MEHRWERT und MEHR-GENIESSEN Zu Lacans Homologie-Behauptung

La plus-value c´est ça, c´est le plus de jouir…
(Jacques Lacan, Milano 12.05.1972)

Lacan gibt bekanntlich im Seminar 17 (1969/70) eine eigenwillige, von Hegels Herr-Knecht-Dialektik inspirierte (oder von Alexandre Kojève animierte) Begründung des Kapitalismus. Er behauptet dort, daß der Knecht dem Herrn die(se) Mehrlust schuldet: „Was auf der Ebene von Marx getarnt ist, das ist, daß der Herr, dem diese Mehrlust geschuldet ist, auf alles verzichtet hat, und zuvörderst aufs Genießen, weil er sich dem Tod ausgesetzt hat und weil er in dieser Stellung, die Hegel klar artikuliert hat, ganz fixiert bleibt. Zweifellos hat er den Knecht der Verfügung über seinen Körper beraubt (privé), das aber ist ein Nichts, denn er hat ihm das Genießen gelassen. Wie kommt das Genießen wieder in den Zugriff des Herrn…?“ Der Herr unternimmt eine kleine Anstrengung und „gibt den Befehl. Allein dadurch, daß er seine Funktion als Herr ausfüllt, verliert er etwas. Dieses verlorene Etwas, zumindest aus diesem Grund muß ihm etwas vom Genießen zurückgegeben werden – eben die Mehrlust. Hätte er, durch seine Verbissenheit, sich zu kastrieren, nicht jene Mehrlust zählbar gemacht, hätte er, mit andern Worten, nicht den Kapitalismus begründet, dann hätte Marx bemerkt, daß der Mehrwert die Mehrlust ist.“ (11. März 1970)
Den Studenten, die seinerzeit von Lacans Diskurs (des Herrn) nicht gerade begeistert waren, erklärte er: „Sie sind prädestiniert dazu, in dieser kleinen Mechanik dieselbe Rolle zu spielen wie alles, was es in der kapitalistischen Gesellschaft mit dem Objekt a auf sich hat, nämlich als Mehrwert zu funktionieren. Sie sind wahre Werte in dem Sinne, daß Sie Teil dieser Bewegung sind, der Zahlenbewegung, die den Tauschmodus stützt, den Modus des Marktes, der die kapitalistische Gesellschaft bildet.“ (3. Juni 1970) Und eine Woche später (am 10. Juni 1970) ergänzte er: „Zunächst muß man sehen, warum der Diskurs des Herrn so solide eingerichtet ist, und zwar derart solide, daß wenige unter Ihnen, so scheint´s, ermessen, wie stabil er ist. Das hängt mit dem zusammen, was Marx – ohne daß er, das muß ich sagen, dessen Umrisse zeigen würde – betreffend die Produktion demonstriert hat und das er Mehrwert nennt und nicht Mehrlust. Von einem bestimmten Moment der Geschichte an ist im Diskurs des Herrn etwas anders geworden. Wir werden uns nicht damit behelligen, ob das wegen Luther ist oder wegen Calvin oder wegen ich weiß nicht was für einem Schiffsverkehr rund um Genua oder im Mittelmeer oder anderswo, denn der wichtige Punkt ist der, daß von einem bestimmten Tag an sich die Mehrlust rechnet, sich verbucht, sich zusammenzählt. Da beginnt das, was man Akkumulation des Kapitals nennt.“ Also nicht erst, darauf hat auch Jason W. Moore nachdrücklich hingewiesen, mit der sog. Industriellen Revolution, sondern schon viel früher…

Aber ist das Mehr-Motiv bei Marx und Lacan wirklich solide abgeleitet, begründet und fundiert?

Marx hat den Kapitalismus nicht erfunden (noch nicht einmal dieses Wort), sondern er geht von der kapitalistischen Produktionsweise aus, wo das Mehr-Motiv als Gewinn- und Profitstreben bereits fest verankert ist, und versucht, dieses Phänomen mit seiner Mehrwerttheorie zu erklären. Lacan seinerseits hatte auch etwas vorgefunden, nicht nur diese berühmte Geschichte von Hegel aus der Phänomenologie des Geistes, sondern vor allem die Psychoanalyse mit dem sog. Unbewußten, der Libido und dem Wiederholungszwang, wo es auch ein erklärungsbedürftiges Mehr-Motiv gibt.

