Nick Dyer-Withefords Cyber-Proletariat. Kapitalakkumulation, Kybernetik und proletarische Klasse.

Kybernetik und Klasse
Warum von einem globalen Proletariat im Kontext des kybernetischen Kapitals sprechen? Der Begriff „Kybernetik“ besitzt zwei Bedeutungen, zum ersten bezeichnet er die Denkschule, die in den 1930er Jahren ihre Theorien anhand von Experimenten in der Radartechnik, der Ballistik und im Bau der Atomwaffen für das britische und amerikanische Miltär entwickelt hat. Zum zweiten referiert er auf die Entwicklung der Computersysteme. In der Kybernetik werden Maschinen nicht länger als Wärmekraftmaschinen, die Energie durch die Konsumtion von Treibstoff erzeugen, verstanden, sondern als Entitäten, die durch die Kontrolle der Information reguliert werden. Dafür entscheidend ist das Konzept des Feedback-Loops, der es der Maschine erlaubt, die Effekte ihrer eigenen Tätigkeiten auf die Umgebung zu messen und zu korrigieren. Desweiteren wird im Rahmen der Kybernetik das Konzept der Information transformiert, das sich generell nicht mehr auf das Wissen, sondern auf die Tätigkeit bezieht. Laut Rosh Ashby ist selbst das musterergänzende Gehirn keine denkende, sondern eine aktiv rechnende, die Information bearbeitende Maschine. Zwar war MANIAC nicht der erste Computer, aber er machte als erster Computer Gebrauch von der Speicherung des Random Access Memories, das sowohl Daten als auch Instruktionen enthält, und damit die Unterscheidung von Zahlen, die Dinge bedeuten, und Zahlen, die Dinge machen, hinfällig werden lässt. Schließlich spaltete sich die Kybernetik in zwei getrennte und zugleich aufeinander bezogene Bereiche auf – Automation und Netzwerke. Automation umfasst Roboter und weitere autonome Technologien und die Artificial Intelligence (Wiener, von Neumann). In der Netzwerktheorie war Claude Shannons 1949 erschienenes Buch A Mathematical Theory of Communication maßgebend, in dem Information in rein quantitativen Terms definiert wurde. (Dyer-Witheford 2015: Abschnitt 3; Kindle-Edition)

Dyer-Witheford stimmt mit dem Autorenkollektiv Tiqqun darin überein, dass das Verhalten von Menschen und Maschinen im Rahmen der kybernetischen Hypothese durch maschinell programmierte und reprogrammierte Feedback-Loops kontrolliert wird, und in letzter Konsequenz impliziert dies eine politische Hypothese, obgleich doch der kybernetische Verweis auf Steuerung und Governance ein zu enges Konzept in sich birgt, um die informatische Regulation von biologischen, ökonomischen  und technischen Entitäten umfassend zu gewährleisten. Es geht deshalb darum, wer oder was im Zeitalter der intelligenten Maschinen die Prozesse der Produktion, Zirkulation und der Finanzialisierung regiert. Und Dyer-Withefords Antwort darauf lautet richtigerweise: das Kapital.

Der Begriff „Kybernetik“ impliziert also die Bedeutung von Befehl und Kontrolle und dies macht ihn für die Analyse des Kapitals brauchbar, was sowohl die Technologie als auch die Klasse betrifft. Gewöhnlich bezieht sich die marxistische Definition der Klasse auf die Teilung der Mitglieder einer Ökonomie gemäß ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln und in den Produktionsverhältnissen: Man unterscheidet zwischen Kapitalisten, intermediären fluiden Schichten oder Mittelklassen und dem Proletariat. Dabei dominiert das Stratum der Kapitalisten alle anderen Klassen. Allerdings wird heute in der Soziologie bis in die linksakademischen Schichten hinein das Konzept der Klasse verworfen bzw. durch die Kategorien Gender und Race relativiert oder schließlich sogar ersetzt, oder man behauptet etwa, dass wir alle der Mittelklasse angehören. Das Konzept der Klasse wird damit grundsätzlich als reduktionistisch kritisiert, wohingegen Nick Dyer-Whiteford in seiner Schrift Cyber-Proletariat auf der Gültigkeit der marxistischen Klassentheorie beharrt, insofern für ihn das ökonomische System, das untrennbar mit dem Bürgerkrieg verbunden ist, den Klassen weiterhin die oben genannten abstrakten Reduktionen und Verteilungen auferlegt, wobei hinzuzufügen ist, dass gegenwärtig der Klassenkampf in den meisten Teilen der Welt fast auschließlich von oben bzw. durch die Kapitalisten geführt wird. (Ebd.: Abschnitt 1) Die Ideologie, dass die Sozio-Ökonomie nicht durch Klassenverhältnisse, sondern durch eine Reihe von individuellen Projekten charakterisiert werden kann, ist für die Kapitalistenklasse und ihre Repräsentanten (auch an den Universitäten) essenziell, ja, sie ist sogar eine ihrer Waffen im Klassenkampf. Auch für Dyer-Whiteford ist klar, dass die Klassenverhältnisse sich heute im Vergleich zu Marxens Zeiten verschoben haben, aber sie sind keineswegs verschwunden, sondern sind nur wesentlich komplexer geworden und haben im globalen Ausmaß ihre ökonomische und politische Wirkung noch verstärkt. Die Klasse wurde realer, ausgedehnter, differenzierter, verzweigter und verwobener – und dies gerade, weil der brutale binäre Algorithmus zwischen den Klassen weiter existiert. (Ebd.) Was könnte sichtbarer sein, führt Dyer-Whiteford aus, als die Differenz zwischen den Lebensbedingungen eines Bankers mit seiner Superyacht und denen des Immigranten, der ohne Papiere durch die Welt irrt, zwischen dem Facebook-Milliardär und dem Arbeiter in einer Fastfood-Kette, wo er für einen erbärmlichen Lohn arbeitet.

Bezugnehmend auf ein berühmtes Marx-Zitat („Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ MEW 23: 247) schreibt Dyer-Whiteford, dass das Klassenverhältnis ein Vampir-Verhältnis sei, das auf dem Transfer von Energie, Bewusstsein und Zeit von einer Sektion der Species zu einer anderen basiere, und zwar mittels der Extraktion von Mehrwert.  Dabei hat die Digitalisierung diejenigen klassenrelevanten Prozesse des industriellen Kapitals, die durch Rationalisierung, Redundanz und Standardisierung gekennzeichnet sind, nur noch weiter verschärft. Feministische Autorinnen haben diese Prozesse in ihrer weiteren Komplexifizierung analysiert, insofern die Einbindung der Frauen in digitalisierte Arbeitsprozesse einerseits zwar patriarchalische Muster auflöst, andererseits aber die Frauen meistens zu niedrigeren Löhnen als die der männlichen Kollegen beschäftigt werden.

