LiPumas “The Social Life of Financial Derivatives” (3)

Um das Soziale der Finanzmärkte zu diskutieren, untersucht LiPuma das in den Dispositionen der an den Finanzmärkten arbeitenden Akteure verkörperte Soziale sowie das Soziale solcher Institutionen wie Hedgefonds, das implizite Soziale der Derivate selbst und das der Strukturen der Handelspraktiken. Dies alles sind Objektivierungen des Sozialen. Die Objektivierungen sind in den sozio-ökonomischen Strukturen anwesend, die durch die Finanzmärkte gestaltet werden: Das Derivat, der Markt, die Logik des spekulativen Kapitals, die Finanzialisierung der Haushalte, das Auftreten der Risiken als eine soziale Mediation, die Entstehung neuer Formen der Zeitlichkeit, eine zunehmend abstrakte Form der strukturellen Gewalt, die Dominanz der Zirkulation gegenüber der Produktion. Die Finanzmärkte benutzen diese Strukturen, um Bilder, Informationen, Währungen und Assets aller Art zu monetarisieren. Das Soziale, das durch die sozio-ökonomischen Strukturen organisiert wird, ist institutionell in den Wettbewerb der Akteure untereinander implementiert. Dieser Wettbewerb bezieht sich auf den sozialen Status, die Konzeptionen der Arbeit, Initiationsriten, auf Sensibilitäten für das Haben und die Selbstidentität, auf Fairness und Bilder der emerging markets, auf den spekulativen Ethos, die Lebensführung, die durch die Finance bestimmt wird, auf das Vertrauen auf die Mathematik und schließlich auf die Immersion einer derivaten Logik, welche die Geschichte und das Soziale naturalisiert. Je erfolgreicher die spekulative Logik in den Habitus der Markteilnehmer eingeimpft wird, desto stärker vertreten diese gemeinsam ein unhinterfragbares Ensemble von Standpunkten, generativen Schemata und Dispositionen, und desto mehr wird das Soziale durch das Feld ihrer Visionen auch verdunkelt.

Das Resumee: Die Marktteilnehmer geben sich genau den Märkten hin, die sie selbst aktiv produzieren und reproduzieren, und zwar durch die Verkörperung von generativen Schemata, die in ihren Arbeitsregimen verkörpert sind. Die Konstruktion des Sozialen als ein abstraktes Objekt, das durch das Risiko qualifiziert wird, reduziert das Soziale auf ein finanzialisiertes Kalkül. Das Soziale wird dabei selbst noch von solchen Analysen verdunkelt, welche die Finanzmärkte als ein Spektakel konstruieren, als eine externe Realität, die man am besten versteht, wenn man die Verhaltensweisen der Marktteilnehmer bezüglich des Handels der Assets beobachtet – Verhaltensweisen, welche zudem das Wissen produzieren, das die Teilnehmer benötigen, um es profitabel in genau diejenige Realität einzusetzen, welche von der Theorie beschrieben wird.

Der Markt wird schließlich durch eine asoziale instrumentelle Rationalität zusammengehalten. Dem liegt die Logik des abstrakten Risikos zugrunde, die in einer Zahl, die der Derivatpreis ist, kristallisiert ist. Das Wissen über die Finanzmärkte verdichtet sich hier in den Annahmen über die rationalen Agenten, der Vereinheitlichung der Informationen und der Idee von der Abgeschlossenheit eines perfekten Marktes. Für LIPuma ist es die “efficient market hypothesis”, welche im Kern das repräsentiert, was er “Illusio” nennt, die als eine Voraussetzung für die scholastischen Analysen und als ein Haltepunkt im Spiel an den Finanzmärkten dient. Die Illusio bezieht sich weniger auf theoretische Inkonsistenzen als auf bestimmte Formen der Verkennung, die Komponenten der realen Relationen der Produktion von finanziellen Zirkulationen sind.

LiPuma sieht zudem eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem finanziellen Trader und dem Poker-Spieler, eine sozial erzeugte Gier, die darin besteht, dass hier ausschließlich das Geld zählt und es niemals eine Grenze für den Wunsch gibt, Geld zu akquirieren, weil es selbst das Mittel ist, um das Spiel am Laufen zu halten. Dies sozio-spezifische Form der Gier, welche die Marktteilnehmer beherrscht, basiert ganz auf der Akquirierung von Geld. Es gibt eine performative Kreation des finanzialisierten Subjekts durch die permanente Wiederholung der Akte der Akquisition von Geld. Ein tief sitzender, unbewusster Zwang, dessen Erscheinung in den alltäglichen Praktiken die Form eines unter den Agenten herrschenden Triebgeschehens annimmt.

