Nicht-Musikologie (Zweite Generalisierung der Einsprüche)/ (Ultrablack of Music 10)

Laruelle würde Deleuze & Guattaris Art und Weise die Musik zu behandeln, nämlich als das Einfangen von Affekten und Perzepten, wohl ablehnen, um stattdessen eine autonome theoretische Ordnung der Nicht-Musik einzufordern, die einem nicht-wissenschaftlichen Denken gemäß der radikalen Immanenz des Realen entspricht. Das Reale ist weder als Sein noch als Seiendes zu verstehen, es sollte auch nicht mit Existenz gleichgesetzt werden. Vielmehr ist das Reale das Resultat einer transzendentalen Setzung, es ist gegeben-ohne-Gegebenheit und zugleich als negative Möglichkeit definiert, die für jede »Greifbarkeit« von Objekten und für die Rigorosität des Denkens selbst steht. (Laruelle 2015: 23) Das Reale bleibt indifferent gegenüber jeder Spiegelung in der Wissenschaft oder in der Kunst, muss aber dennoch gedacht werden, jedoch eben nicht im Kontext von Wahrheit oder Widerspiegelung. Und daraus ergibt sich, dass für Laruelle die Nicht-Philosophie genau dann frei ist, wenn sie als Theorie ihrer selbst existiert, das heißt, wenn sie zur gleichen Zeit determiniert und sich selbst determinierend ist. Eine Theorie wird hingegen als begrenzt bezeichnet, wenn sie, um zu existieren und zu operieren, durch ein andere Theorie determiniert wird. Die Nicht-Philosophie existiert nicht bezüglich ihrer Position zur Philosophie – sie ist nicht zwischen der philosophischen Ebene und dem Chaos da draußen angesiedelt und sie fordert kein »Nein« zur Philosophie. Vielmehr wird sie durch ihre eigene Struktur determiniert und benutzt die Philosophie als ihr Material.
Laruelles Konzept der Superposition (Superposition besagt, dass eine dritte Welle zu zwei Wellen so hinzuaddiert wird, sodass sämtliche Wellen von derselben Natur bleiben) negiert zwei Spielarten des sonischen Denkens, um es als Nicht-Repräsentation (eher sonisch als über den Sound zu denken) zu entwickeln, indem es die Inkommensurabilität der Abgeschlossenheit des Sounds (hermetisch gegenüber anderem Material, Theorien) beachtet, sowie die Inkommensurabilität des Austauschs von Sound mit dem Denken bedenkt – Sound, der nun porös genug ist, heterogene Assemblagen zuzulassen, ohne sie selbst einzuführen. Während die Abgeschlossenheit die Repräsentation als ein Denken über den Sound inkludiert, tendiert der permanente Austausch zwischen Sound und Denken zu einer Konfusion, weil er ständig Denken und Musik/Sound konvertiert oder gar fusioniert. Diese Konfusion reflektiert den Glauben der elektronischen Musik in ihrer ersten Periode (Russolo bis Schaeffer und musique concrète), alles in der Welt sei musikalisch, was man mit Laruelle als das Prinzip der musikalischen Suffizienz bezeichnen könnte.

Nicht-Musikologie startet auf dieser Ebene mit der Reduktion der Musik und der Musikwissenschaft auf reines Material, um radikal mit der Idee zu brechen, dass alles in der Welt musikalisch sei. Nicht-Musikologie beschäftigt sich an dieser Stelle sowohl mit der Musikwissenschaft als auch mit der Musik, die wiederum in Bezug zur Wissenschaft steht (Xenakis’ Gebrauch von stochastischen Prozessen). Nicht-Musikologie fordert keineswegs eine neue Musikologie, sondern eine generische Wissenschaft der Musik, oder, um es anders zu sagen, keine Wissenschaft, sondern eher eine Häresie oder eine Fiktion im Angesicht der Musik.