Dyer-Whiteford geht mit seinem Ansatz des kybernetischen Kapitals ständig auf die Differenzen in den postoperationistischen Theorieströmungen ein. Autoren wie Panzieri und Alquati haben schon früh darauf hingewiesen, dass die computerisierte Automation zur Kontrolle einer neuen Generation von informationellen Arbeitern diene, die in einer Vielzahl von Mikro-Entscheidungen als politische Klasse pulversiert würden, womit sich das Kapital durch die digitalen Technologien hindurch nur noch reibungsloser reproduziere, während Negri/Hardt nach wie vor behaupten, dass mit der Multitude, die bezüglich der immateriellen Arbeit die progressiven kommunikationellen und eine Reihe von libertären affektiven Dimensionen der Netzwerkproduktion betone, eine neue revolutionäre Bewegung von unten heraufziehe. Spätestens nach der Finanzkrise von 2008 wurde jedoch klar, dass vor allem jugendliche, immaterielle Arbeiter sich nicht in den digitalisierten Arbeitsprozessen, sondern massenhaft ohne Jobs und ohne soziale Perspektiven auf der Straße wiederfanden. Selbst noch diverse Netzwerkgemeinschaften waren von den Spar- und Verelendungspolitiken der Austerität betroffen und das Konzept der immateriellen Arbeit erschien nur noch als ein Reflex des Dot.Com-Booms, der ja schon viel früher zusammengebrochen war. Der von postoperaistischen Autoren wie Negri/Hardt oft affirmativ zitierte „General Intellect“ wird bis heute immer weiter automatisiert, indem Journalisten durch neue Aggregatoren, Übersetzer durch Übersetzungsmaschinen, Rechtsanwälte durch nach Präzedenzfällen suchenden Maschinen, Fotografen durch Foto-Bots und Broker durch schwärmende artifizielle Intelligenzen ersetzt werden. Ein darauf aufbauende Interpretation des General Intellects kann sich nicht mehr auf die Emphase der immateriellen Arbeit berufen, sondern nimmt die explosive Proletarisierung und Reproletarisierung eines großen Teils der Weltbevölkerung zur Kenntnis, wobei die immer größer werdende Surplusbevölkerung vom Kapital heute noch nicht einmal mehr für die schäbigsten Produktionsprozesse gebraucht wird.

 

Der Begriff des Proletariats

Marxisten benutzen den Begriff des Proletariats oft synonym mit dem Begriff der Arbeiterklasse, deren Mitglieder Marx zufolge frei im doppelten Sinne sind – frei vom Eigentum an Produktionsmitteln und frei ihre Arbeitskraft für einen Lohn zu verkaufen bzw. zu vermieten, und folgerichtig ist ihnen die entscheidungs- und wirkungsmächtige Kontrolle über den Produktionsprozess (der Produktionsmittel und der Arbeit), auch was seine allokativen und operationalen Bedingungen anbetrifft, vollkommen entzogen, wobei die Arbeiter durch Marktrelationen auf andere Personen bezogen wie auch getrennt sind. Gerade diese Bedingungen machen die Arbeiterklasse bzw. das Proletariat im Marxismus zu einer revolutionären Kraft. Das englische Kollektiv „Endnotes“ hat nun wieder darauf hingewiesen, dass Marx vom Proletarier als einem Lohnarbeiter gesprochen hat, der das Kapital produziert und valorisiert, aber stets auch auf die Straße geworfen werden kann, wenn er für die Produktion des Mehrwerts überflüssig wird. Dies bedeutet, dass für den Proletarier das Lohnarbeitsverhältnis sich nicht unbedingt aktualisieren muss. Während der Begriff der Arbeiterklasse alle regulären Lohnarbeiter mit bindenden Verträgen umfasst, gehören dem Proletariat zusätzlich auch noch die unbeschäftigen Arbeiter und die Armen und Überflüssigen an. (Heutzutage ist auf der globalen Ebene des Kapitalismus ein großer Teil des Proletariats arbeitslos.) Das Proletariat umfasst also nicht nur relativ gut bezahlte elektronische Fließbandarbeiter, sondern auch arbeitslose Bauern, die enteignet wurden, und die durch die kybernetische Automation ausgestoßenen Schichten bzw. das, was man gemeimhin „Prekariat“ nennt. (Vgl. Standing 2015) In diesem Zusammenhang bezieht Dyer-Witheford den Begriff des Cyberiats auf die Studien von George Caffentzis und Silvia Federici, deren Analysen zur primitiven Akkumulation im globalen Süden und zur Frauenarbeit in der Fabrik und in der Heimarbeit zeigen, dass das Netzwerk-Kapital heute sowohl den Cyborg als auch den Sklaven braucht. (Ebd.: Abschnitt1) Mit Karl-Heinz Roth geht Dyer-Witheford von einem „proletarischen Multiversum“ aus, das diverse bezahlte und unbezahlte Arbeiten bis hin zur Sklavenarbeit und zur Arbeit in Schattenökonomien, die durchaus mit digitalen Netzwerken verbunden sein können, umfasst. Diese prozesshafte Fragmentierung, die auch Kategorien wie Rasse und Gender miteinbezieht, versteht Dyer-Whiteford nicht im Kontext der Interaktion vorgegebener Kategorisierungen, sondern als wechelseitige Determinationen. Die Intensifikation der Ausbeutung, die durch die kybernetische Automation hervorgerufen wird, beruht gerade auch auf der Arbeit der Frauen und der nichteuropäischen Populationen.

Bezüglich der Zuammensetzung der proletarischen Klasse und der Zyklen des Klassenkampfes (mit ihrem Bezug auf die Kybernetik) bezieht sich Dyer-Witheford auf die Theoretiker der Kommunisierung, die in ihren Analysen der globalen Kapitalverhältnisse einen verschärften Antagonismus zwischen den Reproduktionsnotwendigkeiten des Kapitals und denen des Proletariats ausmachen. Desweiteren erwähnt er immer wieder das vom englischen Kollektiv „Endnotes“ reaktivierte Marx`sche Konzept der Surplusbevölkerung.

Eine weitere Etappe in der Herstellung des Weltmarkts war die Fortschreibung der Automation, die ohne den umfassenden Einsatz von Informationstechnologien nicht zu denken ist,  wobei in dieser Phase einerseits neue Arbeitsplätze geschaffen, andererseits Überflüssige und Arbeitslose massenhaft aus der Produktion ausgestoßen wurden. Dieser „bewegende Widerspruch“ manifestiert sich heute in der Integration der globalen Bevölkerung in die vernetzten Versorgungsketten und fluiden Produktionssysteme, die die Arbeit für das Kapital auf einem globalen Level verfügbar halten und mit der Intensivierung der Automation und algorithmischer Software wiederum überflüssig machen. Das digitale Kapital hat eine planetarische Arbeiterklasse geschaffen, die sich selbst aus ihren Jobs heraus-arbeitet, indem sie umfassende Systeme von Robotern und Netzwerken herstellt, vernetzte Roboter und robotisierte Netzwerke, für die das menschliche Element ein variabler Surplus ist (Grundlage dafür sind Algorithmen, unsichtbare Software-Operationen). (Dyer-Witheford 2015: Abschnitt 1) Roboter wurden zurst in die Automobil- und Stahlproduktion und in den Maschinenbau eingeführt, aber die Verkäufe waren auch früh schon in den Bereichen Pharmazie, Lebensmittel und Elektronik hoch. Zusätzlich zu den Industrierobotern ist heute in bestimmten Zentren der globalen Produktion ein Anstieg von Dienstleistungsrobotern zu verzeichnen, die nicht vollautomatisch agieren, sondern den menschlichen User eher assistieren.

 

Der kybernetische Kapital-Vortex

Es geht Dyer-Whiteford insbesondere um die Neuzusammensetzung des globalen Proletariats in ihrem Verhältnis zur Kybernetik, um das globale Proletariat, das in einem kybernetischen Kapital-Vortex gefangen ist. Dyer-Witheford denkt die Dynamik des Kapitalismus, sagen wir besser des Kapitals und der Kapitalakkumulation, gleich einem Vortex, einem Tornado oder Wirbelwind, der auf einem dreigliedrigen Prozess basiert: Produktion, Zirkulation und Finanzialisierung. (Ebd.: Abschnitt 2) Für die Dynamik dieser ökonomischen Prozesse sind zwei Faktoren wichtig: die organische Zusammensetzung des Kapitals, kurz gesagt die Rate zwischen konstantem und variablem Kapital, und die Zusammensetzung der Arbeiterklasse/des Proletariats, letztere betrifft die Relation zwischen den technischen Bedingungen der Arbeit und den Formen der politischen Organisation, die unter Umständen aus jenen erwachsen. Man kann heute leicht nachvollziehen, wie das Kapital im Zuge der Durchsetzung seiner technologischen Innovationsschocks seit den 1970er Jahren die politisch gut organisierte Arbeiterklasse geschwächt und gleichzeitig auf globaler Ebene neue Ressourcen billiger Arbeit erschlossen hat, während es die Geschwindigkeit und die Umschlagszeit der Kapitalkreisläufe stark erhöht hat.