Um das Soziale weiter zu verstehen, gilt es die außerordentliche Lücke zu berücksichtigen, und zwar zwischen den ökonomischen Modellen, die gebraucht werden, um den Markt zu modellieren, und den Begründungen, diese Modelle zu gebrauchen. LiPuma konstatiert das Paradox, das einerseits die Finanzökonomie die Investition und damit auch die Abhängigkeit von einem Set von finanziellen Modellen benötigt, die dazu da sind, um das Risiko zu bestimmen (Modelle, welche systematisch die Kräfte der sozialen Unsicherheit umklammern), und andererseits eine Performativität benötigt wird, welche die Voraussetzung für den Erfolg der Modelle und für die Fortführung der Märkte ist. Die Aktionen der vereinzelten Agenten sind intrinsisch kollektiv. Der Handel mit Derivaten und die Spekulationen auf ihren zukünftigen Wert, die voraussetzen, dass die Agenten das nicht vorhersehbare abstrakte Risiko anerkennen, sind für die Agenten selbst nur möglich, wenn sie bestimmte Dispositionen einnehmen, die wiederum auf plurale Formen der Rationalität bezogen sind (die Maximierung des Profits, die wettbewerbliche Dynamik, das Selbstwertgefühl, das spekulative Ethos und selbst ein gewisser Nationalismus). Diese Dispositionen, welche jeden Kauf und Verkauf von Derivaten und zudem die Vergangenheit mit der Zukunft vermitteln, beruhen auf der Relation zwischen der Organisation dieser Dispositionen, die konstitutiv für den Habitus der Agenten sind, und der Struktur der Möglichkeiten, die konstitutiv für das finanzielle Feld zu jedem erdenklichen Zeitpunkt sind. Das finanzielle Feld und die spezifischen Märkte benötigen die kognitiven und generativen Schemata, welche die Agenten in ihren Versuchen das Feld und die Märkte zu erfassen, implementieren. Die Märkte besitzen für LiPuma eine performative Dimension, welche das ihnen inhärente Ritual unterstützt, das in den sozialen Praktiken verkörpert ist. Die Derivate sind also als relationale Objekte zu verstehen, die innerhalb des sozialen Imaginären der Märkte funktionieren. Sie existieren nur, insofern sie in den Praktiken der Agenten objektiviert sind und als solche auch interpretiert werden.

LiPuma bemüht sich über den ganzen Text hinweg um die Analyse einer durch und durch monetarisierten Subjektivität, die auf der permanenten Akquisition von Geld beruht. Dies ist spezifisch für die Relation zwischen den Märkten und den Marktteilnehmern, die bereit sind, das spekulative Spiel mitzuspielen. Was die Trader motiviert, in das Game zu investieren, ist komplexer als die wissenschaftliche Definition eines Agenten, der seinen Nutzen maximiert, oder als die populäre Vorstellung einer anthropologisch fundierten Gier.

Ständig greift LiPuma auch das Thema »Liquidität« auf. Die Liquidität ist mehr als nur eine Metapher für die Fluidität des Marktes. Sie betrifft die Kapazität der Ökonomie, Kapital zirkulieren zu lassen, i.e. die frei flottierende Zirkulation von Kapital ist eine notwendige Bedingung für die Existenz der Ökonomie im 21. Jahrhundert, deren konstitutives Merkmal die Zirkulation ist. Konstitutiv für diese Ökonomie ist also die Zirkulation des spekulativen Kapitals, der Gebrauch der neuen Informationstechnologien, um die Kapitalströme zu gestalten und voranzutreiben und um schließlich die technologisch unterstützte Produktion der Bilder voranzubringen, welche die Marktteilnehmer bei ihren Entscheidungen spekulativ und global zu handeln, rund um die Uhr informieren. Die Liquidität wird häufig als ein Synonym für die sozialen Relationen gebraucht, die es den Agenten erlauben, das kollektive Unternehmen zu konstruieren, das der Markt ist. Ein Markt, der für einen Vertragspartner immer den Gegenpart bereithält, ein Markt, der homogen ist und permanent die Volatilität zur Verfügung stellt, welche erst die Rekalibrationen ermöglicht, die für die Fortführung des Marktes notwendig sind. Es gibt einen notwendige Verbindung zwischen den kontingenten und oft unvorhersehbaren finanziellen Ereignissen und der Konstruktion des Marktes als Totalität. Die Derivatmärkte sind unbedingt abhängig von der Liquidität.