Musik-Fiktion ist radikale Objektivität ohne Repräsentation oder Intention und beinhaltet weder Imitation noch Spurensuche. Vielmehr strebt sie eine Nicht-Welt an, die aber durchaus real ist, weil die Musik-Fiktion immer auf Materialität bezogen bleibt. Diese Musik-Fiktion präsentiert keine Anti-Musik, sondern fordert die Mutation der traditionellen Vorstellungen und Theorien über Musik. Sie strebt nicht dem Ziel zu, die Musik zu zerstören, vielmehr widersetzt sie sich zunächst dem Prinzip der musikalischen Suffizienz, dem Glauben, dass alles musikalisch sei. Das Programm der Nicht-Musikologie nutzt sogar den Gebrauch der Musikologie, um Alien-Theorien zu konstruieren, die gegenüber dem Prinzip der musikalischen Suffizienz nicht verschuldet bleiben. Sonisches Denken oder Non-Musikologie komponiert die Theorie als ihr eigenes Objekt, schreibt eine autonome Musik-Fiktion. Sie beherzigt Virilios Statement: »Wissenschaft und Technik entwickeln das Unbekannte, nicht das Wissen. Wissenschaft entwickelt, was nicht rational ist. Das bedeutet: Fiction.« (Virilio zitiert nach Eshun 1999: 034) Fiktion impliziert Performance, Erfindung, Artefakt und Konstruktion, aber dies in einem nicht-expressiven und nicht-repräsentationalen Sinn, sondern als Immanenz. Letztendlich muss solch eine Wissenschaft auch die Vivisektion des Lebens unterlassen, nicht aber um den Anschluss der Produktion des Sounds an das sensorische Engineering zu verlangen, das, wie Eshun (Eshun 1999: 213) fordert, zu einer Intensivierung der Sensationen führt, sondern um als Musik-Fiktion und »Musik« einen direkten Weg zum Realen zu finden, das weiterhin abgeschlossen bleibt.

Während Kodow Eshun mit seiner Breakbeat-Science einen phänomenologischen Zugang zur Musik sucht, fordert Laruelle analog zum Foto, das als eine Nicht-Welt der reinen Auto-Impression vorgestellt wird und ein radikales Sein-im-Photo verlangt, ein radikales Sein-in-der-Musik. Damit bleibt sowohl die Musik-Fiktion als auch die geforderte Musik radikal immanent in sich selbst. Beides sollte man als Objektivität ohne Repräsentation bzw. als radikale Objektivität (bezüglich des Realen) verstehen. Und dies erfordert kein Denken über den Sound als sonische Philosophie, sondern eine abstrakte Theorie des Sounds, eine radikal abstrakte ästhetische Theorie, die nicht-weltlich und nicht-perzeptuell ist und sich am immanenten Charakter der Musik als solcher orientiert. Folgt man Laruelle, dann beinhaltet die radikale Objektivität generell keine Entfremdung, sondern ist so horizontal, dass sie alle Intentionalität verliert; sie ist ein Denken, so blind, dass es perfekt klar in sich selbst sehen kann. Zugleich fordert sie eine Musik, die nicht länger Imitation, Spur, Emanation oder Repräsentation dessen ist, was ausgedrückt wird.

Theoretiker und Musiker tauschen sich auch nicht aus oder reflektieren einander, sondern sie verlieren ihre Distanz genau dann, wenn sie einen direkten Sinn für das Reale herstellen. Der Theoretiker, der Musik-Fiktion schreibt, ist kein Übersetzer oder Chronist der Musik. In gewisser Weise muss der Theoretiker, will er selbst in der Immanenz bleiben, zum Klon einer suspendierten oder nicht-mimetischen Beziehung zwischen Musik und Theorie werden. Es gibt hier keinen Austausch, keine Reversibilität und keine Äquivalenz zwischen der Theorie und der Musik zu vermelden, keine Synthesis im Hegelschen Sinn, die zu einer gegenseitigen Begegnung und zu ihrer Elimination und damit zu einer höheren Form führt. Es gibt stattdessen die Irreduzibilität der Theorie und des Musikalischen zu vermelden; beide werden irreversibel. Austausch, Korrespondenz, Spur und Supplementarität werden vermieden. Was Kodwo Eshun so meisterhaft vorführt, Theorie als Musik, der eine Musik als Theorie entsprechen soll, das wird gerade vermieden. Eine strikte Beziehung zwischen Theorie und Musik besteht nur insofern, als beide Elemente einander überlagern und zugleich irreduzibel aufeinander sind. Laruelle nennt dies »irreduzible Dualität«.

Das theoretische Phänomen repräsentiert at once ein musikalisches Phänomen. Es gilt, einen Kurzschluss zwischen dem Produzenten, der Musik kreiert, und dem Theoretiker/Konsumenten, der erfährt und interpretiert, herzustellen. Der Theoretiker signifiziert oder repräsentiert keine Wahrheit, die in der Musik ist, obgleich es eine Zirkulation der Interpretation geben kann, in der die Theorie die Musik und die Musik die Theorie interpretiert. Dies ist Teil der musikalisch-theoretischen Differenz, die in der Spannung der Kräfte zugleich musikalisch und theoretisch ist. Die Wahrheit ist nicht in der Musik oder in der Theorie, vielmehr wird die Wahrheit der Musik durch den Abzug der Wahrheit (der Theorie) hergestellt.