Bei Marx wird eher erklärt, wie man G´ macht – wobei die Erklärung Mängel hat: es geht (auch wenn die Wertsubstanzmetaphysiker das so unakzeptabel wie die Arbeiterbewegungsnostalgiker finden) nicht bloß über Mehrarbeit, sondern über diverse (bezahlte, gering bezahlte und unbezahlte) Faktoren, worauf so unterschiedliche Autoren wie z.B. Böhm-Bawerk (schon 1884) und Deleuze-Guattari (im Anti-Ödipus 1972) hingewiesen hatten (heute z.B. A. Szepanski, J.W. Moore). Marx versucht nicht zu erklären, warum überhaupt es eine kapitalistische Produktionsweise sein muß, er versucht „nur“ zu zeigen, daß dort genug nicht reicht bzw. daß es dort unbedingt mehr sein muß.

Aber das Mehr-Motiv war schon davor (im Merkantilismus) wirksam – und es ist treibende Kraft auch in der unproduktiven sog. Finance. Was ist das für eine Kraft? Woher kommt sie? Man wird sich vielleicht daran erinnern, daß Marx von der Bereicherungssucht sprach (MEW 13:110) und vom Bereicherungstrieb (MEW 23:168 und 618) – ist das die Psychologisierung des Betriebs?

Wohl nicht „Was aber bei diesem (dem Schatzbildner) als individuelle Manie erscheint, ist beim Kapitalisten Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist. … die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation.“ (23:618) (Eine „progrediente Verlaufsform“ sagt die Psychopathologie/ Forensik.)

Bei Lacan wird man das Mehr-Motiv vielleicht besser verankert finden – obwohl die linguistische Ableitung seit grundsätzlicher Kritik am linguistic turn an Überzeugungskraft verloren hat, zumal Lacan sein Gebäude auf der cartesianischen Dichotomie konstruiert, wo die raum-, zeit- und substanzlose res cogitans von der res extensa (Körper) getrennt ist, was wissenschaftstheoretisch sehr problematisch (um nicht zu sagen unhaltbar) ist und jedenfalls weiterer Hilfskonstruktionen bedarf (wie z.B. das Schema L, der Graph des Begehrens, das Register, die Knoten usw.), um das fading des Subjekts zu verhindern. Der Ableitungsversuch über Objekt a (auf der Basis von Freuds Urverdrängung) mag noch am ehesten dazu geeignet sein, das Mehr-Motiv zu erklären – aber macht es das Exzessive und Suchtartige, das Zerstörerische und Zwanghafte auf der Grenze zwischen psyche und physis wirklich plausibel? Wiederholung ist ja an sich nicht das Problem – aber der Drang und der Zwang? Woher das Getriebene?

Wenn man das Verhältnis zwischen Körper und Sprache etwas weniger kompliziert zu denken versucht, dann bleibt auf jeden Fall die Nicht-Identität von Begriff/ Wort und Ding/ Sache – aber auch die Abhängigkeit beider voneinander; das hat Karen Barad sehr deutlich herausgearbeitet: für sie gibt es (ganz anders als bei Lacan) „keine starre Trennlinie zwischen ´Selbst´ und ´Anderem´… Agentische Schnitte markieren keine absolute Trennung, sondern ein zusammen-auseinander-Schneiden – ein ´“Zusammenhalten“ des Disparaten selbst (…) ohne den Bruch (la dis-jointure), die Streuung oder die Differenz zu verletzen, ohne die Heterogenität des anderen auszulöschen. (…) ohne die synthetische Zusammenfügung der Konjunktion oder der Disjunktion oder vor dieser.´ (Derrida 2004, S. 49)“ (K. Barad: Verschränkungen, S. 160) Aber die Differenz zwischen dem, was die Bestimmung am oder im Unbestimmten bestimmt, die Differenz zwischen Bestimmung und Bestimmtem bleibt, auch wenn man im Alltag „natürlich“ der An-sich-Vermeinung folgt, d.h. die Identität von Wort/ Begriff und Sache/ Gegenstand vermeint: Wir fahren nicht gegen ein Wort oder einen Begriff, wenn wir gegen „die Wand“ fahren – und meinen auch nicht die Nebelwand oder die Wand des Schweigens, obwohl wir bestimmt von der Äqui- oder Polyvozität/ Mehrdeutigkeit der sprachlichen Terme wissen. Also es gibt hier einen gap, der unaufhebbar ist, wenn auch nicht so definitiv und statisch wie bei Lacan. Warum sollte das nicht die Quelle fürs Mehr-Geniessen sein? Das Abgeschnittene (Kastrierte) ist und bleibt sicher ein Unruheherd; aber ist das die Triebquelle?

