Marx 200: Wie der Marxismus heute Das Kapital zu lesen und wie er die aktuellen Kapitalverhältnisse zu analysieren hat.

Schon für Marx besteht eine wichtige Konsequenz bezüglich der Extraktion des Mehrwerts in der Warenproduktion darin, dass der Mehrwert in das transformiert wird, was wir heute ein Asset bzw. einen Vermögenswert nennen. Das Asset ist in diesem Zusammenhang ein Mittel, mit dem der Mehrwert einerseits bewahrt und andererseits akkumuliert werden kann. Wäre das nicht so, würde dieser erst gar nicht produziert werden. Deswegen hat Marx sein Buch auch Kapital und nicht Die Ware genannt. Ein Bauer konnte noch Land vom Feudaladel mieten und sich Geld leihen, um damit Samen zu kaufen, wobei er nur dann Kredit aufnahm, wenn er annahm, dass die zukünftige Ernte als Sicherheit für die gemachten Schulden würde dienen können. Die zukünftige Ernte war somit ein potenzielles Pfand, noch bevor sie überhaupt auf dem Markt zu einer Ware wurde. Es wurden also mit der Herstellung eines Konsumprodukts zugleich zwei finanzielle Produkte – die Schulden und die Sicherheit – kreiert. Wenn in späteren historischen Phasen sich der Kapitalist die Produktionsmittel aneignete, so fungierten diese als Mittel, um den von den Arbeitern erzeugten Mehrwert zu bewahren und zugleich zu akkumulieren. Die Funktionsweise der Produktionsgüter bestand aber nicht nur darin, als Mittel zur Produktion des Mehrwerts zu fungieren, sondern sie verkörperten gleichzeitig finanzielle Assets, die als Sicherheit für die Aufnahme von zukünftigen Schulden und damit als Material für die Kreation von neuen finanziellen Produkten dienten.

Der Fakt, dass finanzielle Produkte nicht nur Instrumente der Zirkulation sind, sondern auch Mittel für die Akkumulation realen Reichtums bereitstellen, ist das Problem, das Marx an dieser Stelle zumindest anreißt. Es muss heute weitergehend gezeigt werden, welche Rolle das finanzielle Kapital und die Finanzmärkte für die kapitalistische Reproduktion spielen, und zwar zunächst für die laufende Reproduktion der Warenmärkte. Heute ist das Kapital ein System, dessen akkumulierter realer Reichtum auch von der Bereitstellung und Organisation der Liquidität durch das Finanzsystem und seinen Finanzmärkten abhängig ist, an denen die Preissummen der finanziellen Assets in gewisser Unabhängigkeit vom Output der Gebrauchsgüter und weit über deren Wachstumsraten hinaus steigen können. Die kapitalistische Produktion muss je schon vorfinanziert werden und die Tatsache, dass die Asset-Märkte schneller wachsen als der materielle Output der Industrieproduktion ist eine logische Konsequenz der Kapitalisierung, zugleich aber auch immer an bestimmte historische Bedingungen gebunden.

Die Liquidität definieren wir als die nominale Relation zwischen der Fristigkeit und dem Wert eines Assets. Wenn die Liquidität Geld bedeutet, das virtuell in einem finanziellen Asset gebunden ist, so geht das nur, wenn das Asset aktuell sich nicht in der monetären Form befindet. Wenn die Liquidität sich aktualisiert bzw. zu Geld wird, dann ist damit die Liquidität des Assets beseitigt. Demzufolge kann die Anlage niemals perfekt in ihrer Liquidität bleiben, und in diesem Sinne erscheint die Liquidität als eine intensive Konsequenz der extensiven Eigenschaft des Wertpapiers, die im Geld denotiert wird. Bei der Liquidität handelt es sich um eine funktionale Relation zwischen der Zeit der Verzögerung und dem Zeitpunkt der Realisierung des Assets. Die Liquidität ist damit als ein endogenes Moment des finanziellen Systems selbst zu verstehen. Das Geld misst schließlich die Kluft zwischen der Liquidität bzw. dem Preis eines Assets und seinem Liquidationswert (Monetarisierbarkeit). Das Finanzsystem macht die Kapitalbeziehungen damit generell effektiver, aber diese sind nun selbst stark von der Liquidität abhängig, die durch den Handel von Assets andauernd gesteigert wird. Marx hat die Liquidität rein als ein Realisierungsproblem – entweder als monetären Rückfluss aus der Investition oder als die Rückzahlung eines Kredits – behandelt, wobei ihm die Möglichkeit, dass ein Unternehmensrisiko gehedgt und genau damit die Liquidität an den Finanzmärkten gesteigert werden würde, nicht in den Blick kommen konnte.

