LiPumas “The Social Life of Financial Derivatives” (5)

Für LiPuma stellt sich, wenn man das Soziale der Finanzmärkte untersucht, folgende entscheidende Frage: Wie kann sich ein Markt über die Akte der Replikation des Derivativen selbst reproduzieren? Die Analysen über die Finanzmärkte vergessen allzu schnell, dass der Markt kein simples Setting ist, an dem die Akteure bestimmte Transaktionen exekutieren, sondern ein Mittel oder ein Rahmen, durch den die Transaktionen der Akteure erst möglich werden. Die gängigen Finanztheorien setzen einen Markt voraus, der seiner Natur nach eine ontologische Integrität besitzt, welche Raum und Zeit transzendiert. Ayache hat diese orthodoxe Sichtweise zum Markt in Frage gestellt. Für Ayache werden an den Derivatmärkten kontinuierlich kontingente Ereignisse abgewickelt, die durch ihre Kontingenz den wahrscheinlichkeitstheoretischen Modellen, welche die Finanzmathematik der Derivate begründen, nicht zugänglich sind. Die Derivatmärkte sind also selbst Teil der derivativen Preisbildungstheorie, was die herkömmlichen Finanztheorien sträflich vernachlässigen.

Mit den mathematischen Standardmethoden können die singulären finanziellen Ereignisse nicht erfasst, sondern nur nachträglich interpretiert werden. Die Derivathändler benötigen die wahrscheinlichkeitstheoretischen Modelle aber nur, um über sie hinauszugehen. Im Gegensatz zu den durch die Finanztheorie hypostatisierten Märkten, rekalibrieren die aktuellen Märkte konstant die Preise. In der Tat gibt es keinen Preis als den Spread zwischen ask und bid. Dieser Spread muss kontinuierlich abgeglichen werden, falls die Märkte überhaupt existieren und liquide bleiben wollen: Der Marktpreis ist in jedem erdenklichen Preismodell der Input und nicht der Output. Die Trader überschreiben den Markt kontinuierlich in einer Art und Weise, welche die Modelle nicht zu erfassen vermögen. Und dieses „rewriting the market“ ist im Habitus der Trader verankert, der die Inskription des Konstituierten ist, welches das Konstituierende strukturiert. Indem Ayache sich auf Bergson bezieht, kann er sagen, dass die Realität des kontingenten Ereignisses gleich der Realität des Marktes sei.

Nichts exemplifiziert die Konstitution des Marktes und der Motivationen heute mehr als die Spekulation. Der Drive, diese Art von derivativer Wette permanent zu erzeugen, was gerade die euro-amerikanischen Finanzmärkte seit den 1970er Jahren auszeichnet, hätte niemals in diesen gewaltigen Dimensionen zirkulieren können, wenn es keinen speziellen derivativen Rahmen gegeben hätte: Eine reale soziale Entität, deren realness gefühlt und gewusst wird, weil sie die motivierten Aktionen der Akteure bedingt, einrahmt, orientiert und kanalisiert.

Die Frage ist, wie „Wir“ zu diesem kollektiven Glauben an diesen Typus von Totalität kamen, der als Vorlage für die Kreation von spezifischen Märkten gilt. Wie produziert und reproduziert das finanzielle Feld die kollektiven Agenten? Und wie führt das, was die Akteure an den Märkten tun, zu einer Totalität namens Markt? Dabei ist die Standardisierung und Formalisierung der Praktiken der Akteure Teil der wichtigsten Strategien an den Märkten, die diese benutzen, um sich selbst zu totalisieren.

Je stärker ein Markt institutionalisiert ist, desto sichtbarer wird er in der Öffentlichkeit. So wurde der Aktienmarkt zum Paradigma für die Funktionsweise aller Märkte, wobei gerade das Design der OCT-Märkte wenig Ähnlichkeiten mit dem Aktienmarkt besitzt, signifikant, weil er exponentiell größer (mit einem Faktor 100), globaler und direkter in die Funktionsweisen der Realökonomie implementiert ist. Die Trader können in diesem Raum der Operationen, welcher der Markt ist, gegeneinander konkurrieren, sich assimilieren und auf die Volatilitäten der bid-ask-Spreads und die Preisfluktuationen antworten, weil sie den Markt als Totalität je schon angenommen und vorausgesetzt haben. Die Trader sehen wohl eine Analogie und Affinität zwischen dem, was sie tun, und einem professionellen Athleten, der, wenn er das Spiel mitspielt, die Totalität des Spiels annehmen und auf seine tief eingeschriebenen Sensibilitäten vertrauen muss, um das Spiel gut zu spielen.