„Schnitte“ sind nicht nur (Ur-)Teilungen – es bleibt immer ein nicht aufgehender Rest (Zizek): z.B. „das dritte Geschlecht“ (und/ oder weitere) bei „Mann“ und „Frau“; und selbst wenn kein Rest zu bleiben scheint, z.B. bei der Aufteilung eines Kuchens – denn man hätte ihn (das bleibt übrig!) auch anders aufteilen können… Bei Signifikant und Signifikat ist der Referent abgetrennt, der „mehr“ ist als ein „fehlender Signifikant“ und dank der Urverdrängung als Objekt a rumort. So bleibt immer ein gap im körper-, raum- & zeit- und substanzlosen Bereich der res cogitans… Aber reicht das aus als Begründung fürs Mehr-Motiv, für Überschreitung bzw. (Zizeks Lieblingsthema) für den Exzeß?

Vielleicht geht es um einen Unterschied, den David Graeber vorschlug und meinte: „Ich würde nicht behaupten, daß alles Begehren zwingend fetischistisch ist.“ (Die falsche Münze…, S. 400 Anm. 59) Aber man sollte „eine Unterscheidung zwischen metaphorischem und metonymischem Begehren treffen können“:

metaphorisch: nur hier wäre das begehrte Objekt eine imaginäre Repräsentation der Ganzheit des Besitzer-Ichs

metonymisch: das sei die Möglichkeit des Wunsches, sich mit anderen Menschen oder Dingen aufgrund ihrer tatsächlichen Unterschiede statt aufgrund ihrer imaginierten Ähnlichkeiten zu vereinen

Baudrillard macht einen ähnlichen Unterschied, wenn er (in Der unmögliche Tausch 175f.) sagt, daß in der Marxschen Analyse die formale Abstraktion der Ware einen Fetischismus erster Stufe begründet, „der mit dem Tauschwert verbunden ist. Wenn die Leidenschaft für den Wert aber jenseits des Werts in der doppelt abstrakten Leidenschaft für das Geld Gestalt annimmt, wird dieses Objekt zum Objekt eines höheren Fetischismus, der nicht mehr mit dem Tauschwert, sondern mit dem Nichtaustauschbaren verbunden ist. (…) Ein Objekt von ´irgendeiner Singularität´ (Agamben), wie es die sexuellen Fetische sind, die selbst zu vollwertigen Objekten der Begierde werden.“ Womit das Zeichen (das Wort) ein Objekt (Fleisch) geworden ist… Aber nicht so banal und trivial wie bei der o.a. An-sich-Vermeinung – im Gegenteil: „Durch diesen gefährlichen Sprung in eine doppelte Abstraktion wird der Fetisch unverwundbar: hier ist das Subjekt endgültig vor dem Objekt seines Begehrens geschützt.“

Also nicht auf der metonymischen, erst auf der metaphorischen Ebene wird es „pathologisch“: wo man Fülle und Ganzheit fantasiert und imaginiert (Graeber) und irgendein Ding sexualisiert und begehrt. Also nicht Geld als Zirkulationsmittel, sondern Geld als Kapital im Geldkapitalkreislauf.

Doch wie kommt es zu diesem „gefährlichen Sprung“? Was ist die Ursache? Wie kann ein Mittel plötzlich Selbstzweck/ Zweck an sich selbst werden? Ist das mit Objekt a überhaupt noch erklärbar? Oder muß man hier von mehr oder weniger „normal“ verlaufenden Prozessen der Erziehung und Sozialisation mit den mehr oder weniger notwendigen Eingriffen und unvermeidlichen Versagungen einerseits und von „pathologisch“ verlaufenden mit schädlichen Übergriffen und traumatischen Vergewaltigungen (im ganz und gar nicht bloß sexuellen Sinne!) andrerseits ausgehen? Wobei erstere (irgend)ein Begehren zur Folge hätten, letztere dagegen das Exzeß- und Zwanghafte des Triebs? Die Differenz läge dann zwischen Wiederholung und Wiederholungszwang, zwischen Befriedigung/ Sättigung (Genug) und Sucht (unbefriedigt, ungesättigt… Mehr!). Die Psa erklärt diese Differenz meist mit dem Fehlen oder Nicht-Fehlen der Vaterfunktion, die das symbiotische Mutter-Kind-Verhältnis beendet/ trennt… Aber was für die psychosexuelle Entwicklung plausibel klingen mag – erklärt das auch das Sozioökonomische?

