Moralische Mobilmachung

Die allgegenwärtige Moralisierung der Politik schwächt Kritik und Opposition

„Wir befinden uns im Krieg. Wie ich Ihnen am Donnerstag sagte, haben wir Europäer heute Morgen eine gemeinsame Entscheidung getroffen, um uns zu schützen.“ Das sind die Worte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Sie stammen allerdings nicht aus dem Jahr 2022, sondern aus einer Fernsehansprache zu den großflächigen Corona-Maßnahmen Frankreichs im März 2020. Die Kriegsmetapher durchzieht in permanenter Wiederholung die bald drei Jahre alte Grundsatzrede. Nicht eine demokratische Idee gesundheitlicher Versorgung und Fürsorge sollte es richten, sondern die polizeilich-militärische Mobilmachung der Gesellschaft zur Bekämpfung eines äußeren Feindes. „Wir befinden uns im Krieg, zugegebenermaßen in einem Gesundheitskrieg: Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation. Aber der Feind ist da, unsichtbar, nicht greifbar, auf dem Vormarsch. Und das erfordert unsere allgemeine Mobilisierung“, so Macron.

Von heute aus betrachtet erscheint diese mediengetriebene „allgemeine Mobilisierung“ der Bevölkerung in der Pandemie wie eine Blaupause dafür, wie der tatsächliche Krieg, den Putins Armee in der Ukraine entfesselt hat, medial und politisch orchestriert wird. Dieser Krieg verdrängt seit Monaten jede andere Weltkrise und hat das Medienspektakel rund um Corona bruchlos abgelöst. Seitdem wird aus den deutschen Wohnzimmern nicht mehr das Pflegepersonal beklatscht, sondern der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion. Unzweifelhaft haben diese Menschen nicht nur unseren Applaus, sondern auch unsere Empathie und Solidarität verdient, ebenso wie ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland, auch wieder einmal in oftmals beeindruckender Weise, von Privatpersonen aufgenommen und unterstützt werden.

Suche nach Normalität

Beunruhigend ist etwas anderes. In der deutschen „Zuschauerloge“ (Habermas) scheint es tatsächlich meistens um uns zu gehen, wenn von der Ukraine die Rede ist. Es scheint so, als ob dabei die untergründige Verunsicherung und Angst auch das kritische Denken und die gesellschaftliche Opposition in die Arme der westlichen Herrschaft treiben – kaum jemand spricht heute eine andere Sprache als die der Macht. Die moralische Rigidität, mit der die Mehrheitsgesellschaft bereits zur Befolgung der Corona-Maßnahmen aufrief und jeden Zweifel an ihrem autoritären Geist als unsolidarisch brandmarkte, ist dabei noch gut in Erinnerung und schuf vermeintliche Sicherheit in unsicheren Zeiten. Heute ist unübersehbar, dass der emotional hoch besetzte Einsatz für die Aufrüstung der Ukraine bis zu ihrem Sieg auch eine Übersprungshandlung darstellt. Als wolle man sich, wie bei Corona, noch einmal der Einsicht verweigern, dass der eigene, privilegierte Lebensentwurf längst an ein Ende gekommen ist. Die hierzulande entfachte Begeisterung für den Kampf gegen Putin scheint das Versprechen in sich zu tragen, dass an der Front all das noch zu verteidigen ist, was längst von innen heraus porös geworden ist.

Die dem folgende, allgegenwärtige Militarisierung der Sprache hat ihre Quelle nicht in Kampfbereitschaft, sondern im Wunsch nach Sicherheit und Normalität – und dem Glauben, dass in der Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen Gut und Böse, ergo einem Sieg über Putin, die Rückkehr in das alte Leben möglich sein könnte. Das bedeutet im Umkehrschluss auch: Man ist ganz offensichtlich dazu bereit, die Menschen der Ukraine diesen Krieg auch für den Westen kämpfen zu lassen und dessen Unterstützung als uneigennützige Solidarität zu verkaufen. Einen Krieg nicht nur für Freiheit und Demokratie, sondern für die Fortsetzung der imperialen Lebensweise, der postkolonialen Ausbeutung und der privatisierten Bequemlichkeit unter westlicher Hegemonie. „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben. Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben“ – so klingt das euphemistisch aus dem Munde von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Neuer Nationalismus