Bei der Darstellung des Begriffs „Kapital-Vortex“ bezieht sich Dyer-Witheford auf ein Zitat von Marx/Engels aus dem Kommunistischen Manifest, wo diese von der globalen Kapitalakkumulation als einer ununterbrochenen Beunruhigung sprechen, mit der sich alle fixen und gefrorenen Relationen auflösten und alles, was noch solide sei, in der Luft wegschmelzen würde. Was Nick Land in diesem Kontext als „Cyclone“ beschreibt, das nennt Dyer-Witheford „Vortex“. Vortex bezeichnet im naturwissenschaftlichen Diskurs die mit einer bestimmten Geschwindigkeit rotierende Bewegung einer Masse von Partikeln um ein gemeinsames Zentrum. (Ebd.) Die Wirbel bewegen sich nicht nur in horizontalen Kreisen, sondern nehmen oft auch eine vertikale Dimension an – beispielsweise der Aufwärtssog eines Tornados. Vielfach wurde das in der Natur ubiquitäre Phänomen des Vortex in der marxistischen Literatur adoptiert, man denke an Benjamins Sturm, der vom Paradies her weht, oder an die Übernahme bestimmter Metaphern aus der Metereologie durch die amerikanische Guerillagruppe „Weathermen“, aber auch der bürgerliche Ökonom Jospeh Schumpeter setzte Metaphern aus der Metereologie ein, wenn er etwa von großen irregulären Strömungen im Zuge kreativer Zerstörung schrieb. Zuletzt hat David Harvey bezüglich der Urbanisierung und der ungleichen geographischen Gestaltung des Raums auf der Erde im Rahmen der Zeit-Raum-Kompressionen des Kapitals (Vernichtung des Raums durch die Zeit bzw. beschleunigte Bewegung des Kapitals duch den Raum) von der Möglichkeit gesprochen, die Bewegungen des Kapitals an den verschiedenen Orten auf dem Planeten zu kartografieren. Analog zur Metereologie und ihren Satellitenaufnahmen würden wir dann ein wirbelndes Chaos sehen, in dem sich Hochdruck- und Tiefdruckgebiete abwechseln und durch Inseln der Stürme, Tornados und Hurricanes ergänzt würden. In diesem Chaos seien aber durchaus auch Muster zu erkennen, die auf langfristige Veränderungen in der Kapitalakkumulation hinwiesen, aber geographisch doch ganz ungleich verteilt seien, man denke an die wirbelnden Hochdruckgebiete der beschleunigten Kapitalakkumulation seit den 1980er Jahren in Teilen von Asien, der Westküste der USA, London, Bayern etc. und an die Tiefdruckgebiete über den alten Industriezentren, Detroit, Sheffield und dem Ruhrgebiet. (Harvey 2011: 151 f.) Gegenüber der Konstanz der Gesetze der Strömungsdynamik in der Metereologie haben wir es bei der Kapitalakkumulation mit sich erweiterenden Variationen zu tun.

Zur Charakterisierung der Dynamik von Finanzkrisen taucht der Begriff „Turbulenz“ immer wieder auf; man spricht von Geldkapitalflüssen, die an den Finanzmärkten in wirbelartigen Systemen rotieren. In den 1990er Jahren war es Benoit Mandelbrot, der Stürme und Erdbeben als offene Systeme betrachtete und dem folgend die Finanzmärkte auf ihre Fluktuationen hin untersuchte – mathematisch scheint es nachweisbar zu sein, dass man es hier ähnlich bestimmter Wetterphänomene mit fraktalen Skalierungen, Diskontinuitäten und Unterbrechungen, mit regelmäßigen Bewegungen auf Mikro- und großen Ausschlägen auf Makroebene zu tun hat, bis hin zu destruktiven Kaskaden, nach denen der ehemalige Vorsitzende der FED Alan Greenspan sogar ein Buch benannte: The Age of Turbulence. Ob Wirbel oder Turbulenz (wobei der Begriff der Turbulenz in der physikalischen Strömungslehre den Zustand von Gasen und Flüssigkeiten mit statistisch nicht geordneten Bahnen der Teilchen bezeichnet), all diese Termini/Begriffe werden an die Chaos- bzw. Turbulenztheorie der Physik anschließend in Wissensdiskursen zum Börsensystem zur Beschreibung der sogenannten Flussdynamik der Finanzmarkttransaktionen gebraucht. Diese Begriffe dienen der Beschreibung sogenannter molekularer Kurzzeitschwankungen des algorithmischen Wertpapierhandels an der Börse, wobei gigantische Datenmengen rein maschinell prozessiert werden, während Finanzmathematiker und Physiker fieberhaft den statistischen Affinitäten von Volatilitätssprüngen – Modulationen von Zinssätzen, Devisen und Wertpapierkursen – und historischen Verlaufsformen von Vulkanausbrüchen, Wirbelstürmen oder Sandstürmen nachgehen bzw. erforschen, indem sie bestimmte Daten bis auf das 17. Jahrhundert zurückverfolgen und diese in hochleistungsfähige Großrechner einspeisen.

 

Das Kapital

Das Kapital ist ein durch sich selbst expandierender Wert, Geld, das Mehrgeld erzeugt, oder wie David Harvey in seinem Buch Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln schreibt: „Das Kapital ist kein Ding, sondern ein Prozess, in dem Geld ständig auf die Suche nach mehr Geld geschickt wird.“ (Harvey 2014: 45) Es ist natürlich auch ein Ding (fixes Kapital), wie später Harvey in seinem Buch Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus schreibt, aber das erst in zweiter Linie. Der Vortex des Kapitals, der stets des Wachstums und des Profits bedarf, kreist, so Dyer-Withford, in drei wesentlichen Bereichen um die Welt: Produktion, Zirkulation und Finanzialisierung. Produktion sei der Trichter des Sturms, die Zirkulation sei die bewegende Rotation und die Finanzialisierung sei die crashende Turbulenz. (Dyer-Witheford 2015: Abschnitt 2; Kindle-Edition) Der Kern des Vortex ist die Surplusproduktion. Die Zirkulation inkludiert den Arbeiter, dessen Arbeitskraft vom Kapital gekauft wird, und den Arbeiter als Konsumenten. Ist der Zirkulationskreislauf durchlaufen, dann wurden im Verkauf kapitalistische Waren in Potenz als Surpluswerte, die in der Produktion geschaffen wurden, aktualisiert. Horizontale und vertikale Vektoren der Produktion und Zirkulation bilden die grundlegende Dynamik des Wert-Vortex. Das bewegende Kräftefeld bleibt jedoch immer instabil. Die streng auf Profit ausgerichtete Produktion tendiert zu einem Druck auf die Löhne, während in der Zirkulation niedrige Löhne die Konsumtion beschränken. Zur gleichen Zeit reduziert die maschinische Intensifikation die Quantität der lebendigen Arbeit im Produktionsprozess und stört damit den grundlegenden Energietransfer. So erzeugt die Rotation des Werts in sich selbst immer auch Gegenströmungen, die die Reproduktion des Kapital-Vortex unterbrechen und ihn manchmal sogar kollabieren lassen.Als entscheidenden Faktor für den Versuch, diese Instabilitäten zu regulieren begreift Dyer-Witheford die kredit- und schuldengetriebene Finanzialisierung, die Produktion und Zirkulation überformt und direkt vom Geld zum Mehrgeld führt.