Im Sozialen, bei Arbeitsteilung und Tausch kann die Frage der Äquivalenz auftauchen und ein Problem werden: Was ist gleich(wertig)? Wieviel x für y? Die Komplementarität und Reziprozität beim Geben und Nehmen ist nie 1 : 1 (Parität).

Für Ungleichheit sorgt die soziale Hierarchie (fixierte Ungleichberechtigungen wie Herr-Knecht), wo der eine mehr, der andere weniger oder nichts zu bestimmen/ zu sagen hat. Ökonomische Ungleichheiten wirken verstärkend: Privateigentum, Geldvermögen…

Bei der Ausgestaltung des Sozialen spielen die individuellen Sozialisationsgeschichten ihre Rolle.

Eher trivial dagegen: Der Preis (die Zahl) einer Sache (Ware) – kann fixiert werden, ist aber volatil und „hat“ letztenendes kein tertium comparationis; der Wert ist eine imaginäre Größe (Lipowatz). M.a.W.: hier gibt es einen „in der Natur der Sache“ liegenden Grund für (weniger oder) mehr, wo Objekt a sich dranheften kann… Hier ist (etwas) mehr oder weniger „normal“, wenn es darum geht, Qualität/en zu quantifizieren…

Beim Kapitalisieren des Geldes (wenn Geld nicht mehr Tausch-/ Zahlungsmittel ist, sondern Kapital wird) liegen die Dinge anders; hier ist dann keine volatile Mehr-oder-weniger-Strategie am Werk, sondern eine ganz systematisch und gezielt angestrebte Vermehrung (Kapitalakkumulation), die sich auch nochmal von bloßer Kumulation (Horten, Sammeln) unterscheidet, weil es hier sozusagen um exponentielles (perverses) Wachstum (um Zinseszins) geht. Aber hier wäre zu unterscheiden:

A) Mehrarbeit, Mehrprodukt – ist „an sich“ kein Problem und gesellschaftlich gesehen ggf. sogar notwendig, wenn z.B. Kinder, Kranke und Alte nicht arbeiten sollen, und wenn das Mehrprodukt gerecht verteilt wird (ein Thema für sich, weil auch hier wieder die oben erwähnten individuellen Sozialisationsgeschichten eine störende Rolle spielen können). – (Metonymische Ebene)

B) Private Aneignung des Mehrwerts – das ist ein Problem: wenn einige sich auf Kosten anderer bereichern… wenn einige befehlen (s.o. Lacan) und arbeiten lassen (können), und wenn es dann (wie M. Mazzucato sagt) Wertschöpfer und Wertabschöpfer gibt. – (Metaphorische Ebene)

Wenn die Gesellschaft als ganze reicher wird – kein Problem! Dann ist sog. produktives Investieren okay – sofern es auch ökologisch gesehen „okay“ ist. In der Kollektiv-(statt Privat-)Produktion bräuchte es auch nicht mehr um Mehr-Geld/ G´ zu gehen, sondern allenfalls um mehr Produkte…
Das Thema (Vor-)Finanzierung (Kredite) dürfte natürlich (sofern noch alles über Geld läuft) nicht mehr privatwirtschaftlich (zur privaten Bereicherung) okkupiert sein, sondern müßte staatlich (via Zentralbank, Monetative o.ä.) organisiert werden. Denn das Geld ist beides: Chance und „Exzeß“.

