Mbembe: Nanorassismus und Narkotherapie

Für Felix Guattari schien schon zu Beginn des Zeitalters der digitalisierten Mobilität in den 1980er Jahren sonnenklar, dass großen Teilen der Bevölkerung, die wir heute die globale Surplusbevölkerung nennen, »eine Ecke auf dem Planeten zugewiesen wird, der zu einer globalen Fabrik geworden ist, zu der ständig Zwangsarbeits- oder Vernichtungslager in der Größe von ganzen Ländern hinzugefügt werden.« (Guattari) Aktuell kann dann Achille Mbembe konstatieren, dass es noch nie in der Geschichte so viele Lager gegeben habe wie heute. In seinem Buch Politik der Feindschaft schreibt er: »Das Lager, so muss man sagen, ist zu einem strukturierenden Bestandteil des globalen Lebens geworden. Es wird nicht mehr als Skandal empfunden.«

Der Soziologe Christian Dries hat an die Bemerkungen von Hannah Arendt und Günther Anders zum Lager anschließend den bisher wenig beachteten Terminus »Welt als Vernichtungslager« ins Spiel gebracht, eine Welt, die sich sukzessive einem Zustand annähere, der – in Abgrenzung vom System der NS-Konzentrationsslager als der Weltzustand Lager beschrieben werden könne, eine größtenteils ungeplante, nicht intendierte sukzessive Entwicklung, „in deren Verlauf die Welt so eingerichtet wird, dass sie den Charakter eines den ganzen Erdball umfassenden Vernichtungslagers“, wobei die Grenze zwischen Innen und Außen, die noch für das NS-Lager konstitutiv sei, implodiere, sodass das Lager, keine Umwelt mehr habe und die Welt „zu einem unvorstellbaren »›Ab-ort‹«, einer »Kloake des Menschen«, einer »Wegwerf-Welt« werde“.

Dieser Ab-ort wird heute in Europa, aber auch anderswo, geflutet von Treibstoffen, die der Paranoia entstammen und sich in einem massenhaften Phänomen verdichten, das Mbembe »Nanorassismus« nennt, eine paradoxe Form, in der Raserei und Narkose eine unheilvolle Verbindung eingehen, um sich schließlich in Spasmen zu entladen. Mit dem Begriff des Spasmus (Krampf), den Guattari in seiner letzten Schrift Chaosmose verwendet hat, wollte er auf die exzessive und kompulsive Beschleunigung der Rhythmen des Ökonomischen und des Sozialen hinweisen, auf eine forcierte Vibration sämtlicher Rhythmen in den alltäglichen Räumen der sozialen Kommunikation, die das Subjekt nicht unversehrt lassen. In den auf Guattari folgenden katastrophischen, ja zuweilen apokalyptischen Visionen von Baudrillard, Kroker oder Bifo Berardi mag man eine Art und Weise erkennen, die aktuellen Prozesse der Subjektivierung neu zu denken: Die Abkehr von einer energetisch-affirmativen Subjektivierung, die noch die revolutionären Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts inspiriert hatte, und die Hinwendung zu einer Theorie der Implosion, die sich auf Subjektivierungsprozesse bezieht, die in der Depression und Erschöpfung münden. In solch Zeiten der lähmenden Erschlaffung sei dann, so Mbembe, der Nanorassismus vielleicht das beste Narkotikum, dem, so muss man hinzufügen, immer wieder Dosen eines rasenden und aufputschenden Adrenalins unter gemischt werden müssen, wollen die individuellen und kollektiven Körper nicht ganz dem Stupor verfallen.

Denn das narkotische Vorurteil, das sich nicht nur an die Hautfarbe knüpft, wie Mbembe meint, sondern das Störende an sich tilgen oder einlagern will, muss zuweilen auch mobilisiert werden, in die streng geordneten Kanäle der Straßen und der sozialen Medien fließen, um dort zu zirkulieren und der beabsichtigten Boshaftigkeit freien Lauf zu lassen. »Sollen sie doch zu Hause bleiben, heißt es. Und wenn sie unbedingt bei uns, unter uns leben wollen, dann nur mit nacktem Hintern und heruntergelassenen Hosen. Das Zeitalter des Nanorassismus ist in Wirklichkeit das eines schmutzigen Rassismus, dreckig und dem Spektakel von Schweinen ähnlich, die sich im Schlamm suhlen.« (Mbembe)