Wie lässt sich nun der Derivatmarkt im Sinne LiPumas problematisieren? Wie sind die von den Akteuren ausgeführten kontingenten Transaktionen einzuschätzen, deren Vollendung von der kollektiv angenommenen Voraussetzung der Existenz eines Marktes vorhergesagt wird, welcher die Transaktionen mittels dieser Realisierungen produziert? Die dynamische Rekalibration erfordert eine sozialisierte Subjektivität, die in dem Glauben der Marktteilnehmer besteht, dass es eine Totalität namens Markt gibt, selbst wenn dieser nur als ein abstrakter Raum für Kalkulationen angenommen wird, der ihre Motivationen anreizt und selbst noch ihre Körper durchquert. Die Derivatmärkte besitzen keine Tradition und keine Gesetze, sie sind historisch singuläre Inventionen, deren Existenz von der Liquidität nicht getrennt werden kann. Intrinsisch sind sie für LiPuma auf mikroökonomischer Ebene eine Nullsummenwette zwischen konkurrierenden Kontrahenten über eine extrinsische Angelegenheit. Derivate besitzen keinen intrinsischen Wert, wiederholt LIPuma immer wieder.

Ein Derivatmarkt muss die eigenen Prinzipien seiner Formation gestalten und einsetzen. Es muss jetzt geklärt werden, wie das Ritual, das in die sozialen Relationen des Kaufens und Verkaufens eingeschrieben ist, performativ den Derivatmarkt objektiviert. Diese Performativität ist notwendigerweise prospektiv und nicht retrospektiv, prospektiv im Senden von bid und ask Preisen (welche die Liquidität einsetzt) und retrospektiv aber in der Exekution eines Trades (der die Kontrahenten und die neuen Preisbewegungen einsetzt). Für LiPuma muss der Markt und seine Determinationen sowohl als ein System/Totalität als auch als eine Arbeit/Praktik von reflexiven Akteuren begriffen werden. Ein Markt ist dann ein spezifischer sozialer Raum, der für bestimmte Modi von Praktiken von Akteuren designt wird, i.e. Verhaltensweisen (der Gebrauch des spekulativen Kapitals, um risikobehaftete Derivate in die Zirkulation zu bringen), die durch die Konnektivität der kognitiven und motivierenden Strukturen (Wettbewerb, Selbstwertschätzung, Profit, Risiko) zusammengehalten werden, die diese Verhaltensweisen auch vorantreiben.

Die brennende Frage ist hier, warum die Determinationen, die zu spezifischen Märkten führen, zumindest zeitweise Märkte nach sich ziehen, die regulär und rational sind, aber dies eben nur partiell, insofern die Rationalität immer wieder von Phasen erhöhter Volatilität abgelöst wird, die manchmal so hoch ist, dass die Liquidität verdampft und die systemischen Fehler der Märkte mit aller Konsequenz auftauchen. Warum sind also die Regularitäten der Märkte oft so irregulär? (Dabei gilt es auch an dieser Stelle wieder darauf hinzuweisen, dass der Markt keine Objekt-Kategorie, sondern ein Set von sozialen Relationen darstellt. Wird dies ignoriert, dann kommt es wie in der herrschenden Wirtschaftstheorie andauernd zur nicht reflexiven Naturalisierung des Marktes, insofern relationale Kategorien als Objekt-Kategorien behandelt werden, eine Art ontologischer Fehler, wie LiPuma bemerkt. Ein wichtiges Feature, dass relationale Kategorien von Objekt-Kategorien unterscheidet, ist ihre soziale und historische Determination.)