All das hat dramatische wie bittere Konsequenzen. Im Schatten der medial inszenierten Dichotomie von Gut und Böse wird heute ein neues nationales Selbstverständnis und Selbstbewusstsein gestiftet, das alle offenkundigen Widersprüche überspielt und dessen Überzeugungskraft nur über einen äußeren Feind generiert wird. Man schmückt die eigene, brüchig gewordene Lebensweise mit blau-gelben Flaggen und nimmt Putins Krieg nicht als Anlass zum Zweifel an einer vom Westen dominierten Weltordnung, sondern zu ihrer Bekräftigung. Der ukrainische Widerstand gegen einen wild gewordenen russischen Autoritarismus wird untergründig kurzgeschlossen mit einem Kampf für jene westliche Gemeinschaft, deren Ortskräfte in Afghanistan immer noch vergeblich auf Ausreise warten. So können sich die politischen Eliten sanieren und auf dem Rücken der angegriffenen Ukrainer:innen den moralischen Druck erhöhen, ihrer von der NATO garantierten „Werteordnung“ beizutreten.

Die dabei stattfindende, skurrile Umwertung der Werte, in der die NATO sich zum Verbündeten von dekolonialen Kämpfen stilisiert und Russland zu ihrem Außen erklärt, obwohl dessen gegenwärtige Verfassung zu nicht unerheblichen Teilen die Handschrift des Westens trägt, sind nur vor dem Hintergrund der moralischen Entpolitisierung und unkritischen Enthistorisierung des Tagesgeschehens möglich. Sie sind nichts anderes als eine schleichende Zerstörung der Vernunft im Namen des Guten. Die moralische Rigidität und Überheblichkeit oder kurz: die unübersehbare Moralisierung der Politik, die wir seit Jahren erleben, leistet tatsächlich einem neuen Autoritarismus Vorschub und nicht dem Kampf für Freiheit, Feminismus und Menschenrechte. Es ist daher an der Zeit, einen fundamentalen Einspruch zu erheben gegen das neue deutsche Selbstbild und die neu gestiftete Selbstgewissheit, die sich heute in deren Windschatten herausbilden. Denn es bleibt im Sinne Max Horkheimers und in den Vokabeln unserer Zeit dabei: Wer vom Neoliberalismus nicht reden will, möge auch vom Autoritarismus schweigen.

Solidarität in Zeiten des Krieges

Tatsächliche Solidarität wäre mehr als kurzfristig abrufbare Empathie, die so schnell geht, wie sie kommt. Es ginge ihr um einen Abschied von einer privilegierten Lebensweise zugunsten eines gemeinsamen Dritten jenseits der Geopolitik. Das Gespräch darüber wäre aber nicht mit westlicher Überheblichkeit, sondern mit der Anerkennung der eigenen historischen kolonialen Verantwortung zu eröffnen. Dass zu dieser Selbstveränderung hierzulande kaum jemand bereit ist, ist unübersehbar. Dies zeigt nicht zuletzt der absurde Diskurs über die Klebeaktionen der „Letzten Generation“, deren ebenso berechtigten wie moderaten Proteste hierzulande von den gleichen Akteuren in die Nähe des Terrorismus gerückt werden, die sich in der Außenpolitik als Weltretter:innen generieren und sich mit dem Heldenmut der Ukraine schmücken.

Die Regierungen und Eliten des Westens erheben heute Anspruch auf moralische Kategorien, den Gehalt sozialer Bewegungen und auf den Widerstand der Ukrainer:innen. Diesen Versuchen, Emanzipationskämpfe mit einem neuen Nationalismus westlicher Prägung zu verrühren, sollten wir mit aller Kraft widerstehen. Mit einem Denken und Tun, deren Nüchternheit eine wahre Empathie und Solidarität möglich machen – anstatt eines moralisch hochgerüsteten Nationalismus, der in Wahrheit vor allem westliche Privilegien verteidigen möchte. „Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebenso sehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? Die Anstrengungen, eine solche Katastrophe zu verhindern, überschatten die Suche nach ihren etwaigen Ursachen“ – so lauten die ersten Sätze in Herbert Marcuses Vorrede zu seiner Schrift über den „eindimensionalen Menschen“. Sie trägt den bezeichnenden Titel „Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition“. Jedes Wort aktueller denn je.

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Foto: Sylvia John

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