Im Gegensatz zu klassischen Waren wie Häusern und anderen Produkten besitzen Derivate keinen intrinsischen Wert, sie besitzen auch keinen ordinären Gebrauchswert. Für LiPuma sind sie eine Nullsummen-Wette auf extrinsische Einkommen zwischen konkurrierenden Parteien. Dabei müssen die Marktteilnehmer auf die an den Märkten vorhandene Liquidität und an den Preismechanismus auf Basis der Nicht-Arbitrage unbedingt vertrauen. In der letzten Finanzkrise ist die Liquidität an den Kreditmärkten innerhalb kurzer Zeit fast völlig verdampft. Die finanziellen Institutionen horteten das Kapital anstatt es zu investieren, da sie fürchteten, dass ihre Kontrahenten schon insolvent und die Preissetzungen von Derivaten ineffizient sein könnten. Selbst die Market-Maker wurden von der Furcht ergriffen, dass das nächste finanzielle Ereignis die Insolvenz der Konkurrenten anzeigen könnte. Die Marktteilnehmer verloren schnell das Vertrauen untereinander und in die Märkte selbst. Es fand zuerst in den USA ein Deleveraging bezüglich der Hypothekenkredite und der auf sie bezogenen Derivate statt. Die Kreditgeber litten an der sich beschleunigenden Akkumulation nicht-performender Assets, die ihre Bilanzen nahezu bedeutungslos machten, was eine ganze Reihe von finanziellen Institutionen betraf, angefangen von den Hedgefonds und Versicherungen über die staatlich unterstützen Organisationen bis hin zu den Investmentfonds, deren auf Hypothekenkredite bezogene Derivate schnell an Wert verloren. Das Gespenst der Insolvenz ging um. Eine tiefe Unsicherheit übernahm die Kontrolle über die finanziellen Agenten und ihre Institutionen. Die finanziellen Institutionen gingen also nicht wegen mangelnder Vermögen und Kapitals, sondern aufgrund fehlender Liquidität insolvent. Es war, und das gilt es in Erinnerung zu halten, die Erfindung der auf Liquidität basierenden Derivate, welche selbst Häuser zu Finanzanlagen machten.

Die Securization ist eine synthetische Form der Zirkulation, die mittels Instrumenten geschieht, welche darauf basieren, Fakten wie Zinsraten, Insolvenzen, Währungsrisiken und Derivatpreise zu kalkulieren, kontrollieren und zu kapitalisieren. Die Derivate sind nicht in der Produktion verankert, sondern in der Zirkulation begründet – in und durch die Geldströme, welche wiederum auf die Liquidität bezogen sind. In der Produktionssphäre gilt das Geld als das allgemeine Äquivalent, das den Wert der Waren misst, in der Welt der Zirkulation der Derivate ist das Geld ganz auf sich selbst bezogen, wobei nicht nur die Derivate auf einander bezogen werden, sondern selbst noch das Underlying zu einer abstrakten Relation transformiert wird. Für LiPuma ist das Derivat eine Wette auf diese abstrakte Relation, für die es an den Märkten keine natürlichen Grenzen gibt, und für das Leverage liegt die Grenze in der Bereitschaft der Marktteilnehmer, Risiken einzugehen und Unsicherheiten zu diskontieren. Da die Marktteilnehmer alle mit einer ähnlichen Palette von Modellen, Konzepten und Motivationen arbeiten, imaginieren sie die Fabrikation der Derivate als eine simple Expansion eines wiedererkennbaren Typus von Instrumenten, was wiederum für die Community heißt, dass die Derivate als Ressource für Profite zu jeder Zeit effizient zu managen sind, gerade weil die Derivate ein akzeptiertes Modell sind, das akkurat die Volatilität der Preise oder das Verhalten der Marktteilnehmer vorauszusehen ermöglicht.

