Lob der Anonymität

Es gibt es keine totale Anonymität, sie ist niemals perfekt und komplett. In Zeiten der sich perfektionierenden staatlichen und privaten Überwachungsapparate, die mit Techniken operieren, die von vernetzten Datenbanken über lernende Erkennungsalgorithmen bis hin zu biometrischen Ausweisen reichen, und ´dies im Modus des Abfeierns von moralischen Imperativen wie Offenheit und Transparenz, in diesen Zeiten also besitzt die Frage der Unwahrnehmbarkeit, der Unsichtbarkeit und der Anonymität eine enorme politische Bedeutung, ja selbst hinsichtlich der Konzeption der Freiheit. Freiheit transformiert hier zu einer negativen Bedingung oder Unterscheidung, nämlich eine Freiheit, die darin besteht, für die staatlichen und privaten Überwachungsapparate, für soziale und kulturelle Einschränkungen und für quantifizierende Erfassungen nicht mehr tauglich zu sein. Dies Freiheit kann in ihren besten Momenten neue Möglichkeiten eröffnen und den Mut befördern, endlich die Wahrheit über die Macht zu sagen. Die enorme politische Sprengkraft der Unsichtbarkeit liegt neben ihrer radikalen Negativität in der Schaffung neuer sozialer Räume für die Akkumulation nicht-zählbarer Gegenmacht. Die Anonymität ist eine Ressource, mit der ein unüberbrückbarer Abstand zur Macht hergestellt wird.

Heute werden fast Aspekte des Lebens in verwertbare Daten umgewandelt und dies ist als eine neue Form der kapitalistischen Einhegung zu verstehen. Unsere Verbindungen, sozialen Beziehungen und Freundschaften transformieren heute zu Informationen mit einem Preis oder Tauschwert. Die Extraktion der Daten, die über das soziale Leben der Bevölkerung informieren (über hier im Sinne eines überhöhten Standpunktes), und ihre Transformation in Waren und Kapital ist ein Zugriff auf das, was mal als ein Gemeinsames definiert war und auch so behandelt wurde.

Die Online-Anonymität ist heute ein ernsthaftes Hindernis für diejenigen, die mit der Extraktion von Daten, mit Datenanalysen und mit dem Datenhandel operieren. Währen die Online-Anonymität selbst in ihrer radikalsten und verbreitesten Form zu keinem Ende der Datenökonomie führen wird, so kann sie doch die bisher extrahierten Daten massiv entwerten. In solch einer Konstellation kann die Anonymität zur radikalen Abtrennung von der Kapitalisierung der Daten führen, die kategorisiert und in Hierarchien wie Alter, Klasse, Gender, Ethnizität und Erziehung übersetzt werden. Wenn Informationen über diejenigen, die anonym agieren nicht mehr verfügbar sind, so können Hierarchien, Abstände und Relationen, die zwischen den Anonymen bestehen, nicht mehr so leicht etabliert werden, womit durch die Anonymität in der Tendenz mehr Gleichheit und damit zugleich neue Assoziierungen, Dissidenzen und Instituierungen erzeugt werden, wobei zumindest temporär die Institutionalisierungen klassifikatorischer Systeme und Ungleichheiten überwunden werden, sodass neue Formen des Teilens, der Kommunalität und der Kollaborationen angestrebt werden können. Sogar ein neues gegenseitiges Umsorge kann sich dann einstellen.