Hans Christoph (Vater) und Mathias (Sohn) Binswanger benutzen Marx, um den Kapitalismus für unsterblich zu erklären. Hat man erst mal das Geld, ist der o.a. gefährliche Sprung schon auf dem Sprung (oder: am Start oder: liegt auf der Lauer). Es gelingt ihnen tatsächlich, jeder verkürzenden oder verkürzten Kapitalismuskritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. M. Binswanger: „Das Streben der Konsumenten nach „immer mehr“ ist für das Wachstum essenziell, und die zunehmende Abschwächung dieses Strebens in hochentwickelten Ländern stellt eine permanente Bedrohung des Wachstums dar. Aus diesem Grund verschieben sich die Anstrengungen der Unternehmen zunehmend von der Bedürfnisdeckung zur Bedürfnisweckung.“ (2019 S. 126) Womit er en passent auch den verbreiteten Unsinn erledigt, der im Konsumismus (oder Warenfetischismus) die Ursache des Problems vermeint – nein, das gehört zur Lösung. „Exzesse“ der Geldschöpfung z.B. „ließen sich durch Reformvorschläge wie die Einführung eines Vollgeldsystems allenfalls beschränken (siehe Huber 2010). Der Wachstumszwang selbst bliebe jedoch auch bei einem Vollgeldsystem bestehen, da dieses an der grundlegenden Funktionsweise einer kapitalistischen Wirtschaft nichts ändert.“ (127) „Letztlich sind die als Wachstumstreiber aufgeführten Faktoren somit entweder Voraussetzungen für die Funktionsweise kapitalistischer Wirtschaften, oder sie werden als Folge des Wachstumszwangs durch die Wirtschaft gefördert (…) Kapitalistische Wirtschaften haben sich in der Vergangenheit als äußerst flexibel und gewandt im Umgang mit Grenzen erwiesen und es stets geschafft, diese zu beseitigen, egal ob sie durch die Natur oder den Menschen gesetzt wurden.“ (127/28) Ein Beispiel für „immer mehr“: „…gerade der Kampf gegen Bürokratie und für mehr Markt erzeugt wieder Bürokratie“ – und das sei auch gut so, weil so der Arbeitsplatzabbau in anderen Bereichen kompensiert und Kaufkraft/ Nachfrage erhalten bleibt. Wichtige Triebkräfte hinter dem Wachstum bürokratischer Tätigkeiten sind auch Effizienz und Optimierung – mit zunehmender Ineffizienz als Folge, weswegen es hier um „Nullsummenspiele“ geht, „die auf immer höherer Ebene weitergehen, da nicht alle effizienter werden können als alle anderen“ (sog. Parkinsonsches Gesetz zur Bürokratie; 161-64).

Binswanger jedenfalls, weit davon entfernt sich irgendwelche Illusionen zu machen, kommt sogar mit einem Beleg für „Kapitalismus und Schizophrenie“: in der NZZ vom 14.10.18 wird auf S. 29 eine Flugticketabgabe gefordert. „Das Ziel einer solchen CO2-Steuer besteht darin, das Fliegen zu verteuern und die Leute dazu zu bringen, weniger zu fliegen. Man möchte also das Wachstum des Flugverkehrs eindämmen und sogar einen Rückgang einleiten.“ In derselben Ausgabe auf S. 27 wird beklagt, daß die Entwicklung des Flugverkehrs in der Schweiz bedroht sei wg. mangelnder Wachstumsmöglichkeit am Zürcher Flughafen. Gefordert wird, „weiter in den Kapazitätsausbau… zu investieren, um zukünftiges Wachstum des Flugverkehrs zu ermöglichen“ (236). „Es ist letztlich egal was, wie und wo genau produziert oder gekauft wird. Entscheidend ist nur, dass die Wertschöpfung stets erhöht werden kann, so dass Unternehmen weiterhin Gewinne machen.“ (229) Und was die sog. „Grenzen des Wachstums“ betrifft – sie sind bloß „vermeintlich“ und es gilt, sie „zu beseitigen“ (229/30).

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!“ (Faust) Sind Fetischismus und Schizophrenie die „Seelen“ unserer Gesellschaft? Gibt es nichts (kein Ziel, Sinn oder Zweck), was der Todestrieb nicht konterkarieren, sub- und oder pervertieren könnte?

Der Todestrieb gehört wohl zu den umstrittensten Begriffen der Psa. In Anlehnung an Evans meinen auch wir hier weder Regression (Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie) noch Narzißmus (Suizidphantasien), also nichts Imaginäres, sondern „einfach die grundlegende Tendenz der symbolischen Ordnung, Wiederholung zu produzieren“ (307). Der Todestrieb ist somit kein biologischer Begriff („und muß vom biologischen Instinkt der Rückkehr zum Unbelebten unterschieden werden (Se 7, 249-250)“; 308), sondern „ein Aspekt jeden Triebs“: „´Jeder Trieb ist eigentlich ein Todestrieb´ (Ec, 848), weil (i) jeder Trieb seine eigene Auslöschung antreibt, weil (ii) jeder Trieb das Subjekt in Wiederholungen verwickelt und weil (iii) jeder Trieb ein Versuch ist, über das Lustprinzip hinaus in den Bereich der Exzesse des Geniessens zu gelangen, wo die Lust als Leiden erfahren wird.“ (308) Wie auch immer: hier ist an die bereits erwähnten „Schnitte“ zu erinnern, die eben nicht nur (Ur-)Teilungen und Differenzen „im Symbolischen“ sind, sondern (mehr oder weniger traumatisch verlaufende) kulturelle „Einschreibungen“ auf dem Medium des Körpers.