Marx hat die finanziellen Instrumente meistens ausschließlich der Zirkulationssphäre zugeordnet und ihre Funktion abgetrennt von der Funktionsweise der Technologien bzw. physikalischen Produktionsmittel analysiert, die den vergangenen Reichtum aufbewahren und zugleich eine zukünftige Nachfrage nach produzierten Gütern ermöglichen. Bei Marx scheint es, wenn es um den Wert geht (analog zur Energie und zur Materie), meistens eine Art Erhaltungsprinzip zu geben, wobei das Wachstum des real akkumulierten Reichtums nie größer sein kann als die Profite, die in der Industrieproduktion in einer gegebenen Periode produziert und realisiert werden (multipliziert mit der Mehrwertrate, die durch die Investmentrate diskontiert wird), sodass jede Vergrößerung des Werts des physischen Kapitals bzw. des konstanten Kapitals in Form der finanziellen Instrumente bei ihm gar nicht vorkommt oder als rein fiktiver Reichtum gilt. (Vgl. dazu Meister 2016: Kindle-Edition: 2702ff.) Für Marx kann das reale Wachstum einer Ökonomie demnach niemals größer als der industriell produzierte Profit sein. Dies kann aber nicht mehr für das zeitgemäße Kapital, das Finanzsystem und seine Finanzinstrumente gelten, weil die Assets selbst Finanzierungsmittel sind, um die Investitionen in der »Realindustrie« in Gang zu setzen und zu erweitern.

Marx` esoterisches Argument hinsichtlich des Reproduktionszyklus des Kapitals ist, dass die Produktion von Waren und Dienstleistungen immer auch eine Nachfrage der Investoren kreiert, und zwar nach finanziellen Mitteln, die der Erhaltung, der Akkumulation und der Vergrößerung des Mehrwerts dienen, wobei finanziellen Mittel im selben Prozess wie die Herstellung von Waren und Dienstleistungen produziert werden. Die Produktion der Waren muss heute also mit der physischen Produktion und der Akkumulation der Werte der Assets zwangsläufig verbunden sein.

Wir stellen nun hinsichtlich der Funktionsweise des Finanzsystems folgende Frage: Welche neuen Typen von finanziellen Assets müssen heute entstehen, um die kapitalistische Reproduktion insgesamt abzusichern und gleichzeitig zu erweitern, und wie bringt das variable Verhältnis zwischen den Asset-Märkten und den Konsumgütermärkten Bedingungen hervor, auf die neue Bewegungen in sozialen Konflikten antworten? Marx sieht im Kapital, dass die neuen Typen von finanziellen Assets, die zum Zweck der Beschleunigung der Kapitalakkumulation benutzt werden, vom Geld zu unterscheiden sind. Die allgemeine Formel des Kapitals kann für Marx nicht einfach nur G-G` sein – Geld, das zu MehrGeld führt, sondern es muss zunächst, um den realen Reichtum erzeugen zu können, ein monetäres Investment geben, das anders als das Geld im Warentausch funktioniert. Marx sieht, dass durch Lohnarbeit Mehrwert produziert wird, der wiederum die Funktion besitzt, die effektive Nachfrage für die von den Arbeitern produzierten Güter zu steigern. Marx sieht allerdings nicht, dass der Mehrwert erhalten und akkumuliert wird, indem Produktionsmittel gekauft werden, die nicht nur als Mittel (konstantes Kapital) dienen, sondern auch als Assets fungieren, welche wiederum als ein Hedge gegen die Gefahr dienen, dass Teile der produzierten Waren nicht realisiert werden und es deswegen zu Insolvenzen kommt. Der Kauf der Produktionsgüter (konstantes Kapital) stellt eine partielle Lösung für das Problem dar, wie der Reichtum erhalten und akkumuliert werden kann, ohne Geld zu horten. Das Konzept des konstanten Kapitals wird jetzt auch als ein relativ liquides Asset begriffen, insofern die kapitalistische Produktion finanziert und der aus ihr resultierende Surplus in neue Produktionsmittel reinvestiert werden muss.