Den maschinellen Kapital-Vortex stellt Dyer-Witheford mit der altbekannten Marx` schen Formel dar: G- W- A/P – W`-G`, wobei der Part A/P – W die Produktion betrifft, W`-G` die Zirkulation und G-G` die Finanzialisierung. Der Vortex des Kapitals transformiert in diesem Prozess die Arbeit in die technologische Kristallisierung hinein. Den Attraktor des Kapital-Vortex, um den die Marktpreise probabilistisch schwanken, sieht Dyer-Witheford wie viele Marxisten in der gesellschaftlich notwendigen, abstrakten Arbeitszeit und den ihr entsprechenden Ausgleichsbewegungen (Herstellung der allgemeinen Durchschnittsprofitrate). Sowohl der Wettbewerb zwischen den Unternehmen als auch der politische Druck der Arbeiter auf die Löhne führt dazu, dass die Unternehmen die Kosten der Arbeit durch den Ersatz menschlicher Arbeit durch Maschinen verringern. Marxens bewegender Widerspruch besteht nun darin, dass der Kapital-Vortex die Arbeit nicht nur mobilisiert, sondern auch eliminiert, und dies nicht in einem gleichgewichtigen Prozess, sondern in einer spiralförmigen Bewegung, bei der es zu immer stärkeren Prozessen der Automation kommt.

In seiner Darstellung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der allgemeinen Profitrate folgt Dyer-Witheford den Texten von Guglielmo Carchedi. (Ebd.) Wir haben die marxistische Diskussion um das Gesetz anhand der Texte von Georgios Stamatis und Michael Heinrich ausführlich in Kapitalisierung Bd. 1 und auch auf NON diskutiert. Dyer-Witheford spricht hier  im Zuge der erneuten Aufnahme der Vortex Metapher von einem sich selbst aufhebenden Prozess, der innerhalb der zirkulatorischen Flows von Stürmen auftauche. Er verweist auf Manuel DeLandas Darstellung der Dynamik eines Tornados, bei dem aufstrebende Luftzüge, Wasserdampf tragende Luft, in einer bestimmten Höhe mit kälteren Temperaturen konfrontiert werden, womit der Wasserdampf in einer Phase des Übergangs in Regen kondensiert oder zu Eis gefriert. Die dabei freigesetzte Hitze erhöht für eine bestimmte Phase die Geschwindigkeit der Luftmassen, aber die aufsteigenden Luftmassen werden mit größeren Wassertropfen und Eiskristallen gesättigt, bis ihr Gewicht einen Tipping Point erreicht und als Hagel oder Regen zu fallen beginnt und damit die Energie aus dem Sturm nimmt und ihn eventuell zerstört. Dyer-Witheford versucht hier die Tendenzen und Gegentendenzen, die innerhalb der Kapitalakkumulation den Fall der Profitrate beeinflussen, zu verbildlichen –  Prozesse, die durchaus zur Verkalkung des Kapitals, das heißt einer zu hohen Bindung von fixem Kapital und schließlich zum Kollaps „einer Kathdetrale der mechanischen Automation“ führen können. (Ebd.) Diese Prozesse verlaufen in zyklischen Patterns, wobei es durch Kriege und Krisen immer wieder zur Entwertung von Kapital kommt, die Voraussetzung dafür, dass ein neuer Zyklus der technologischen Innovation stattfinden kann. Ähnlich wie Heinrich zeigt sich für Dyer-Witheford die zukünftige Entwicklung der Profitrate als unsicher an, wobei er eine Reihe der den Fall der Profitrate entgegenwirkenden Tendenzen anführt, bspw. billige Arbeitskräfte und Sklaven in den Kolonien (siehe Jasons W. Moores billige 4), die Verbilligung der Maschinen und Rohmaterialien, die Intensivierung der Arbeit und verschiedene Formen der Finanzialisierung bzw. des Kredits. Wenn die Automation die Preise der Waren verringert, dann kann dies natürlich auch bei den Maschinen der Fall sein. Dies würde dann zwar eine Erhöhung der technischen Zusammensetzung des Kapitals (mehr Maschinen im Verhältnis zu den Arbeitskräften) nach sich ziehen, aber eine Verringerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals. (Die organische Zusammensetzung des Kapitals bezeichnet die Verflechtung von technischer Zusammensetzung und Wertzusammensetzung des Kapitals c/v, insofern letztere erstere widerspiegelt, wobei hier jeweilige Preis-/Wertwechsel von c und v zu berücksichtigen sind. Die Profitrate lässt sich wiederum als eine Relation der Relationen bestimmen, nämlich als das Verhaltnis von Mehrwertrate und organischer Zusammensetzung des Kapitals, und ihr Fall artikuliert die dominante technologische Entwicklung im Kapitalismus.)

Eher beiläufig erwähnt Dyer-Witheford die marxistische Debatte um das Gesetz der fallenden Profitrate hinsichtlich seiner Bedeutung für die marxistische Krisentheorie, bei der einerseits Autoren wie Kliman und Roberts dem Gesetz zentralen Stellenwert für den Ausbruch der Krise zuschreiben, andererseits Autoren wie Heinrich und Milios das Gesetz in einen komplexeren Zusammenhang stellen, wobei die Finanzialisierung qua Kredite, fiktivem Kapital und Derivaten den Fall der Profitrate durchaus verlangsamen kann. Schließlich konstatiert Dyer-Witheford, dass die Frage des Falls der Profitrate ein Problem für das Kapital sei, mit dem sich vor allem die Kapitalisten, Manager und staatlichen Repräsentanten herumzuschlagen haben. Für das Proletariat geht es weniger um die Frage der organischen Zusammensetzung des Kapitals und den Fall der Profitrate, sondern um die Zusammensetzung der Klasse, deren Kämpfe zudem einen Einfluss auf den Fall oder den Anstieg der Profitrate haben können, was Dyer-Whiteford dann die „Rate des Kampfes“ nennt.

 

Die Zusammensetzung des globalen Proletariats

Das menschliche Arbeitsmaterial wird im kapitalistischen Vortex in Schichten aufgeteilt, die intern fragmentiert und gefurcht sind und sich in Relationen zueinander bewegen. Das Konzept der proletarischen Klasse bedarf deshalb unbedingt der Analyse der Machtverhältnisse, die die Klasse ins Verhältnis zum Kapital setzen, sie aber auch intern spalten. Hier greift Dyer-Witheford wieder auf DeLandas Darstellung der Dynamik des Tornados zurück, in der dieser schreibt, dass atmosphärische Schichten, von denen die Stürme ausgehen, in Begriffen wie Kapazitäten, Tendenzen und emergenten Eigenschaften verstanden werden müssen, die oft mit gewältigen Konsequenzen aufeinander einwirken. Die Klasse ist eine Kraft.

