekulative Kapital bildet die Speerspitze der globalen Märkte. Die heutige globale Ordnung ist omnivor, insofern sie alle möglichen Formen der Ökonomie umfasst, wobei die Zirkulation des finanziellen Kapitals die hegemoniale Dimension darstellt. Auf einer oberflächlichen Ebene entkoppelt sich das zirkulierende finanzielle Kapital von der Produktion, aber auch einer strukturellen Ebene gräbt es sich tiefer in die Prozesse der Produktion ein und löst dort auch Krisenprozesse aus. Das finanzielle Kapital konstituiert eine transformierte Art und Weise, den Reichtum zu produzieren und zirkulieren zu lassen, und zwar durch eine Versicherungsmaschinerie, welche das Design und die Verteilung der Risiken, die in der Zirkulation des Kapitals implementiert sind, redesignt. Und zwar mittels einer Mathematik und einem spezifischen Wissen vor ihr, das darin resultiert, dass die Mathematik und das, was ontologisch ist, gleichgesetzt werden. Die finanziellen Modelle überspringen oft den Punkt, der den mathematische Raum als eine ideelle Sphäre vom sozialen Raum trennt.

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