Die Produktion von finanziellen Instrumenten ist definitiv als eine Alternative zum Sparen des Geldes zu begreifen, indem sie den realen Reichtum erhält und akkumuliert. Für einen finanziellen Investor bedeutet dies, dass der Kauf von finanziellen Assets als eine Version der Formel G-W-G` mit der Formel G-G` verglichen werden muss – erstere nun als eine Strategie des Hedgens des Werts begriffen. In der Formel G-W-G` gibt es nämlich zwei Substitute für W (Ware), nämlich das Geldkapital, das in Arbeitskräfte (W) investiert wird, und das Geldkapital, das in Produktionsgüter investiert wird, die, und das ist nun der springende Punkt, zum einen als Produktionsmittel, zum anderen aber als mehr oder weniger liquide Sicherheiten fungieren, die benutzt werden, um neuen Cash zu generieren.

Für Robert Meister (ebd.) führt der Modus der relativen Mehrwertproduktion1 sofort die Logik des Finanzsystems in den Modus der Produktion ein, wobei es ihm in seiner Analyse unter anderem auch darum geht, zu untersuchen, welche Effekte die Operationen und Methoden des Finanzsystems auf die ordnungsgemäße Reproduktion der sozialen Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital haben. (Lee/Martin 2016: Kindle-Edition: 6801f.) Versuchen wir einen ersten Erklärungsversuch: Der Mehrwert, der in einer gegebenen Produktionsphase produziert wird, kann (wenn er nicht einfach als Geld gehortet wird) in der nächsten Phase nur durch ein erweitertes Reinvestment in Produktionsmittel und Rohmaterialien einerseits erhalten und andererseits vergrößert werden. Ohne die Vermehrung gibt es keine Erhaltung von Kapital. Das Kapital investiert bei der Erweiterung der Produktionskapazitäten auch in Arbeitskräfte, weil es auf einen Spread zwischen der Arbeitskraft des Geldes (der Beitrag der Arbeiter zum BIP) und dem Geldwert der Arbeitskraft (Lohn) hofft. Es gibt jedoch für Unternehmen verschiedene Arbitrage-Möglichkeiten zur Erhöhung der Profite, insbesondere wenn sie mit verschiedenen Technologien und unterschiedlichen Produktivitäten operieren, aber diese Arbitrage-Möglichkeiten werden im Zuge der Ausgleichsbewegungen zu Durchschnittsprofitraten auch wieder eliminiert, ansonsten wäre für ein dominantes Unternehmen die Erhaltung und Erweiterung des Extraprofits endlos möglich, was letztendlich in einer Monopolstellung enden würde. Es gibt bei Marx zwei verschiedene Argumente, die in seiner Analyse und Kritik der allgemeinen Formel G-W-G` eine Rolle spielen. Bezüglich des absoluten Mehrwerts besteht das Argument zunächst darin, dass die Anwendung der Arbeitskraft die Produktion eines Mehrwerts ermöglicht, der von den Arbeitern geschaffen wird, denen ein geringerer Anteil als Lohn gegenüber dem insgesamt von ihnen produzierten Wert ausbezahlt wird, mit dem sie diejenigen Konsumwaren kaufen können, die sie als Klasse selbst produzieren.

Im Fall des relativen Mehrwerts verläuft die Argumentation anders: Am nächsten kommt Marx dem Problem der Darstellung der Relation zwischen der Warenproduktion und der Produktion von Assets in seiner Analyse der relativen Mehrwertproduktion im Kapital Bd.1. Die relative Mehrwertproduktion basiert, wenn es um das Finanzsystem geht, auf dessen erster Maxime, dem Gesetz des einheitlichen Preises. Dieses besagt, dass zwei identische Wareneinheiten unabhängig von den jeweiligen Kosten der Unternehmen zum selben Preis verkauft werden sollten, was immer die Formen der Produktion sind, bei denen Rohmaterialien mit Hilfe von Maschinen und Arbeitskräften in fertige Produkte verwandelt werden. Dem Unternehmen ist jedoch eine positive Arbitrage-Möglichkeit hinsichtlich seines Investments in Produktionsmittel gegeben, wenn es in der Lage ist, mehr Wareneinheiten in einer gegebenen Arbeitszeit produzieren zu lassen als die Konkurrenten. Die Kreation der Arbitrage via der effektiveren Transformation des Rohmaterials (als ein Teil des konstanten Kapitals) ist Teil der Erhöhung der Produktivität durch das Investment in neue Maschinen (als ein anderer Teil des konstanten Kapitals). Der Extramehrwert wird hier nicht durch die Anstellung neuer Arbeiter oder etwa durch die Arbeitsintensivierung generiert, sondern dadurch, dass das fertige Produkt zu einem niedrigeren Preis (per Einheit) als dasselbe Produkt der Konkurrenz verkauft werden kann. Diese Akkumulation des Reichtums durch die relative Mehrwertproduktion ist ganz real und materiell, insofern sie von der Arbitrage bezüglich des konstanten Kapitals herrührt, und nicht vom absoluten Mehrwert, dem eine Erhöhung der Arbeitszeit oder eine wachsende Anzahl von Jobs entspricht.2 Das esoterische Marx`sche Argument bleibt zudem auf die Notwendigkeit bezogen, dass das Endprodukt am Markt realisiert werden muss, was wiederum vom Konsumgütersektor und vom finanziellen Sektor (Konsumentenkredite) abhängig bleibt, wobei letzterer den ersteren beeinflusst. Das Marx`sche Konzept der relativen Mehrwertproduktion führt zu Fragen der realen Akkumulation, wobei es in der letzten Instanz die Logik der Finanzialisierung ist, die sich in der relativen Mehrwertproduktion ausdrückt und schließlich auch zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation führt. Dieses Gesetz beschreibt die Kreation einer erhöhten Produktionskapazität (des konstanten Kapitals) bei gleichzeitigem Wachstum der Surplusbevölkerung, die aufgrund des Einsatzes der arbeitssparenden Techniken überhaupt nicht mehr an die Lohnarbeit herangeführt werden kann.