Dyer-Witheford interessiert sich in seinem Text vor allem für die Relation zwischen proletarischer Klasse und Kybernetik, und dies bezüglich ihres Einflusses auf die Zyklen der Klassenkämpfe und die damit in Verbindung stehende Zusammensetzung der globalen proletarischen Klasse. Die Klasse der Kapitalisten und ihre Repräsentanten sind die Eigentümer der großen Maschinensysteme, des fixen und zirkulierenden Kapitals. Das Proletariat, das keinen Zugriff auf die Produktionsmittel hat, muss seine Arbeitskraft für den Lohn vermieten und erzeugt, in maschinellen Kollektiven organisiert, Maschinensysteme, von denen es wiederum eliminiert wird. Zwischen den Kapitalisten und Proleten finden wir mit wachsender Kapitalakkumulation intermediäre Schichten – Manager, Techniker und Wissenschaftler, die die Maschinen konstruieren, designen und beobachten und zudem diejenigen ausbilden, die an den Maschinen arbeiten müssen. Innerhalb des Proletariats gibt es selbst wiederum verschiedene Fraktionen – vertraglich und sozialstaatlich abgesicherte Lohnarbeiter, Prekäre und chronisch Unterbeschäftigte, Verelendete und die nichtbezahlten Frauen im reproduktiven Bereich. Es geht Dyer-Witheford um Prozesse der Separation und der Interaktion dieser verschiedenen Schichten, wobei der Klassenkampf auch die Fluktuationen und Friktionen an den Grenzen der jeweiligen Schichten bestimmt. (Ebd.) Die Bewegung des Kapital-Vortex verändert ständig die Schichten, aus denen er selbst auch zusammengesetzt ist. So besitzt nicht nur das Kapital, sondern auch die menschliche Arbeitskraft eine Zusammensetzung. In diesem Kontext unterscheiden einige Autoren des Operaismus zwischen technischen und politischen Elementen der Zusammensetzung der Klasse. Während die technische Zusammensetzung auf die Organisation der Klasse durch das Kapital bezogen bleibt (Arbeitsteilung, Managementpraxen und der standardisierte Gebrauch der Maschinen, aber auch familiäre und kommunale Beziehungen), tangiert die politische Zusammensetzung die Kapazität der arbeitenden Klasse, die darin besteht, für ihre eigenen Begierden, Neigungen  und Interessen zu kämpfen – individuelle und kollektive Aktionen der Verweigerung, des Widerstands und der Teil-Aneignung des Mehrwerts.

In den Zyklen der Kämpfe verändert sich sowohl die Zusammensetzung der Kapitalistenklasse als auch die Klasse des Proletariats. Die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, so schreibt der italienische Theoretiker Raniero Panzieri, beruhe nicht nur auf dem Prozess des technologischen Fortschritts, sondern sei immer auch als das Resultat einer Schockoffensive des Kapitals zu verstehen, um schließlich die Zusammensetzung des Proletariats hinsichtlich seiner politischen Kraft zu zersetzen. Man denke daran, wie der Widerstand der qualifizierten Massenarbeiter durch den Taylorismus und die Fließbänder im Fordismus gebrochen wurde, allerdings auch wieder zu einer neuen technischen Zusammensetzung der Klasse führte, mit der die Möglichkeit bestand, die Fließbänder zu stoppen; es gibt eine Beziehung zwischen den Zyklen der Kämpfe und der Zirkulation des Kapitals, man denke an Unterbrechungen des Transports, der Logistik und der Infrastruktur, an Störungen, die sich, so die Operaisten, über die Produktion hinaus auf die gesamte soziale Fabrik des Lebens ausdehnen. Die Kritik am Operaismus weist wiederum darauf hin, dass die Subjekt-Postion der Arbeiter zunächst durch das Kapital bestimmt werde, sodass Taktiken des spontanen Widerstands immer rudimentär blieben. Hinsichtlich der Kritik am Operaismus verweist Dyer-Witheford auf die Gruppe Theorie Communiste (TC), die die „Fehler“ des Proletariats im Kontext der reziproken Beziehung zwischen Kapital und Proletariat diskutiert, eine Relation, die nicht nur als antagonistisch zu begreifen ist, sondern in der die beiden Pole innerhalb eines einzigen Systems integriert werden. Und diese Integration hat sich in der Historie des Kapitalismus intensiviert, und zwar durch die Politik der Gewerkschaften, der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien und der Politik des Wohlfahrtstaates, aber auch durch die diversen Selbstverwaltungsprojekte, staatliche Planungen und das Selbstmanagement der Klasse. Seit der neoliberalen Offensive des Kapitals, die sich durch Privatisierung von öffentlichen Institutionen, rasante technologische Schocks und die logistische Globalisierung auszeichnet, wird jedes reformistische Projekt unmöglich. Diess Aussage ist heute vor allem gegen den Negriismus und seine naiven Attituden hinsichtlich des revolutionären Potenzials der Multitude gerichtet, wobei angesichts der gegenwärtigen Klassenkämpfe anstatt von einer spontan vereinheitlichten Multitude eher von endlosen Teilungen und Zersplitterungen der proletarischen Klasse und ihrer Kämpfe ausgegangen werden muss. Der Trick von Dyer-Witheford besteht nun darin, die widersprüchlichen Tendenzen in den Kämpfen als einen einzigen Prozess zu begreifen, in dem das Proletariat Teil des Kapitals ist, wie es auch gegen das Kapital kämpft.

 

Kybernetik, Logistik und die globalen Lieferketten

Die Intensifikation des maschinischen Elements im Kapital-Vortex ist oft ein Resultat von ökonomischen Krisen und Kriegen; die Entwicklung der Computer und der digitalen Netzwerke im Rahmen des nationalen Sicherheitsstaates der USA (nach dem 2. Weltkrieg und während des Kalten Krieges) ist ein Resultat der militärischen Forschung. Später wurden dann der Computer auch an kommerzielle Unternehmen verkauft, die ihn als Waffe in der Automation einsetzten, und noch später, als die Processing Power der Computer weiter anstieg und die Preise fielen, wurden sukzessive Generationen von Computern von der Konsumgüterindustrie an die Märkte gebracht, PCs, Laptops, Smartphones etc. Den Konsequenzen dieser kybernetischen Revolution geht Dyer-Witheford erneut in den Bereichen Produktion, Zirkulation und Finanzialisierung nach. In der Produktion ist die Kybernetik ein wichtiger Faktor, der für die Intensivierung der Automation steht (die Transformation der Arbeitsprozesse in Relation zum fixen Kapital), für numerisch kontrollierte Maschinen, industrielle Roboter und systematisierte Ketten der durch Computer gesteuerten flexiblen Produktionen, begleitet von neuen Formen der Arbeitsplatzorganisation und der Managementkontrolle, und zwar nicht nur in den Fabriken, sondern auch in den Büros. In der Zirkulation (diejenige, die aus der Produktion heraus erfolgt) vollzieht sich die kybernetische Automation durch das Netzwerk der Netzwerke, das Internet, und zwar in den Phasen der Realisierung der Ware qua Werbung und Marketing, die nun beide über PCs laufen, von den primitiven Formen der E-Werbung qua Pop-Ups und kommerziellen Portalen bis hin zu den sozialen Netzwerken, in denen die kostenlose Arbeit der User stattfindet, deren Daten verkauft und von der Konsumindustrie ausgewertet werden. Über das Internet werden algorithmisierte Daten kodifiziert und verwertet. In der Zirkulation (diejenige, die in die Produktion hineinführt), in der der Kauf von Maschinen, Rohstoffen und Arbeitskraft organisiert wird, sind Netzwerke zur Produktion der globalen Lieferketten heute unbedingt notwendig, um die geographisch getrennten, aber funktional zusammengehörigen Produktionsorte und Businessoperationen miteinander zu verbinden. Das äußerst mobil gewordene Kapital analysiert ständig die lokalen Kostendifferenzen, was die Produktion und Zirkulation anbetrifft, um jede nur mögliche Profitdifferenz auszunutzen. Die geographische Kartografierung des Planeten durch das Kapital unterliegt einerseits der Tendenz, Skaleneffekte qua der Aggregation mehrerer Unternehmen an einem Ort zu nutzen und damit höhere Profite zu realisieren, andererseits aber auch die immer tiefere Dezentralisierung, die Verlagerung von Unternehmen und das Outsourcing zu organisieren, das durch globale logistische Ketten ermöglicht wird. Über mögliche Entwicklungen entscheiden hier schließlich die technologische Innnovationskraft, Hindernisse im Raum, Intensität der Skaleneffekte und Differenzierungen im Prozess der Kapitalakkumulation. (Vgl. Harvey 2011: 162) Die Infrastrukturen der Telekommunikationsindustrien, modularisierte Interfaces, Barcodes und auf RFID-Techniken basierende Instrumente ermöglichten in den letzten Jahrzehnten eine logistische Revolution, die es dem Kapital erlaubt, auf globaler Ebene die Ressourcen der Arbeitskräfte zu erfassen und zu nutzen. Dies ist ein Aspekt der Kybernetik, der die Arbeitskraft anstatt zu ersetzen auf globaler Ebene in ihrer Größenordnung erweitert, wobei die Vernutzung der Arbeitskraft meistens zu möglichst niedrigen Löhnen stattfindet.