Zizek, der sich ja in Denn sie wissen nicht… an der Homologie von Signifikanten-Logik und Wertformen versucht, erweckt den Eindruck, daß Lacans Homologie von Mehr-Genießen und Mehrwert nicht im Rahmen der Wertformanalyse verhandelt werden kann, sondern daß dafür die Analyse einer besonderen Ware, der Arbeitskraft erforderlich ist, die bei Marx ja auch erst im 2. Abschnitt bzw. im 4. Kapitel (Die Verwandlung von Geld in Kapital) erfolgt – und nicht im 1. Abschnitt (Ware und Geld). Er scheint davon auszugehen, daß Lacans Homologie (wenn überhaupt irgendwo) nur in den Abschnitten nach der Wertformanalyse ihren systematischen Platz haben kann. Nur dort kann diese Homologie plausibel sein oder werden…

Auf S. 285 (Anmerkung 18) konkretisiert er in einer Skizze die behauptete Homologie. „Der Austausch von Arbeitskraft für Geld setzt… eine ´unmögliche´ Äquivalenz“ – oder anders gesagt: die Gleichung „Arbeitskraft = Geld“ ist eine Ungleichung. Diese Behauptung wäre im Rahmen der Wertformanalyse unmöglich, weil dort immer von Äquivalenz (bei der Gleichsetzung) ausgegangen wird – da gibt es keine Möglichkeit für das, was Marx Mehrwert nennt, da gibt es immer nur eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Frage: Wieviel x für y bzw. wieviel y für x. Das dabei denkbare bzw. mögliche Mehr oder Weniger ist nicht das, was Marx als Mehrwert bezeichnet.

Wenn Zizek also von Nicht-Äquivalenz spricht, meint er nicht diesen kleinen bei der Bestimmung des Tauschwerts einer Ware möglichen Volatilitätsspielraum, sondern den „richtigen“ Mehrwert (Profit); seiner Feststellung liegt offensichtlich die Arbeitswertlehre von Marx zugrunde, wonach (allein) die Vernutzung der Ware Arbeitskraft mehrwertbildend ist. Solange man das nicht in Zweifel zieht, können Mehrwert und Mehrlust nicht homolog sein, weil die Mehrlust auf einem gewissen (mit der Sprache einhergehenden) Verlust basiert, der durch die Mehrlust quasi ausgeglichen wird (solange man nicht feststellt, daß „es“ das auch nicht ist – woraus dann wieder Verlust und Mehrlust etc. ad infinitum, was summa summarum immer +/- Null ergibt, also keine Akkumulation).

Wenn man jedoch die Wertproduktion bzw. -schöpfung nicht mehr (wert)substanzialistisch denkt, entfällt die Möglichkeit, die Grenze zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit bestimmen zu können. Es entfällt dann auch der Sonderstatus der „besonderen Ware Arbeitskraft“. Wenn allerdings das Verhältnis Arbeit-Geld (im Prinzip!) ein Verhältnis wie jedes Ware-Geld-Verhältnis ist, dann stimmt die Homologie-These – und zwar nicht nur, weil die Arbeitswertlehre mit ihrem Wertsubstanzialismus überholt und nicht mehr zu halten ist, sondern auch, weil die Reproduktionshypothese auf tönernen Füßen steht (und auch nicht mit so etwas wie dem Warenkorb aufrecht erhalten werden kann, weil der eher zeigt, daß Lohn(kosten) und Reproduktionskosten nicht unbedingt oder nur bedingt kongruieren…).

Allerdings hat sich dann (quasi en passent) auch der Mehrwert verändert – der Mehrwert ist dann nicht mehr das, was Marx sich darunter vorgestellt hatte. Wenn man die notwendige (bezahlte) Arbeitszeit nicht mehr fein säuberlich von der (unbezahlten) Mehrarbeit trennen kann, und wenn auch noch andere Faktoren bei der Produktion des Profits (und der Rekonstruktion des Mehrwerts) eine Rolle spielen, dann ist der Mehrwert noch nicht mal ein Sonderfall von Objekt a. – Wieso?