Zwei Argumente spielen also eine wichtige Rolle in der Darstellung und Kritik der allgemeinen Formel des Kapitals G-W-G`. Neben der absoluten Mehrwertproduktion gibt es eben die relative Mehrwertproduktion, wobei es zuallererst die Finanzialisierung der Produktionsgüter den Kapitalisten erlaubt, in der Produktion den materiellen Output zu erhöhen. Das geschieht durch das Investment in Maschinen, Rohstoffe, Energie, Software etc. sowie dem simultanen Versuch, die Lohnkosten und die Anzahl der Arbeitskräfte zu senken. Das daraus zwangsläufig folgende Realisierungsproblem beinhaltet die Frage, wie es überhaupt möglich ist, die produzierten Waren als Preise zu aktualisieren und zu monetarisieren und damit weitere monetäre Fonds zu erzeugen. Marx behandelt dieses Problem im Kapital Bd.2, das oft so verstanden wird, als gehe es hier nur um die Frage des Gleichgewichts der Reproduktionsprozesse in und zwischen den beiden Sektoren der Produktions- und der Konsumgüter. Die potenzielle Möglichkeit, dass Warenwerte nicht realisiert werden, tritt hier zu Tage und daraus folgt, dass dann auch keine weiteren monetären Fonds erzeugt oder in Geld realisiert werden können (die Nicht-Realisierung ist auch den finanziellen Assets immanent, anders als beim Geld, dessen Geheimnis darin liegt, dass es nicht ausgegeben werden muss).

Der mittlere Term der Formel G-W-G` kann nicht einfach nur als eine Ware, die im Produktionsprozess produktiv angewandt wird, verstanden werden, sondern muss auch als ein gehedgtes Portfolio begriffen werden, das als Kapital ausgepreist wird. Der Hedge selbst, der ein vermarktbarer Vertrag ist, hat keinen Gebrauchswert außer seinem Tauschwert. Es ist ganz einsichtig, dass bei großen Konzernen wie etwa General Motors die Produktionsgüter Teil des eigenen Portfolios sind, das natürlich auch Anleihen oder Optionen auf die Produktionsgüter enthält. Randy Martin registriert an dieser Stelle einen Shift von G-W-G` zu G-D-G`, wobei D für das Derivat steht, das nun den produktiv konsumierten Waren wesensgleich sei und die Selbstbewegung des Kapitals zudem auch antreibe. (Ebd.: 347) So kann beispielsweise ein Unternehmen durch den Kauf von Optionen auf einen Rohstoff, den es für seine Produktionsprozesse benötigt, die eigene Kreditwürdigkeit steigern, die durch das Risiko steigender Rohstoffpreise beeinträchtigt wird. Gleichzeitig werden die Operationen einer ganzen Reihe weiterer Akteure vom Kursindex dieses Rohstoffes beeinflusst. Dabei werden Risiken dupliziert, multipliziert und in andere Räume transferiert.