Gilles Châtelet hat ein Buch mit dem Titel To Live and Think Like Pigs: The Incitement of Envy and Boredom in Market Democracies geschrieben. Zuallererst, man vergebe den Tieren. Und auf welche Maxime, die anstatt eines schweinischen Lebens ein anderes Leben einfordert, bezieht sich Châtelet in seinem Buch? Die Antwort ist relativ einfach: Entfalte immer einen Raum, der allen Gerechtigkeit gibt und der deine eigenen Neigungen verstärkt. Das Aufnehmen einer Neigung oder wie Tiqqun sagen, einer forme-de-vie, betrifft nicht nur diese selbst und das Wissen von ihr, sondern sie betrifft das Denken, seine Differenzierung und Steigerung. Wer nichts von dieser Maxime versteht, lebt wie ein Schwein. Das neoliberale Schwein will, falls möglich, alles so gestalten, dass ein Mehr raus springt; es will alles exakt etikettiert, ausgepreist und konsumierbar haben und schließlich sind all seine Begierden, Strategien und Projekte auf die Steigerung der Produktivität und der Profitabilität des eigenen Lebens ausgerichtet. (was noch als Freiheit verkannt wird, denn es ist das Kapital als System, das über die Konkurrenz den Zwang zur Profitmaximierung setzt). Anders zu leben heißt für Châtelet unbekannte Dimensionen der Existenz zu entdecken, oder wie Rimbaud sagt, den Schwindel (des Systems) zu definieren.

Davon sind wir weit entfernt, will der Nanorassismus in seinen imperialen Räumen das öde Bestehende, das so dahin fließt, ohne jede Sensation, Ziel und Prägnanz, in seinen Wohlfühloasen nicht nur erhalten, sondern er will diejenigen, die er Jahrhunderte gedemütigt, eingeschlossen und ausgebeutet hat und die sich jetzt auf den Weg in die Wohlfühloasen machen, wo sie ganz unerwünscht sind, am besten gleich wieder abschieben, und wenn das nicht geht, sie zumindest unerträglichen Lebens- und Lagerbedingungen aussetzen, sie tagtäglich einlagern, ihnen immer wieder rassistische Schläge und Kontrollen zumuten und sie im Stand der Rechtlosigkeit belassen. Der Nanorassismus ist eine Banalität sondersgleichen, der zu den Blödmaschinen, der Automatisierung des Verstandes und selbst den Resten des Bildungsbürgers passt wie Zahnräder, die ineinander greifen.

Die digitale Automation schließt die abwägenden Funktionen des Geistes mit der systemischen Dummheit kurz, und dies betrifft heute ausnahmslos jeden Akteur, vom Konsumenten bis hin zum Spekulanten. Der systemische Stupor wurde seit dem Jahr 1993 mit einer Reihe von technologischen Schocks durchgesetzt, deren Resultat die hegemonialen Konzerne im Internet, Google, Amazon, Facebook und Apple sind. Der Abstieg des »seelischen Werts« erreicht einen Peak-Point: Er betrifft alles Denken und Fühlen, ja er betrifft das Denken als solches, seine Konsistenz, und damit auch sämtliche Wissenschaften, ihre Modelle und Methoden. Weber, Horkheimer und Adorno haben diese Prozesse als Rationalisierung beschrieben, die eindeutig zum Nihilismus führen, der auch ständig um die Pflege seiner Rassismen besorgt ist.

Wir alle werden mehr oder wenig dumm, ja wir werden sogar zu plagenden und geplagten Biestern, die wenig bis nichts daran finden, dass diesem »bocksfüßigen Kothaufen, also Neger, Araber, Muslime – und natürlich die Juden, die niemals fern sind -,« (Mbembe) tagtäglich Schläge in den Unterleib verpasst werden, garniert mit endlosen Strömen aus Befehlen und Anforderungen, Worten und Gesten, Symbolen und Stereotypen, die den Rassenk(r)ampf weiter anheizen. Die verdummenden Mechanismen der hyper-industriellen Epoche warfen ihre Schatten schon voraus, als Deleuze von den Kontrollgesellschaften sprach, als die disziplinarischen Normen ihre Wirkungskraft nach und nach verloren und die Medien in eine Maschine der totalen Regulation umgewandelt wurden. Der Verstand wurde automatisiert und der analytischen Macht der Algorithmen überlassen, die von Sensoren und Aktoren mittels formaler Instruktionen operationalisiert werden.

Für Mbembe ist der Nanorassismus das unausweichliche Komplement eines staatlich fundierten Rassismus, den er »hydraulischen Rassismus« nennt, den Rassismus der institutionalisierten Mikro- und Makrodispositive der Staatsapparate und der Medien. Ein Rassismus, «der mit allen Mitteln Klandestine und Illegale produziert, der den Abschaum an den Rändern der Städte ablädt wie einen Haufen unbrauchbarer Objekte…« (Mbembe). Alle Appelle an den Humanismus, den Universalismus und die Gerechtigkeit, – Euphemismen sondersgleichen, die, wie schon Baudrillard wusste, zirkulieren wie das Öl und das Kapital -, haben etwas von Vertröstung oder mehr noch von Verniedlichung, und das findet man selbst noch beim “Appell an einen bestimmten heruntergekommenen Feminismus, der Gleichheit heute mit der Pflicht gleichsetzt, verschleierte Musliminnen zu zwingen, einen Stringtanga zu tragen, und bärtige Männer, sich zu rasieren. Wie schon zu Kolonialzeiten hat die abwertende Interpretation der Art, wie Schwarze oder muslimische Araber »die Frauen« behandeln, etwas von einer Mischung aus Voyeurismus und Lust – der Lust am Harem.« (Mbembe)