$ ◊ a ist Lacans Formel fürs Phantasma. Der Arbeiter (als A.kraft) bzw. das „Proletariat ($) ist ein Subjekt ohne Substanz, eine Leere reiner Potenzialität ohne jedweden positiven Inhalt, von allen substantiellen Verbindungen mit den objektiven Produktionsbedingungen losgelöst“. (Zizek, 285) Diese „leere, gebarrte Subjektivität“ ist jetzt verbunden mit „dem Geld (der Objekt-Ursache unseres Begehrens im Kapitalismus)“, also mit Objekt klein a – und das will bekanntlich mehr. „Mehr“ will aber auch der Kapitalist. Die Formel fürs Phantasma gilt natürlich für beideobwohl sie im Produktionsprozeß verschiedene Funktionen haben. Ist das Ganze auch diskurs-“technisch“ darstellbar? Lacans Diskurs des Herrn hat die Formel:

S1 S2

$ a

Die naheliegendste Lesart wäre: S1 ist der Herr (Kapitalist) und S2 der Knecht (Arbeiter), der dem Herrn (s.o.) Mehrlust schuldet. Die These einer Homologie von Mehrwert und Mehr-Genießen kann nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn man auf die Lücke, den gap, fokussiert und die Unmöglichkeit der Repräsentation in der Symbolischen Ordnung, sprich: die Unmöglichkeit, einen Signifikanten durch einen anderen Signifikanten ohne einen verbleibenden Rest zu ersetzen, mit dem ‘Sprung’ des Tauschwerts der Ware Arbeitskraft zu ihrem Gebrauchswert, ihrer Vernutzung und dem dabei entstehenden Produkt, ins Verhältnis setzt. Dann erhält man tatsächlich homologe Strukturen. Denn zum einen bleibt im grundlegenden Diskurs (des Herrn) stets der Rest bzw. Überschuss Objekt a während zum anderen, wenn in diesem Diskursschema S1 und S2 durch TW der Ware Arbeitskraft an der Stelle von S1 und dessen GW (mit Blick auf MW) an der Stelle von S2 platziert werden, erhält man an der Stelle des Produkts, an der zuvor Objekt a stand, nunmehr die Summe aus TW der Ware Arbeitskraft plus Mehrprodukt (das man hier der Einfachheit halber mit dem Mehrwert gleichsetzen kann). Wie sich dabei in der Formel des „Kapitalisten“ Objekt a als Überschuss darstellt, so in der Formel des Arbeiters als Verlust:

TW  _  GWArbeiter$           a

(Im Prinzip könnte man (das ist ja gemeint) auch (li) Arbeit und (re) Mehrarbeit schreiben…)

G _ Kapital/ist$ a

Unter “Mehr” verstehe jeder was er will… Der Kapitalist gewinnt (wenn er die Hürde der Realisierung nimmt) G´, der Arbeiter gewinnt Anerkennung, Kaufkraft usw.
Was der Herr opfert (er “riskiert” was…), sagte Lacan, und auch was der Knecht schuldet (opfert).
Beide opfern und gewinnen – und sind dabei (wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise) voneinander abhängig; das Verhältnis ist nicht reziprok, aber auch nicht eindimensional (hierarchisch oder statisch), sondern ein ständiger Kampf. Die Redeweise vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat nicht nur etwas Theologisches (der Herr als Brot-Geber), sondern auch etwas Ideologisches (weil der Herr als Arbeitskraft-Mieter de facto Arbeitnehmer ist).

Wer die Chose einzig aus der Ausbeutungs-Perspektive betrachtet, verengt seinen Blickwinkel und übersieht, was sich aus parallaktischer Sichtweise ergibt: mal als Verlust (Minus), mal als Mehrlust (Plus) – und das nicht nur intersubjektiv, sondern auch intrasubjektiv. Man übersieht auch die Verstrickungsmöglichkeiten, die der Aufhebung des Lohnarbeitsverhältnisses (der Auflösung des Knotens) im Wege stehen.

Abschließend sei an die Formel des Kapitalistischen Diskurses erinnert:

$ S2

S1 a


In einem Vortrag in Mailand (12.05.1972) hatte Lacan am Diskurs des Herrn diese “kleine Vertauschung von S1 und dem gestrichenen S, das für das Subjekt steht” vorgenommen und behauptet: “…das genügt, dass es wie von selbst läuft. Es kann gar nicht besser laufen. Aber es läuft eben zu schnell, es verbraucht sich (se consomme), es verbraucht sich so gut, dass es sich aufbraucht (se consume)”. Er hat diese Variante dort als den kapitalistischen Diskurs bezeichnet, aber leider nur andeutungsweise erklärt: “Wir wissen, was die Sprache produziert. Was produziert sie? Das, was ich hier das Mehrgenießen genannt habe, weil das der Term ist, der auf diesem Niveau angewandt wird, das wir gut kennen und das sich das Begehren nennt. Noch genauer: es (das plus-de-jouir) produziert die Ursache des Begehrens. Und das ist es, was sich Objekt klein a nennt.” Das Subjekt (im kapitalistischen Diskurs) wähnt sich als (autonomer) Herr, ist aber in Wahrheit bloß Agent des Kapitals. (Weswegen in der neoliberalen Phase des Kapitalismus die angebliche Autonomie des Subjekts und die Konsumenten-Souveränität stark aufgeblasen wurden.)