Marx zeigt im Kapital Bd. 3, dass es für die Unternehmen je schon ein Realisierungsproblem gibt, unter anderem eben auch dann, wenn sie qua Kredit in Produktionsmittel investieren, die während der Produktionszeit an Wert verlieren, sodass die hergestellten Produkte zu dem historischen Durchschnittspreis am Markt nicht mehr verkauft werden können und der Kredit dann eventuell auch nicht mehr bedient werden kann. (Ebd.: 6801f.) Dies ist ein Problem, das anzeigt, dass das Investment unbedingt gehedgt werden muss. Das Realisierungsproblem differiert von anderen finanziellen Instrumenten insofern, als die Assets hier auf produzierte Produktionsmittel bezogen sind und nicht allein als finanzielle Vehikel bzw. Assets der Akkumulation dienen. Insofern jene Assets einen Gebrauchswert besitzen, der über ihre reine Liquidität hinausgeht, sind sie keine rein finanziellen Produkte, deren Gebrauchswert allein darin besteht, in einer differenziell-immanenten Bewegung einen Preis zu realisieren, der Renditen an den Finanzmärkten generiert. Die Nicht-Realisierung des Marktpreises für ein Endprodukt oder dessen Verkauf unter dem Durchschnittspreis resultiert für das Unternehmen in einem Rückgang der monetären Fonds und einer reduzierten Möglichkeit, alle Rohmaterialien zu benutzen und die Kapazitäten/Maschinerie auszulasten, um damit neue, größere monetäre Fonds zu erzeugen.

Was nun Marx nicht wissen konnte, das besteht einfach darin, dass die Realisierung der produzierten Waren durch die Fabrikation von Puts und Calls auf Optionen, die auf die Produktionsmittel und Rohstoffe bezogen sind, gehedged werden kann; sie bewahren damit in der Tendenz zumindest den Wert des Investments in Maschinen und in Rohmaterial während der Zeitperiode, in der sie in Endprodukte transformiert werden. Noch konnte Marx wissen, dass mit der Fabrikation von Optionen in den am Markt fluktuierenden Preis eines fertigen Produkts interveniert werden kann. Die Existenz eines Marktes für Puts und Calls, die kontinuierliche Möglichkeit die Option permanent auszupreisen und zu monetarisieren, erzeugt heute genügend Liquidität für den unterliegenden Markt der Produktions- und Konsumgüter, um die Risiken für deren Realisierung tendenziell zu beseitigen. Der Wert der Produkte wird nun immer stärker in Form von finanziellen Assets bewahrt und zugleich akkumuliert, indem mit dem Spread zwischen dem Marktwert des Assets, wenn es denn liquide bleibt, und dem Liquidationswert des Assets gehandelt wird.3 Ein voll liquides Asset ist zudem so gut wie Cash und dann auch eine Alternative zur Wertaufbewahrung durch Geld, wobei es hier kaum Risiken gibt, dass das Asset nicht sofort zu seinem Marktpreis realisiert werden kann. Um ein Asset zu finanzieren, das nicht voll liquide ist, muss dann eine Liquiditätsprämie gezahlt werden, indem man entweder einen Hedge ausführt oder eine Sicherheit kauft, die liquider als das Asset selbst ist. Der Liquidationswert des Assets wird wiederum das Geld sein, das man bekommt, wenn man die verpfändete Sicherheit verkauft, und die Liquiditätsprämie wird das Ausmaß reflektieren, in dem der ursprüngliche Wert der Sicherheit den Wert des finanziellen Assets, das benutzt wurde, um es abzusichern, übersteigt.

Das kapitalistische Portfolio eines Unternehmens besteht also nicht nur aus Anleihen und Schulden, sondern auch aus den Puts und Calls der Optionen, mit denen man Hedgings vornimmt. Ohne die korrekte Ausgestaltung der Preisbewegung der Puts und Calls kann es kein robustes Recycling der Anleihen und Schulden geben. Ein Call wird hier als das Recht gefasst, sich einen potenziell unendlichen Surplus anzueignen, und ein Put ist ein Instrument, um den Verlust zu begrenzen. Es sind beides derivative Mittel, die anzeigen, ob sich für ein Unternehmen das Investment in einen neuen Kapitalstock lohnt, um seinen Kapitalspeicher und seinen Profit zu vermehren, wobei der Kapitalstock eben nur eines der Mittel zur Vermehrung des Profits ist, dessen komplementäre Form heute das finanzielle Asset ist, womit man auch sieht, dass die relative Mehrwertproduktion nur eine Möglichkeit darstellt, die Spreads in einem partikularen Markt auszunutzen. Ohne die Calls und Puts auszupreisen und sie an den Derivatmärkten zu handeln, lässt sich heute also kein gut gehedgtes Portfolio, das aus Schulden und Anleihen besteht, führen, wobei das Portfolio zu jeder Zeit Liquidität besitzen soll. Die Formel G-W-G` beschreibt W deshalb immer auch als ein Portfolio, das aus Schulden und Kapitalstock sowie aus Puts und Calls besteht. Diese sind anders als das Geld reine finanzielle Produkte und ihre Relation kann in einem finanziellen Formular fixiert werden, das die Parität von Schulden und Kapitalstock in Termen beschreibt, die wiederum auf die Parität von Puts und Calls bezogen sind. Das Investment in W muss deswegen laut Meister folgende Gleichung erfüllen:

Stock + Put=Schulden + Call. (Meister 2016: Kindle-Edition: 3044)

Diese Formel beinhaltet eine einfache Identität: Wenn man einen Kapitalstock und einen Put besitzt, der eine Absicherung nach unten enthält, dann lässt sich ein Return auf ein Investment replizieren, der gleich dem Besitz eines Calls ist, der die Möglichkeit der Partizipation an einem Mehr erfüllt, und zwar bezogen auf den Kapitalstock plus den gegenwärtigen Wert eines Kredits. Man kann nun Puts oder Calls benutzen, um ein komplett gehedgtes Portfolio zu erhalten, das wiederum einen Return ermöglicht, der zumindest gleich der risikofreien Zinsrate ist. Die Spirale G-W-G` beinhaltet also eine doppelte Arbitrage-Möglichkeit, nämlich zum einen das Spiel mit den Spreads in der Bewertung der Maschinen und der Arbeitskraft, unter der Voraussetzung, dass der Lohn weder investiert noch versichert werden kann, und zum anderen ein voll gehedgtes Portfolio auf der Grundlage der Call-Put-Parität. Die Grundlage für das Hedging ist der Kredit sowie der Return auf das Investment. Wenn dieser Rückfluss an Geld, der stets auf den Kredit, den das Unternehmen aufnimmt, bezogen bleibt, das Paradigma der Portfolioseite von G-W-G´ darstellt und dieses auch in Bezug zu den Investments in die Löhne steht, dann sind die Effekte der Finanzsystems auf die Produktionsprozesse der Unternehmen weitaus komplizierter als Marx das ausgeführt hat.

An den Derivatmärkten werden die Waren nicht nach ihren Werten, sondern bezüglich eines unsicheren, auf die Zukunft bezogenen Werts ausgepreist. Wenn eine Ware (z.B. ein Haus), bevor sie physisch existiert, verkauft wird, dann unterstellen Derivate die Produktion der Zirkulation, in dem sie der Ware flottierende und kontingente Werte zuschreiben. Klassische Waren besitzen keine Liquidität, insofern in ihnen keine ökonomisch verwertbaren Optionen verkörpert sind. Deshalb kann der Lohnarbeiter auch nicht investieren, er muss sein Geld ganz für den Konsum ausgeben und muss deshalb seine Arbeitskraft kontinuierlich auf dem Arbeitsmarkt anbieten, um das Geld für seine Konsumtion zu verdienen. Jede andere Ware außer den Konsumgütern besitzt jedoch Liquidität und kann als ein Vehikel zur Bewahrung und zur Akkumulation des Kapitals dienen. Finanzielle Produkte wie die Krankenversicherung, Pensionsfonds und Studentendarlehen sind heute Teil der Lebenskosten eines Haushalts, aber anstatt sie als ein Investment in das eigene »Humankapital« zu begreifen, sollte man sie eher als ein Art Steuer verstehen, die man dem finanziellen Kapital zahlt.