Bezüglich der Kapitalisierung erwähnt Dyer-Witheford die Studien zur Finanzialisierung des Alltags von Randy Martin. (Dyer-Witheford 2015: Abschnitt 2) Die umfassende Bedeutung der Informations- und Telekommunikationstechniken für die Finanzindustrie haben wir an anderer Stelle schon analysiert. Auch auf den Zusammenhang von digitalen Technologien und Finanzialisierung sind wir an anderer Stelle  eingegangen. Es soll an dieser Stelle nur gesagt werden, dass einer der Haupteinflüsse für die hohe Automation von den Derivatmärkten selbst ausging. Diese waren von Anfang an eng mit der Logistik konnektiert, insofern beispielsweise verschiedene Formen der Futures entwickelt wurden, um die Unsicherheiten von ausländischen Investitionen zu hedgen, im speziellen bei Währungsschwankungen. Die auf Risikoproduktion basierenden mathematischen Modelle sind heute im High-Frequency-Trading weitgehend computerisiert. In diesem Zusammenhang spricht Dyer-Witheford in Anlehnung an Brian/Rafferty von Meta-Waren bzw. Derivaten, die stes Produkte der Zirkulation (und weniger der Arbeit) bleiben, das heißt den Kreislauf von Geld zu Mehrgeld nie verlassen.

Der globale Wert der kybernetischen Industrien (Kommmunikationsservice, Computer und Umgebung, Kommunikationswaren, Halbleiter etc.) ist von 800,349 Millionen Dollar im 1980 auf 28 Trillionen Dollar im Jahr 2010 gestiegen. (Ebd.: Abschnitt 2) Die Aufteilung der Effekte der Kybernetik innerhalb des Kapital-Vortex – Automation in der Produktion, Netzwerke in der Zirkulation und Algorithmen in der Finance – ist natürlich nur die halbe Wahrheit, insofern die Produktion selbst ein Zirkulationsprozess ist, der Netzwerke benötigt; die Zirkulation enthält Produktionsprozesse von Unternehmen im Marketing- und Logistikbereich, und schließlich werden die Unternehmen durch das finanzielle Kapital, dessen Operationsweisen auf algorithmischer Produktion basieren, über die Finanzmärkte dezentral reguliert. (Der universelle Kommunikator all dieser Prozesse ist heute das Smartphone. Dessen Verkauf wird durch Feedback-Loops gesteigert, in denen die erfolgreiche Zirkulation Effekte produziert, die die Zirkulation nur noch beschleunigen: Ein populäres Smartphone zieht App-Entwickler an, die App-Bibibliotheken kreieren, die wiederum Konsumenten motivieren, noch mehr jenes Modells zu kaufen. Dabei liegt die Macht ganz klar bei den Platform-Providern wie Apple, die auch die Distributionswege für Apps kontrollieren. Apple kassiert eine Art technologischer Rente. In diesem Zusammenhang ist die „app economy“ zu erwähnen; man schätzt die Anzahl der Arbeiter, die im Jahr 2012 in den USA im Bereich der Software-Applikation arbeiteten auf 500 000. Dabei ist die App-Produktion oft als eine weitere Form der Automation zu verstehen, und zudem ist dieser kybernetische Designprozess, der oft über das vernetzte Crowdsourcing (Apple) verläuft, auch von der Senkung der Arbeitskosten betroffen. Ebd.: Abschnitt 9)

Die kybernetische Transformation der Kapitalakkumulation zieht komplexe Auswirkungen auf die organische Zusammensetzung des Kapitals nach sich. Dabei verlief die kybernetische Umstrukturierung der Automation und der Aufbau der elektronischen Netzwerke in den letzten Jahrzehnten wesentlich schneller als bisherige technologische Revolutionen ab. Man greift bei der Analyse der digitalen Geschwindigkeit der Computer auf das Moore´sche Gesetz zurück, nach dem sich die Leistungskraft der Computer bei gegebenem Preis alle 18 Monate verdoppelt. Der Erfolg des Gesetzes basiert unter anderem auf der Halbleiterindustrie, der es gelang, die kybernetischen Technologien (mikroskopische Operationen mit hohen Quantitäten toxischer Chemikalien) in den globalen Zentren mit den billigen Arbeitskräften in den Peripherien zu verbinden, wobei diese mit intensiverer Automation auch wieder aus den Produktionsprozessen entlassen wurden. Desweiteren bemüht man ein Gesetz, das von John Metcalfe formuliert wurde und besagt, dass ein Netzwerk mit der Quadratzahl der Knoten wächst, ein Prinzip, das nach dem Investment in verkabelte und kabellose Verbindungen verlangt. (Ebd.: Abschnitt 2)

Mit der Verringerung der Kosten des elemetaren Elements der Kybernetik, des Mikrochips, wurde eine Verbilligung der Maschinerie in Gang gesetzt, die bei einer Erhöhung der technischen Zusammensetzung des Kapitals nicht unbedigt zu einer entsprechenden Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals führt, vielmehr kann diese konstant bleiben oder gar fallen, womit das Gesetz des fallenden Profitrate außer Kraft gesetzt wird. Die Fixkosten des industriellen Investments können noch durch andere Faktoren begrenzt werden: Maschinen produzieren Maschinen, die ihre Operationen mit höheren Geschwindigkeiten ausführen, Maschinen, die billige Arbeit einsaugen und Maschinen, die lebendige Arbeit ersetzen – Ballards Kristallwelt, ein Vortex von Robotern und Netzwerken, robotisierte Netzwerke und vernetzte Roboter. (Ebd.) Allerdings bedarf es zur Herstellung dieses Vortex flächendeckender und umfassender kybernetischer Systeme und Netzwerke. Schon Marx war klar, dass durch die technologische Innovation zwar die einzelne Maschine billiger wird, aber zugleich Systeme von Maschinen entwickelt werden müssen, deren Preise insgesamt enorm ansteigen können. In diese Richtung verlief dann auch tatsächlich die industrielle Computerisierung – angefangen vom Einsatz weniger Roboter in der Produktion über die Vollcomputerisierung der Fabriken und Büros bis hin zur satellitenvernetzten Produktion, Logistik und verschiedenen Point-of-Sale Plattformen. Damit stiegen für die Unternehmen die Kosten für den Einsatz neuer Technologien immens. So fand zwar eine reguläre Reduktion der Kosten von Chips statt, aber gleichzeitig war ein Anstieg der Kosten für die Systeme, die notwendig sind, um die Chips überhaupt herzustellen, zu verzeichnen.
Chiproduzierende Unternehmen wurden immer größer und stärker automatisiert. Im Jahr 1966 kostete eine neue Fabrik 14 Millionen Dollar, 1995 1,5 Billionen Dollar und heute beläuft sich der Preis auf 6 Billionen Dollar. (Ebd.: Abschnitt 4) Die Unternehmen wurden im Zuge der kybernetischen Revolution in verschiedene Sektoren getrennt. Heute verlaufen viele Produktionsprozesse weitgehend auf einer mikroskopischen Skala, für die die humane Perzeption inadäquat ist. Nur Robotern ist eine adäquate Perzeption noch möglich. Dennoch kommt man nicht ganz ohne menschliche Arbeitskräfte aus, denn bei Stillständen und Störungen in der Produktion müssen Techniker und Ingenieure anwesend sein, um jene schnellstmöglichst zu beheben. Allein das Updating der Software kann immense Kosten erzeugen, die die kostensparenden Effekte von Moores Gesetz kompensieren, sodass auch die organische Zusammensetzung des Kapitals wieder ansteigen kann. Bis zu einem gewissen Grad kann dies wiederum durch das Anzapfen von neuen Quellen schlecht bezahlter Arbeit am Ende der elektronisch koordinierten Lieferketten, durch das Outsourcen der Produktion in Billiglohnländer und durch die Aktivierung unbezahlter Digitalarbeit kompensiert werden. George Caffetzis geht in seinem „Gesetz der wachsenden Dispersion der organischen Zuammensetzung des Kapitals“ davon aus, dass jede Steigerung der Zusammensetzung durch den Einsatz neuer Technologien zur Entstehung von industriellen Bereichen führt, in denen die Zusammensetzung wieder sinkt. (Ebd.: Abschnitt 2) Dabei erfolgt immer ein Transfer von Wert, beispielsweise von der Produktion der Iphones bei Foxconn in China hin zu den Traumfabriken von Apple im Silicon Valley, wo nur wenige Menschen beschäftigt werden. Im kybernetischen Kapital-Vortex kommt es in den hochentwickelten Industrieländern zum Ersatz von lebendiger Arbeit durch Automation und gleichzeitig komt es zur Absorption neuer Quellen billiger Arbeit insbesondere in Asien und Afrika, während die daraus folgenden Effekte für Produktion und Konsumtion durch die Finanzialisierung qua Schulden und Spekulation kompensiert werden sollen.