Fazit: Die MW-Erklärung von Marx ist (im Prinzip) plausibel, aber nicht umfassend genug, die Arbeitswertlehre deckt allenfalls ein begrenztes Spektrum ab. Lacan erklärt die Genese des Mehrwerts nicht, er geht vom Herrendiskurs aus und behauptet, dass man Objekt a mit dem MW gleichsetzen kann; genauer, er versteht den MW als Fall von Objekt a. Diese Überlegung scheint folgerichtig, wenn man das Diskursmodell wie hier vorgeschlagen abwandelt. Der kapitale, kardinale und kategoriale Fehler besteht immer (ob es um „Ich“/ Subjekt oder Arbeit geht, um Geld oder Kapital) im Begehren der Identität von Begriff und Sache bzw. im Ignorieren ihrer irreduziblen Nicht-Identität (Differenz).

© Klerich

Literatur:

Barad, Karen:

– Agentieller Realismus, Berlin 2012

– Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualität, Gerechtigkeit, dOCUMENTA (13) 2012

– Verschränkungen, Berlin 2015

Baudrillard, Jean: Der unmögliche Tausch, Berlin 2000

Binswanger, Hans Christoph: Die Wachstumsspirale, Marburg 2013

Binswanger, Mathias: Der Wachstumszwang, Weinheim 2019

Chukhrov, Keti: Sexuality in a Non-Libidinal Economy (e-flux journal # 54 – april 2014)

Chukhrov, Keti: Desiring Alienation in Capitalism (CRISIS & CRITIQUE vol. 4 / issue 2, 2017)

Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1992

Deleuze/ Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1974

Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002

Freud, Sigmund: Studienausgabe 10 Bde + Erg.band, Frankfurt am Main 1971
– Jenseits des Lustprinzips, Urfassung (1919) u.a.: Luzifer-Amor 51 (2013)

Graeber, David: Die falsche Münze unserer Träume, Zürich 2012

Klerich: https://non.copyriot.com/author/klerich/

Lacan, Jacques:

– Du discours psychanalytique, Vortrag Milano 12. Mai 1972

– Das Seminar Buch IV – Die Objektbeziehung, Wien 2007 (2003)

– Das Seminar Buch XI – Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Berlin 1996 (1978/ 1987)

– Le Séminaire livre XVII – L´envers de la psychanalyse, Paris 1991 (dt.: Die Kehrseite der Psychoanalyse, o.O. 2. Fassung Sept. 2003)
– Das Seminar Buch XXIII – das Sinthom, Wien 2017

Lyotard, Jean-François: Libidinöse Ökonomie, Zürich-Berlin 2007

Marchart, Oliver: Die politische Differenz, Berlin 2010

Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt, Berlin 2013
Marx, Karl:

– Zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13)

– Das Kapital, 3 Bände (MEW 23 – 25)

Mazzucato, Mariana: Wie kommt der Wert in die Welt? Frankfurt am Main 2019

Moore, Jason W. und Raj Patel: Entwertung. Eine Geschichte der sieben billigen Dinge, Berlin 2018

Moore, Jason W.: Kapitalismus im Lebensnetz, Berlin 2020

Morel Geneviève: Das Gesetz der Mutter, Wien 2017

Szepanski, Achim:
– Kapitalisierung I und II, Hamburg 2014
– Der Non-Marxismus, Hamburg 2016
– Kapital und Macht im 21. Jahrhundert, Hamburg 2018

Tomsic, Samo:

– The Capitalist Unconscious, London/ N.Y. 2015

– The Labour of Enjoyment, Berlin/ Köln 2019

Zizek, Slavoj:

– Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Fr.a.M. 2005

– Parallaxe, Frankfurt am Main 2006

– Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, Wien 2008

Zupancic, Alenka:
– Warum Psychoanalyse? Zürich-Berlin 2009

– WHAT IS SEX? MIT Press 2017 (dt.: Wien 2020)
– Freud und der Todestrieb, Wien 2018

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