Marx nimmt den Arbeiter, wenn dieser in den Arbeitsmarkt eintritt, als kreditunwürdig und schuldenfrei an und gerade diese Eigenschaften machen diesen zum Lohnabhängigen, was bedeutet, dass dieser seine Subsistenzmittel ausschließlich mit dem Lohn kaufen muss. Die Lohnarbeit ist für Marx daher eine soziale Relation, mit der die Arbeiter über ihre Ausbeutung hinaus gezwungen sind, nach Erhalt des Lohns das Geld sofort für Waren auszugeben: das als Lohn empfangene Geld kann dadurch nicht als ein Asset fungieren, das Wert bewahrt und erweitert. Die Frage, die sich hier stellt, ist folgende: Wie kann das Kapital die Konsumtion der Arbeiterklasse garantieren, wenn es über die technologische und zugleich arbeitsplatzeinsparende Innovation die Akkumulation immer weiter beschleunigen muss? Hierzulande scheint es, um dieses Ziel erreichen, adäquat, wenn die Lohnarbeiter sich neben dem Erhalt eines Lohns zusätzlich verschulden. Die Reproduktion der Arbeitskraft läuft somit längst nicht mehr allein über den Lohn, sondern auch über diverse Finanzinstrumente wie Studentendarlehen, Hypothekenkredite, Gesundheitsvorsorge, Versicherungen, Automobile, Eigentumswohnungen und Konsumentenkredite, die von speziellen Kreditfirmen zu zum Teil exorbitanten Zinsraten von bis zu 20% an die Haushalte vergeben werden. Dabei spielen für die Relation zwischen Einkommen und Kreditaufnahmen (die Verschuldung macht derzeit in den westlichen Ländern 5-10% des Einkommens aus) Faktoren wie die Höhe der Verschuldung, die Entwicklung der Löhne und Gehälter und die Höhe der Zinsraten eine Rolle. So werden beispielsweise Studentendarlehen vom Staat in Tranchen geteilt, um diese dann an dritte Parteien zu verkaufen, die sie als zukünftige Investments bewirtschaften. Damit funktionieren die Studentendarlehen wie die berüchtigten Hypothekenkredite, die man für die Finanzkrise von 2008 verantwortlich gemacht hat. Heute wird ein immer größerer Teil des Konsumkorbs der Lohnabhängigen dazu benutzt finanzielle Produkte zu kaufen, man denke an Krankenversicherungen und Immobilienkredite, wobei diese Produkte wiederum dazu dienen, neue finanzielle Instrumente zu kreieren, die als Vehikel zur Akkumulation weiteren Reichtums fungieren. Und insbesondere das Prekariat ist heute neben dem Lohn unbedingt auf andere finanzielle Fonds angewiesen, um überhaupt überleben zu können. Die Surplusbevölkerung ist hingegen vom Verkauf der Arbeitskraft als der Möglichkeit zur Subsistenzsicherung ausgeschlossen und partizipiert von finanziellen Mitteln, die in informellen oder staatlichen Sektoren generiert werden. Für Marx war es gemäß des Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation ganz klar, dass in der letzten Konsequenz die Kapitalakkumulation zu einer riesigen globalen Surplusbevölkerung führt. Die lohnabhängig beschäftigten Arbeiter des globalen Nordens erhalten in der Regel von den Kapitalisten noch ausreichende Löhne, um zumindest ihre Subsistenz zu sichern und teils auch eine effektive Nachfrage für die Massenprodukte des Konsums zu generieren. In der Periode des Fordismus war das tatsächlich auch massenhaft der Fall. Heute jedoch ist in vielen Fällen der Lohn nur noch ein Teil des Betrages, um die Reproduktionsmittel kaufen zu können, sodass es nun verschiedener finanzieller Produkte bedarf, um den Konsum der privaten Haushalte aufrechtzuerhalten und deren Angehörige gegen Krankheit, Alter etc. abzusichern. Diese Möglichkeiten bleiben aber unsicher – sie müssen deswegen gehedgt und damit finanziert werden, und dies angesichts dessen, dass ihre Zeitlinien und ihre Kosten bezüglich zukünftiger Ereignisse kontingent bleiben.

 

1 Die relative Mehrwertproduktion erklärt die Effekte des Kapitals, die aus der technologischen Innovation resultieren, mit der die Produktivität in einem Unternehmen gesteigert wird. Das im Vergleich produktivere Einzelkapital kann die einzelne Ware aufgrund der Wertminderung billiger als die Konkurrenz verkaufen und damit einen größeren Teil der gesellschaftlichen Wertmasse für sich realisieren. Mit der Verbilligung der Lebensmittel sinkt der Wert der Ware Arbeitskraft, sodass auch der Anteil des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten Teil fällt (Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals), aber diese Verbilligung führt eben auch dazu, dass die Arbeitskraft weniger Wert für ihren Erhalt produzieren muss, womit der Anteil des Mehrwerts am Gesamtprodukt wieder steigt. Dies gilt aber nur für das Einzelkapital, für das Gesamtkapital gilt der kompensatorische Effekt lediglich, wenn die Anzahl der produktiv angewendeten Arbeitskräfte absolut steigt. Dies ist der Aspekt der Arbeitskraft, aber es gibt eben auch den technologischen Effekt.