Es gibt also einiges mehr zu untersuchen, wenn man den Markt als soziale Relation fasst, als ihn lediglich als eine imaginierte Totalität zu analysieren. Relationale Kategorien wie der Markt werden nämlich in einer Art und Weise objektiviert und institutionalisiert, dass sie zur Totalität oder zum System führen. Die Kreation einer kollektiven, das heißt sozial imaginierten Totalität, benötigt die Konjunktion von quasi rituellen Formen der Objektivierung und zudem tiefen Prozessen der Institutionalisierung, in denen auch die Konstruktion des finanziellen Habitus stattfindet. Wenn Derivatmärkte spezifische Instrumente von zirkulierenden Relationen über Relationen sind, und zwar durch soziale Entitäten wie Verträge, dann muss der Markt, der dies bedingt, selbst eine Determinante sein.

Die soziale Logik der Finance kreiert einerseits die generelle Form Markt, der als ein totalisierender Rahmen für die spezifischen Sets der Beziehungen fungiert, und formt andererseits die Konnektivität, die für spezielle Märkte notwendig ist, an denen die Aktionen der Akteure mit der Produktion dieser Märkte das Konzept des Marktes reproduzieren.

Unter dem Gesichtspunkt der konkreten sozialen Relationen sind die Derivatmärkte als Prozesse zu verstehen, durch die die Akteure die Totalitäten objektivieren, an denen sie partizipieren. Die Frage ist nun, welche unsichtbaren Aspekte der Arbeit das Ganze namens Markt reproduzieren. Die Reproduktion des Marktes ist die nicht-intendierte Konsequenz von Aktionen, deren Wirksamkeit seine Existenz voraussetzt. Die Derivatmärkte besitzen nicht nur eine oberflächliche Performativität, die man mit den ausgetragenen Wetten beobachten kann, welche die Derivate kreieren, sondern auch eine tief performative Struktur, in der dieselben Aktionen in einem determinierten sozialen Imaginären dieses oder jenes Marktes begründet sind, welches den Markt bezüglich der Voraussetzung seiner Totalisierung stabilisiert und reproduziert. LiPuma verweist an dieser Stelle auf Michael Callon, der vom framing spricht, einem Rahmen oder Raum von Operationen, der es den Marktteilnehmern erlaubt, eine spezifische Interaktion zu kreieren und zu klassifizieren, um eine gegebene Transaktion als eine Wette bspw. auf die Volatilität der Euro-Dollar-Beziehung zu beschreiben.

Die Finance hält das Wort exotisch bereit, falls Derivate zum Zweck einer Profitmaximierung geschrieben werden, welche die Vorstellungen der Akteure von den Grenzen des Marktes überschreite: Was oft wie eine surreale Tretmühle erscheint, ist die Instandsetzung einer direktionalen Dynamik der Derivatmärkte, und zwar nicht nur in Richtung der Steigerung des Leverage, sondern auch einer steigenden Komplexität, insofern das Marketing der Produkte des spekulativen Kapitals die konstante Expansion desselben über die Grenzen des Marktes hinaus erfordert. Jeder will, so formuliert es ein Hedgefondmanager, ein Profitmonster werden. Dabei sind große Unternehmen mit hohem Geldkapital, dem entsprechenden Knowledge und hoher Interkonnektivität eindeutig im Vorteil.