Das spekulative Kapital besitzt gerade den Effekt, Märkte mit steigender Volatilität und höheren Risiken zu erzeugen. Dabei erreicht die Zirkulation des spekulativen Kapitals eine gewisse Autonomie, die durch die Erfindung von derivativen Instrumenten, die Abstraktion und die Transformation von Unsicherheit in quantifizierbare Risiken und die Proliferation des spekulativen Kapitals selbst gekennzeichnet ist. Diese Prozesse setzen eine beschleunigte Komplexität und eine steigende Konnektivität in Gang, sodass die finanziellen Institutionen immer stärker voneinander abhängig werden, obgleich gerade dies unsichtbar bleibt. Diese »quantum interdependence«, bei der das Schicksal des Einzelnen gerade an das Schicksal des Kollektivs gebunden ist, bleibt ein Resultat der Nachfrage der Trader nach einer immer höheren Liquidität. Und diese Liquidität ermöglicht wiederum ein höheres Leverage, wobeiu die Kosten des Ausleihens auf der Perzeption des Verleihers beruhen, wie einfach und effizient er im Falle des möglichen Ausfalls Kredite abstoßen oder den Ausfall kompensieren kann. Wenn die Kreditgeber ein positives Vertrauen in die Liquidität an den Märkten haben, dann fallen die Kosten für das Leveraging der Transaktionen, während die Möglichkeiten für das spekulative Kapital ansteigen. Und die Konnektivität, die auf dem kollektiven Vertrauen der Marktteilnehmer an der Funktionalität der Märkte beruht, wird auch steigen. Dabei werden die Derivate heute zu 90% an den nicht regulierten OCT-Märkten gehandelt, was weiter heißt, dass sie keine standardisierten Produkte sind.

In zeitlicher Hinsicht perpetuiert das zirkulatorische Kapital den Tretmühleneffekt. Was für die Trader kurzfristig rational sein kann, ist eventuell unter systemischen Gesichtspunkten irrational und destruktiv. Die strukturelle Dynamik der Verbriefungsketten ist aus anderen Texten bekannt, sie resultiert in der Notwendigkeit das Leverage der Portfolios ständig zu steigern, indem durch das Ausleihen von kurzfristigen Geldern mit niedrigen Zinssätzen das Geld zur Finanzierung der längerfristig laufenden CDOs mit höheren Zinssätzen besorgt wird. Dies war bei der letzten Finanzkrise möglich, weil zwei Zyklen des Leverage aufeinander bezogen waren: Die Hausbesitzer hebelten ihre Häuser als Finanzanlagen und die Manager ihre Portfolios. Die miteinander vernähten Märkte trieben durch die selbstbezogene direktionale Dynamik in eine sich gegenseitig befeuerte Instabilität. Wenn jedes an den verschiedenen Finanzmärkten erreichte Hoch ein neues Plateau darstellt, von dem aus das spekulative Kapital die Möglichkeit fallender Profite ausschließt, dann führt dies zur Krise als einem systemischen Fehler, obgleich von den diversen Versicherungsgesellschaften immer wieder und weiterhin behauptet wird, dass es systemische Fehler nicht gäbe.

LiPuma nennt drei Faktoren, die für die Finanzkrise ausschlaggebend waren: Die Strategien der Verbriefung waren inhärent an eine Phase und Strategie der Euphorisierung gebunden, angefangen von den Hypothekenkrediten bis hin zu den Derivaten. Da alle Systeme, in die der Mensch eingebunden ist, intrinsisch sozial sind, kann das Potenzial von Fehlern, welch das System enthält, nicht auf die indivíduellen Aktionen und Dispositionen der Agenten reduziert werden. Man versucht zwar die Verhaltensweisen der Akteure mit mathematischen Modellen zu regulieren, hat aber selbst keine Ahnung, wie die Kapital-Ökonomie diese Regelmäßigkeiten erst erzeugt. Die Frage besteht nicht darin, ob Finanzmärkte effizient oder nicht effizient sind, sondern warum die Märkte nur partiell und bis zu einem Punkt effizient sind, an dem ihre Funktionalität nur relativ ist oder an dem sie für eine gewisse Periode ganz verschwindet. Schließlich ist die gegenwärtige Kapitalökonomie an den Tretmühleneffekt gebunden, insofern der Druck, der durch die Konkurrenz an den Märkten erzeugt wird, das Kapital immer näher an seinen eigenen Abgrund schiebt. Es werden dabei sozial kollektive Dispositionen geschaffen, welche das Verhalten der einzelnen Akteure in eine bestimmte Richtung lenken.

 

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