 

Maschinen und proletarische Klasse

Hinsichtlich der Zusammensetzung der proletarischen Klasse lässt sich sagen, dass die kybernetische Revolution die Fabrik als Basis des fordistischen Massenarbeiters zerstört hat, die Arbeitskraft durch die Automation in den Metropolen reduziert (wobei die Jobs zunehmend von der industriellen Produktion auf Serviceleistungen und technische Arbeiten verlegt wurden) und sie geographisch stärker in den ehemaligen Peripherien lokalisiert und dort erweitert hat, was wiederum erst durch die umfassende Containerisierung des Transports und durch die digitale Logistik möglich wurde. Dyer-Witheford untersucht in diesem Kontext den Aufstieg und den Fall des industriellen Massenarbeiters anhand der Automobilindustrie in Detroit, wo der Massenarbeiter zunächst große Erfolge hinsichtlich der Erzielung höherer Löhne, sozialer Leistungen und der Steigerung des Lebensstandards feiern konnte, was schließlich für die gesamte Arbeiterklasse in der USA vorbildlich wurde. In der Periode nach 1949 geriet das Automobil in den USA zum Symbol der persönlichen Freiheit und des Wohlstands, es war die Ware in einem Nexus, der Eigentum, Autobahnnetze, Hauseigentum in den Vorstädten und die Konsumtion von ÖL verlinkte. In den 1950 war General Motors die größte Company in der industriellen Produktion weltweit und generierte allein 3% des BIP in den USA.

Der Marxist Ramin Ramtin geht in seiner Definition der Maschine von drei wesentlichen Elementen aus: Kraftübertragung, Transformation der Bewegung und Kontrolle der Richtung und Geschwindigkeit. (Ebd.: Abschnitt 3) Bei den frühen industriellen Maschinen bezogen sich diese drei Elemente noch unmittelbar aufeinander und auf eine einzige Aufgabe. Zudem waren die Maschinen in der Praxis ziemlich unflexibel. Die Maschinen fungierten als Teile der relativen Mehrwertproduktion und die Arbeiter hatten ihrem Rhythmus unbedingt zu gehorchen. Ihre Rigidität limitierte jedoch auch die Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit. Im späten 19. Jahrhundert separierten die elektrischen Motore die Kraftquellen der Maschinen von ihrer Bewegung. Eine Maschine konnte mehrere Motoren haben, oder es wurden mehrere Maschinen von einem Motor angetrieben. Obgleich diese maschinelle Entwicklung große Teile der menschlichen Arbeitskraft dequalifizierte, bedurfte es doch der Entwicklung eines Fachkräftekaders, der die maschinellen Systeme überwachte. Diese Art der mechanischen Automation beruhte noch auf der Kombination des Menschen mit der Maschine, und unter politischen Gesichtspunkten konnte der Massenarbeiter die Maschinen auch stoppen.

Der kybernetische Feedback-Loop revolutionierte insbesondere das Moment der Kontrolle der Maschinen. Wenn eine Maschine Sensoren besitzt, um ihre eigene Performance und ihre eigenen Daten zu messen und zu korrigieren, den Input also rekursiv dem Output anzupassen, dann ersetzt sie weitgehend die menschliche Funktion der Kontrolle, die in den industriellen Systemen noch unbedingt notwendig war. Die Feedback-Loops geben der kybernetischen Maschine Qualitäten, die man bisher eigentlich der menschlichen Arbeit zugeschrieben hat: Flexibilität, Adaptionsfähigkeit, primitives Lernen und Selbstkontrolle. Die Automation trennt die Bewegung der Maschine vom menschlichen Körper. Und die Netzwerke tun dasselbe hinsichtlich der Kommunikation, indem sie Signale generieren, die unabhängig von menschlicher Sprache und Schrift zirkulieren und Gegenstand technologischer Modulation und Rekonfiguration werden (Telefon). Dabei bezieht sich die auf Netzwerke konzentrierte Forschung nicht nur auf sich selbstreproduzierende Roboter (von Neumann), sondern auch auf die Maschinen-Menschen Hybridität, die im Konzept des Cyborgs von Haraway kulminiert.

 

Das Toyota-System und seine Auswirkungen

All diese Erkentnisse führt Dyer-Witheford vor, um  die Differenz des fordistischen Unternehmens, das den Massenarbeiter generierte, zum Toyota-System zu erklären. (Auch in den USA wurde der industrielle Sektor zu dieser Zeit computerisiert, um insbesondere die Arbeitskosten zu senken, und zwar durch durch die Automation von Stahlfabriken, die Erfindung des CAD/CAM Designs unddurch das digitale Logistik-Management, das das Outsourcen in der Textilindustrie und Elektronikindustrie ermöglichte.)

Dyer-Witheford fasst die wesentlichen Elemente des Toyotismus folgendermaßen zusammen (ebd.: Abschnitt 2):

1) Die Reduktion der Arbeitskraft im Zuge des Einsatzes von kybernetischen Maschinen, die wissen, wann sie ihre Operationen zu stoppen haben. Der Prototyp dieser Entwicklung war eine in der Textilindustrie eingesetzte sich selbst aktivierende Webmaschine, die auf dem Feedback-Loop basierte und die menschlichen Arbeitskapazitäten in ihre Rhythmus miteinbezog. Die Arbeiter konnten nun auch mehrere Maschinen gleichzeitig bedienen.

2) Die Redefinition des Arbeiters, der nun nicht nur zu gehorchen hatte, sondern als aktiver Teilnehmer in der Produktion galt, beipielsweise durch die Möglichkeit, eine Veränderung der Geschwindigkeiten der Maschinen (Kaizen System) vorzunehmen, was allerdings nicht dazu diente, die Maschinen prinzipiell zu verlangsamen, sondern effektivere Anpassungen des Arbeiters an die Maschine zu erzeugen. Umfassende Teamarbeit wurde eingerichtet, deren Aufgaben an keine fixen Zeiten mehr gebunden waren.