Schließlich gibt es eine Form der Performativität, in und mit der jeder Marktteilnehmer den Markt imaginiert, nämlich ähnlich wie alle anderen auch. Die Technologien, die im Finanzsystem benutzt werden, vom High-Frequency-Trading über Algorithmen bis hin zu den mathematischen Modellen, haben den Effekt, das den Mäkten unterliegende Soziale, das der Reproduktion der Märkte dient, zu verschleiern und gleichzeitig die Sensibilität der Marktteilnehmer zu erhöhen, sodass sie eine scharfe, objektive und quantifizierende Beurteilung ihres Verhaltens vornehmen. Der objektive und autonome Charakter der echnologie wird ein Simulakrum für den autonomen und objektiven Charakter des Marktes. Die Technologie verbindet die Akteure in dem Maß, dass sie diese selbst als das Epizentrum ihres sozialen Lebens verstehen. Oft wird angenommen, dass man keine andere Wahl hat als stundenlang vor dem Bildschirm zu sitzen, auf dem die Charts und Trades flackern. Insgesamt handelt es sich hier laut LiPuma um eine anonyme Sozialisierung. Und dies involviert eine existenzielle Performativität, die Zuschreibung einer ganz spezifischen Sozialisierung, i.e. ein gegenseitig erwartetes Repertoire an Glaubensvorstellungen, Wünschen und strategischen Urteilen, die den Markt und das Verhalten der Marktteilnehmer betreffen, insbesondere auch bezüglich der Kontrahenten, deren Selbstrepräsentation nichts weiter benötigt als die elektronische Spur eines Trades an einem Bildschirm. Die Marktteilnehmer nehmen an, dass diese Strukturen reziprok und rekursiv seien, insofern die anderen ihr Verhalten in derselben Art und Weise wie das ihre gestalten würden, egal wie anonym die anderen auch wären, und dies selbst angesichts der Tatsache, dass die Transaktion, die auf dem Bildschirm erscheint, computergeneriert ist. Man nimmt einfach an, dass die Trading-Programme die intentionalen Absichten von Akteuren widerspiegeln. Die Trading-Programme und die Vorstellungen ihrer Programmierer haben wie die Ansichten der Trader einen generellen und standardisierten Gebrauchswert, den die Trader benutzen, um Tauschwerte zu gestalten und Profit zu erzielen.

Oft genug wurde festgestellt, dass die Marktteilnehmer den Markt verdinglichen und personalisieren und zudem die Marktbewegungen durch eine Reihe von Metaphern beschreiben, aber was für LiPuma an diese Stelle entscheidend ist, das besteht einfach darin, dass es eine Diskrepanz zwischen einer abstrakten, asozialen Agency und einem alltäglichen Raum der Trader gibt, an dem die Transaktionen und ihr Nutzen maximiert werden soll, wobei hier wiederum eine soziale Totalität namens Markt vorausgesetzt wird. Es geht darum, wie konkrete finanzielle Relationen in all ihrer sozialen Spezifität eine soziale imaginäre Totalität produzieren und reproduzieren. Dies ist der Markt als ein Mittel für den rationalen, den Nutzen maximierenden Agenten. Aber solch ein Markt hat niemals existiert, weil die Akteure intelligente und institutionell koordinierte Konzepte und Dispositionen übernehmen müssen, um überhaupt an den Märkten überleben zu können. Die Märkte sind auf einer systemischen Ebene organisiert, sie sind notwendigerweise mehr und anders als die Summe ihrer individuellen Teile. Man kann die systemischen Eigenschaften der Märkte nicht erfassen, indem man lediglich die Aktionen analysiert, die am Markt stattfinden. Es ist zwar nicht so, dass die individuellen Aktionen der Akteure unwichtig sind, sondern gerade weil sie eine differente Dimension der sozialen Realität erzeugen, setzen sie eine bestimmte sozioökonomische Struktur des Marktes und der Imaginationen über ihn voraus. LiPuma schildert das eindringlich in einer Analogie, nämlich anhand der Beschreibung des Irakkriegs, der ganz offensichtlich nicht durch die individuellen Aktionen der Soldaten erklärt werden kann. Das Insistieren auf strukturellen Formationen ist notwendig, weil diese zudem die Bedingungen für systematische Fehlentwicklungen setzen, und zwar auf der Ebene einer sozialen Totalität. Die Derivatmärkte geben selbst die Möglichkeit, dass man sie normalisiert und naturalisiert, sodass Märkte einfach das sind, was Märkte eben sind. Eines der wichtigsten Eigenschaften der Derivatmärkte inkludiert das Missverständnis über ihre eigenen Funktionsweisen.

Der Finanzmarkt ist eine soziale Imagination, eine tief institutionalisierte Imagination inklusive der Personen, die Vertrauen in diese Imagination besitzen, und Körpern, die ein Wissen inskribieren, plus ratifizierten Namen, registrierten Firmen und einer kodifizierten Geschichte: Indem ständig der Glaube und das Vertrauen problematisiert wird, rufen die Kommentatoren der märkte ohne es zu wissen eine Performativität auf, die man normalerweise der Religion zuschreibt: das Ritual. Für LiPuma ist der Markt damit eine soziale Totalität, ein praktisch relationales Konstrukt und eine Art analytisches Objekt, das durch die Wissenschaften konstruiert wird.

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