Die Anonymität kann unter sozialen, diskursiven und technischen Gesichtspunkten und schließlich legal oder illegal hergestellt werden, indem die Abwesenheit von Information geradezu produziert wird. Etymologisch beruht das Wort Anonymität auf der Abwesenheit des Namens, wobei der Name eine Anleitung dafür gibt, die Anonymität zu konzeptualisieren, insofern er ein zentraler Faktor ist, um ganz spezifische Informationen unserer Person und unserem Körper zuzuordnen. Aber die Anonymität kann nicht einfach auf die Namenslosigkeit reduziert werden, denn selbst wenn wir namenslos sind, sind wir noch lange nicht gesichtslos, ein Faktum, das angesichts der ubiquitären Überwachungskameras und der Gesichtserkennungsmethoden, die heute durch lernende algorithmische Maschinen erzeugt werden, immer wichtiger wird. Die Dissidenz besteht darin, aus einem off zu agieren die Abweichung wird nicht nur durch die Spannungen des Vielfältigen hervorgebracht, die wir das Gemeinsame nennen, sondern durch ein außen, das wir mit unserer Unsichtbarkeit gegenüber der Macht erst erzeugen. Aber es kommt heute neben der Namens- und Gesichtslosigkeit noch die Spurenlosigkeit hinzu, die notwendig wird, da wir immer länger und häufiger online kommunizieren, während wir gleichzeitig offline gedankenlos und fahrlässig vielfältige Daten über unser genetisches Material preisgeben. Benötigt man überhaupt noch den Namen einer Person, wenn sie eine IP-Adresse und eine identfizierbare DNA besitzt? Oder wenn man rund um die Uhr sensorische Geräte wie das Smartphone benutzt?

Die Anonymität ist eine negative Bedingung, wobei ihre Produktionsweisen und Verteilungen sich historisch verändern. Und wenn wir die totale Überwachung durch den Staat betrachten, dann geht es nicht nur um dessen gegenwärtige, sondern auch um auf die auf die Zukunft bezogene Kapazitäten. Wenn die Datenbanken eine gewisse Komplexität erreichen, dann enthalten sie existierendes und potenzielles Wissen, wobei letzteres nur noch aktualisiert werden muss, sum neue neue Cluster und Verbindungen entstehen. Zu lassen Eine Datenbank mag keinen singulären Namen, aber genügend Informationen zu einer Person enthalten, um diese zu deduzieren, indem man bestimmte Bits mit anderen verlinkt. Anonymität kann hier oft als Schutz gegen die die Auflösung artifizieller Schranken dienen.

Für diejenigen, die über die sozialen Netzwerke verfügen und die Infrastrukturen für die Kommunikation bereitstellen und benutzen, ist die Selektion bekannter und vertrauenswürdiger Knotenpunkte, absolut notwendig. Anonyme oder dunkle Netzwerke halten hingegen nicht nur die Sender und Empfänger von Nachrichten anonym, sondern auch die Knotenpunkte und Kanäle, die die Nachrichten transportieren. Anonymität benötigt zudem ein gewisses Vertrauen, sie wird oft intentional hergestellt, wobei es aber auch Formen der Anonymität gibt, die nicht-intentional sind, man denke an die Anonymität der urbanen Plätze und Personen, die schon ein wichtiges Thema von Georg Simmel waren. Hier macht es Sinn zwischen der Anonymität und den Prozessen der Anonymisierung zu unterscheiden, letzteres ein Prozess, mit dem intentionale Konstellationen partieller Unsichtbarkeit, Spurlosigkeit und Unerkennbarkeit hergestellt werden. Oft enthält die intentionale Anonymität eine lange Ketten von Intentionen, bei denen die ersten Schritte die Anonymisierung die weiteren Schritte sicherstellen, um den Zustand und Abstand der Anonymität beizubehalten. Anonymität kann somit durch die Anonymisierung produziert werden.

Wenn wir uns fragen, wie die Anonymisierung in digitalen Umgebungen erreicht und aufrechterhalten werden kann, dann müssen wir die Computerwissenschaftler befragen. Man kann den Sender in einem größerem Set von Sendern oder den Empfänger in einem größeren Set von Empfängern oder eine Nachricht in einem größeres Set von Nachrichten verwischen, oder man kann die Elemente der jeweiligen Sets miteinander und in noch größere Sets verwischen. Dieses Verwischen in größeren Sets verhindert, dass der Feind in den Wolken der Sets einzelne Entitäten herausgreifen kann. In den digitalen Umgebungen kann die Anonymität niemals dyadisch sein: Erstens bedeutet Anonymität, dass man Teil eines größeren Sets von Entitäten ist, zweitens ist man anonym für einen Angreifer, der nicht unbedingt bösartig sein muss, sondern einfach nur eine Abstraktion darstellt, die Repräsentation einer gegebenen Entität, die etwas von uns wissen will, etwas, von dem wir nicht wollen, dass sie es weiß.

Foto: Stefan Paulus

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