Dabei ist der aktuelle Rassismus weniger ein Gegenstand des Konsums, des Designs, und er findet auch nicht nur auf den neuen Straßen-Events der Rechten statt, wo er aus der Ressource der banalen Emotion, der Brutalität und Lüsternheit schöpft, viel mehr noch: Er wandert in die Triebausstattung des neoliberal ökonomisierten Subjekts ein. Er ist, wenn er bis hin zur Reaktivierung des Vernichtungswahns gelangt, eben nicht nur eine Reaktion der Verlierer, derjenigen, die das Spiel um die Verwertung des eigenen Lebens als Schuldner zurücklässt,nein, es sind selbst noch die Gewinner des Spiels, die Gläubiger, die die Zugänge zu den Finanzmärkten und den Assets besitzen und sich den Rassismus als jenen harmlosen Luxus leisten, als jenes Accesoire, mit dem es sich leicht und abwertend unterhalten lässt und mit dem man der grassierenden Langeweile oder wahlweise dem grassierenden Stress für Minuten entkommt. Dieser Nanorassismus kommt zeitweilen ganz antiautoritär daher, – ausgelassen und qietschfidel, angetrunken und erheitert vergnügt er sich in beispielsloser Ignoranz über seine angeblich harmlosen Witze, Ausfälle und komischen Geschichten, auftrumpfend und aufbrausend zuweilen fordert er das »Recht auf Dummheit und die ihr zugrunde liegende Gewalt (ein) – das also ist der Zeitgeist« (Mbembe).

Und könnte es nicht sein, dass dieser Nanorassismus Teil der Triebausstattung eines neuen aufkeimenden Sozialcharakters ist, dem funktionellen Psychopathen? Das finanzialisierte Risikosubjekt introjiziert heute einen neuen Sozialcharakter, der den narzisstischen Typus ablöst, in dem er ihn übersteigt, erweitert und transformiert, nämlich den funktionellen Psychopathen, der allerdings nicht mit dem klinischen Bild eines Psychopathen verwechselt werden darf, obgleich gerade die Repräsentanten der herrschenden Klasse (Manager, Anwälte, Broker, Politiker, Ärzte etc.) ihm inzwischen gefährlich nahe kommen. So ist der Beobachtung von Götz Eisenberg durchaus zuzustimmen, dass heute die meisten Psychopathen keineswegs in Psychatrien einsitzen, sondern frei in der Weltgeschichte herumlaufen und zu allem (Un)Glück auch noch besondere Erfolge in ihren Berufen nachweisen können. Sie operieren meistens sehr effizient und besitzen Eigenschaften wie Fokussiertheit, übersteigerte Egozentrik, den unaufhörlichen Hang zu Optimierung und Skrupellosigkeit, sie mobilisieren die Anteilnahme anderer als ein von ihnen der Gefolgschaft verliehenes Privileg, das rein der eigenen Nutzenoptimierung und dem endlosen Streben nach Singularität dient, welche wiederum aus den Angeboten der Marketingindustrie für die Bezieher höherere Einkommen abgekupfert ist; sie leben die Unaufrichtigkeit und das herrische Auftreten bis in die Haarspitzen hinein, und dies geschieht im Rausch völliger Spontaneität, deren Fleisch gewordene Realität in ungefähr das Kunstprodukt Hitler-Trump darstellt. Im Weißen Haus weiß nicht einmal der innere Kreis, was Trump im nächsten Moment tweeten wird, es herrscht die reine Dezision als Chance zum clownesken Narzissmus und zur rassistischen Unaufrichtigkeit, die das innere Wachstum befördert, den Überfluss jenes Selbst, das sich als der Einheimische weiß und den Anderen, den Feind, weit weg haben will, obwohl er doch als der virtuelle Feind überall und nirgends lauert, weswegen all die staatlich besorgten (ja, mit Gewalt »besorgt« man es heute den anderen) Drohnenangriffe, Massaker, Anschläge und Gemetzel allein nicht zünden, lauert doch immer wieder jener Albtraum in den kapitalisierten Häusern der Wohlfühloasen, »eines Morgens in der schwarzen Haut des Negers oder der braungebrannten Haut des Arabers aufzuwachen, nicht fernab in den Kolonien wie ehedem, sondern – und das ist der Gipfel – hier, bei ihm zu Hause, in seinem eigenen Land« (Mbembe).

Foto: Stefan Paulus

Nach oben scrollen