Der nicht-musikalische Aspekt aller Musik beinhaltet die a-synthetische Relation zwischen zwei Dingen, eine Relation ohne Synthesis. Die Ästhetik Laruelles basiert auf einer unilateralen Logik, bei der zwei Terme nicht unter einen dritten Term subsumiert werden, sondern unter den einen Term. Zwei Terme und ihre Relation sind dem einen Term immanent; der zweite Term ist der unilaterale Klon des Einen, der das Reale ist. Diese Figur enthält ein neues Konzept der Relation, das weder dialektisch noch differenziell ist, eine Relation, die nicht digital ist.

Laruelle spricht heute von der Nicht-Standard-Methode bzw. der immanenten Fiktion, die Invention, Konstruktion und Performance inkludiert, und zwar als nicht-repräsentative und nicht-expressive Methode, die das abstrakte Denken für eine Nicht-Ästhetik benutzt und rein gar nichts von einer Parallelisierung von Philosophie und Kunst hält. Das abstrakte Denken generiert eine fraktale, tiefenlose, nicht-objektivierende Objektivität, die ein konkreter Modus der Abstraktion ist. Was Laruelle zum Fraktalen des Fotos sagt, kann auch auf radikale Computermusik angewendet werden. Wie das Foto manifestieren die objekt-orientierten Programmiersprachen wie »Max/MSP« oder »SuperCollider« eine nicht-spiegelnde Manifestation der Identität, die nichts mit irgendwelchen immersiven Eigenschaften des Sounds zu tun hat und die zudem auf eine prä-analoge Ähnlichkeit verweist, die nichts ähnelt und ohne Referenz zur Welt ist. Dieser irreflexive und automatische Prozess beinhaltet die fraktale Proliferation von Modellen ohne Spiegel oder eine immanente Computerisierung. Dafür reduziert die Nicht-Musikologie Wissenschaft, Philosophie und Musik auf reines Material, das sie sampelt.

Musik ist heute bereits selbst stark konzeptualisiert. (Eshun entwickelt sein eigenes Musik-Design, indem er sich einer konzeptionellen Alien-Musik zuwendet, die aus der Zukunft kommt und ein synthetischer Rekombinator ist, der beim Hörer die Entfremdung, den Grad der Fremdheit und der Befremdlichkeit steigert. (Eshun 1999: 006) Alien-Musik bringt die eine a-humane oder inhumane Musik, die mit einem Berührungs-High für die Grausamkeit prozessiert (ebd.: 053). Eshuns Technowissenschaft will Mythoswissenschaft sein, eine Mannigfaltigkeit aufblühender mixologischer Mathemagie. Sie verlangt nach dem Gedankensynthesizer, der als Design, Herstellung, Erfindung, Cutting, Pasting und Editing eines künstlichen Diskontinuums funktioniert, als eine Futurrhythmaschine (ebd.: 004), deren Alien-Diskontinuum durch Brüche, Lücken und Intervalle kriecht und anti-genealogisch ist. Sie ist Katastrophenwissenschaft als einem Akt, der die formalen Strukturen von Raum und Zeit zerlegt. In der Mimikry dieser Wissenschaft an die elektronische Musik kollabieren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Musik die formalen Strukturen der Zeit, regredieren zu Schlamm, und der Raum wird hin und hergeschoben, bis er sich krümmt, um von den Pulsationen der Alien-Musik zertrampelt zu werden, während der Kopfraum seekrank wird. Alien-Theorie arbeitet die Technologie bzw. die abstrakte Apparatur aus, um eine andere Maschinenmusik zu forcieren. Dabei fungiert der Synthesizer als Schaltkreis bzw. als Wechselstromgenerator zwischen Produzent, Zuhörer und Track. Der Moog-Synthesizer ist ein Verstärker, der Ströme ein- und ausführt – einerseits auf der materiellen Ebene, andererseits als Technowissenschaft. Schon Xenakis spicht vom Synthesizer als dem Beschleuniger von Schallpartikeln, einem Desintegrator von Schallmaterie (ebd: 095) und artifiziellem Ton, der sich von der Natur gelöst hat, um keinerlei Subjektivität mehr zum Ausdruck zu bringen, vielmehr das »objektive« Weltgeräusch und die »Klangmasse«, die nicht aus dem Herzen quillt, einzufangen, wenn sie vom Außen auf uns zu kommt, wie der Fall des Regens oder die Stimme des Windes.

Nach oben scrollen