Es war Hans-Dieter Bahr, der in diesem Kontext angemerkt hat, dass Marx im 12. und 13. Kapitel des zweiten Bandes in Das Kapital eine analytische Aufspaltung der Produktionszeit (des Kapitals) in Arbeitszeit und Funktionszeit der Maschinerie vornimmt. (Vgl. Bahr 1983: 434) Von der Funktionszeit der Maschinen lässt sich Bahr zufolge dasselbe aussagen wie von der Arbeitszeit, die mit den Methoden der relativen Mehrwertproduktion pro Stück gesenkt werden soll. Nun besitzt das fixe Kapital bzw. die Maschinerie eigene Funktionszeiten, die, insofern sie für das Unternehmen gekaufte Größen sind, wie die in das einzelne Produkt eingehende Arbeitszeit verringert werden müssen. Und insofern die Funktionszeit pro Produkteinheit sinkt – das kann durch erhöhte Skalenerträge, Innovation, Rationalisierung und Automatisierung etc. geschehen – gibt es keinen Grund, warum man die Maschinerie oder heute die digitale Technologie nicht ebenso als Quelle von Mehrwert wie die lebendige Arbeit begreifen sollte, falls die neuen Produkte bei gegebenem Arbeitseinsatz für das Unternehmen einen Verkaufspreis realisieren, der höher als der Einkaufspreis für Rohstoffe, Produktionsmittel, Löhne, Zinsen etc. ist, insofern dieser Verkaufspreis auf technologisch bedingte Rationalisierung zurückzuführen ist. Demzufolge vermag das einzelne Kapital seinen Anteil an der gesellschaftlichen Gesamtproduktion auch dann zu erhöhen, wenn es ihm gelingt, seine Produktionszeiten pro Stück durch die Effektivierung der maschinellen Funktionszeit – und eben nicht nur durch die Verdichtung der Arbeitszeit – zu verringern und damit die innerbetrieblichen Kosten zu senken. Ein Unternehmen erzielt genau dann einen Extraprofit gegenüber Konkurrenzunternehmen, wenn es ihm gelingt, seine Produkte, die aufgrund der Anwendung neuer Technologien im Preis pro Stück gesunken sind, billiger als die anderer Unternehmen zu verkaufen. Die Produktionskosten pro Stück fallen in den besonders produktiven Industrien infolge des Einsatzes spezifischer technologischer Innovation schneller als in anderen Industrien. Mit einer Durchsetzung von neuen Technologien in einer ganzen Branche, mit der die Extraprofite wieder verschwinden, verdichten sich die gesellschaftlich notwendigen und gültigen Arbeits- und Funktionszeiten auf allgemeinerer Ebene; es pendeln sich Marx zufolge Durchschnittsprofitraten auf einem neuen Niveau ein, wobei diese durch neue Wellenbewegungen, die von weiteren technologischen Innovationen oder Störungen herrühren, immer wieder gekappt werden.

Allerdings handelt es sich hier um die Darstellung eines ideellen Prozesses, der impliziert, dass Effizienz (minimaler stofflicher Input pro Einheit des Outputs) per se ökonomische Effizienz (minimale Kosten pro Einheit des Outputs) und ökonomische Effizienz mithin maximaler Profit bedeutet. Dies muss aber unter mehreren Gesichtspunkten nicht immer stimmen, denn a) kann es für das einzelne Kapital sogar effizient sein, ineffiziente Techniken anzuwenden oder gar ineffiziente Produkte zu verkaufen, b) nehmen die Unternehmen oft Kalkulationen derart vor, dass sie durchschnittliche Stückkosten (Kosten bei einem gegebenen durchschnittlichen Level des Outputs) festlegen, denen sie einen branchenüblichen Aufschlag hinzufügen, um diesen Preis dann über längere Perioden stabil zu halten bzw. ihn an die zyklischen Nachfrageveränderungen anzupassen, mit dem Ziel langfristige Profitraten auf einem konstanten Niveau zu erzielen, und c) kommt es natürlich auch vor, dass in manchen Unternehmen so gut wie überhaupt keine »reale Wertschöpfung« qua Arbeitskraft stattfindet, sie aber dennoch einen Teil des Gesamteinsatzes abstrakter Arbeit auf der Ebene des Gesamtkapitals absorbieren/realisieren, womit der interne Produktivitätsstandard so gut wie keine Rolle mehr spielt.

2Es gilt den Unterschied zwischen der Arbitrage in der Produktion und in der finanziellen Zirkulation zu beachten. Während erstere auf die relative Mehrwertproduktion bezogen ist, ist die letztere als eine Objektivation des abstrakten Risikos zu verstehen.

3Spreads sind relationale Räume, die simultan Bewegungen in verschiedene Richtungen ermöglichen; diese Bewegungen erscheinen zeitlich als Intervalle, die durch Differenzen in der Geschwindigkeit, Volatilität und Verwertung charakterisiert sind.

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