3) Die Reduktion des Inventars durch das Outsourcen von Zulieferern, wofür der Aufbau elektronischer Netzwerke unbedingt notwendig war, insofern diese es ermöglichten, dass notwendige Teile für die Herstellung eines Produkts auf Abruf (just-in-time) angeliefert werden konnten. Das an die Fabrik gebundene fixe und zirkulierende Kapital wurde damit entscheidend reduziert.

4) Die Produktion wurde qua einer Erhöhung der Anzahl an Modellen und Accessoires genauer an die Erfordernisse der Nachfrage bzw. Konsumtion angepasst, womit auch die Produktion sich als wesentlich heterogener und adaptiver als im Fordismus erwies. Die Anpassung an die Nachfrage bedurfte des exakten, frequenziell berechneten Einsatzes der Werkzeuge und Maschinen, der flexiblen Anpassung der Produktion und der Einrichtung flexibler Arbeitsverhältnisse. Der in den 1970er Jahren amtierende Vizepräsident von Toyota, Taiichi Ohno, fasste diese Entwicklung im Begriff „Autonomization“ zusammen, der servomechanischen Automation. Dabei wurde der Arbeiter als ein Teil des Feedback-Loops der Maschine begriffen, als ein sensorisches Element in einem zielstrebigen Prozess, der dazu diente, die biologischen und die maschinellen Komponenten des ganzen Systems in Balance zu halten. Während die Roboter ab den 1980er Jahren am intensivsten in der Autoindustrie eingesetzt wurden, erforderte die globale kapitalistische Produktion gleichzeitig den Bau komplexer logistischer Infrastrukturen, die ganz von kybernetischen Systemen abhängig waren. Während die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gegenüber dem Internet nur langsam wuchs, waren die intensivsten Anwendungen der kybernetischen Systeme außerhalb des militärischen Bereichs in den Unternehmen und an der Börse ganz deutlich zu verzeichnen. Automobilfirmen standen in den 1980er Jahren an vorderster Front dieser Entwicklung, als General Motors eine neue Autoserie (Saturn) zu planen begann – eingebettet in einen Strom von Ressourcen inklusive der Rohstoffe und der outgesourcten Komponenten, wobei der Strom durch satellitengestützte Computer koordiniert werden sollte. Auch wenn das Modell nicht erfolgreich war, so bildete es doch die Grundlage für das erste umfassende Liefermanagementsystem, das Zulieferer, Fabriken und Kunden flächendeckend miteinander verband. (Ebd.: Abschnitt 3)

Die just-in-time-Logik des Toyotismus wurde durch die Integration der fluktuierenden Informationsströme (die sich auf inventorische Kapazitäten und Märkte bezogen) immerhalb von Datenbanken und Netzwerke wesentlich intensiviert. Oft siedelten sich die Zulieferer in der Nähe der Hauptproduktionsorte an, aber das war infolge der fortschreitenden Entwuícklung der Logistik und der Containerisierung nicht immer notwendig. Es bedurfte jedoch eines weltweiten Systems von Direktinvestitionen, Handelsabkommen und des Ausbaus der kybernetischen Netzwerke, um speziell den Zugang zu Gebieten mit hohen Ressourcen an billigen Arbeitskräften zu erleichtern, man denke hier an Mexiko, Südostasien, China und Indien. Im Jahr 2005 produzierte die Automobilindustrie welteit ungefähr 87 Millionen Autos, Busse und Lastwagen, ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Kapital-Vortex keineswegs schwerelos, immateriell oder sauber ist, im Gegenteil, er erhöht die Produktion von Produkten, die aus Metall und Plastik hergestellt werden, angetrieben von fossilen Rohstoffen, die rund um den Planeten zirkulieren. (Ebd.)

Heute ist selbst die Softwareproduktion des Kapitals von den Methoden des Taylorismus, des Fordismus und des Toyotismus zugleich durchzogen. In einem klassischen Entqualifizierungsprozess wurde durch strukturierte Programmiertechniken (Object orientated programming) das Schreiben der Software in Module gebrochen oder in relative einfache Schritt-für-Schritt-Aufgaben zerlegt. Führungskräfte übertragen Module und Aufgaben an Programmierer, die mehr oder weniger simultan an ihnen arbeiten, während sie von Teamkollegen in regelmäßigen Kontrollexkursionen beobachtet werden, die die Arbeiten vergleichen, prüfen und Irregularitäten aufdecken. Hier handelt es sich um ein programmierendes Proletariat, das nicht hackt, sondern seinen proletarischen Status oft durch Zeichen des Hackens zu maskieren versucht. Die Arbeit des  programierenden Proletariats ist wiederum ohne eine Reihe von anderen Typen von Arbeit nicht zu denken. Man findet in den industriellen Prozessen der Computerproduktion die Jobs der Halbleiterproduktion in sauberen weißen Räumen, die Jobs zur Herstellung von Platinen, Druckern und Kabeln in weniger sauberen Räumen, manchmal auch zuhause, und die Jobs von schlecht bezahlten Servicearbeitern. In Silicon Valley gab es im Jahr 2000 ungefähr 65000 elektronische Montagearbeiter, 40000 Abeiter, die nicht in der Montage beschäftigt waren, und 200000 Servicedienstleistende, wobei letztere oft Frauen und Migranten waren. (Ebd.: Abschnitt 4)  Dabei sind flexible Arbeitsbedingungen an der Tagesordnung, aber der richtige Killer für die Arbeiter  weltweit ist der toxische Abfall, der der Herstellung der Halbleiter entspringt. Die beschleunigte Computerproduktion multipliziert den Gebrauch von giftigen Chemikalien, vermindert für die Arbeiter die Zeit zur Regeneration und reduziert zugleich die Versuche der Unternehmen, die toxische Produktion zu unterbinden. Die globale Produktion macht es zudem unmöglich, die Traumfabrik Silicon Valley ohne die Produktionsorte in Bangalore, Delhi, Puna und Hyderabad zu denken, wo beipielsweise Servicearbeiter in der Computerindustrie 30 Dollar im Monat verdienen, 12 Stunden und mehr am Tag ohne jede Jobsicherheit arbeiten und in Zelten oder in den Slums in der Nähe der Cybertower wohnen. Das triadische Pattern von lukrativem High-Tech Kapital, professioneller informationeller Arbeit und erschöpfender, niedrig bezahlter Arbeit repliziert sich heute in globalem Maßstab.

 

Die globalen Lieferketten

Dyer-Witheford untersucht in diesem Zusammenhang die globalen Lieferketten, mit denen die großen Unternehmen heute weltweit ihre Warenproduktion organisieren, das heißt jedes Element unter geographischen Gesichtspunkten so anordnen, dass die Arbeitskosten optimiert, die Zugänge zu den Rohmaterialien effektiv geregelt und die optimale Nähe zu den Märkten hergestellt wird, um eben die logistischen Ketten zu integrierten, kontinuierlichen Sequenzen auszubauen. Ab den 1980er Jahren waren diese Lieferketten vor allem in der zweiten und dritten Welt zu einem hohen Maß auch für die technische Zusammensetzung des globalen Proletariats verantwortlich. Unter technologischen Gesichtspunkten gehen diese Ketten auf die Kybernetik zurück. Im Zuge steigender Computerleistungen, höherer Transmissionskapazität und leistungsfähigerer Software wurde die Telekommunikation immer billiger, so dass es Sinn machte, die Fabriken geograpisch zu trennen und auf globaler Ebene neu zusammenzusetzen. Für die großen Industrienationen war es relativ einfach, Hightechtechnologien im eigenen Land mit billiger Lohnarbeit in den Ländern der Peripherien zu kombinieren. Die Transportwege von den global verstreuten Zulieferern zur Hauptfirma wurden durch modulare Produktionsprozesse und standardisierte Interfaces zwischen Zulieferfirmen, Kunden und der Zentrale effektiv gestaltet. Der Datenverkehr wurde durch Standards wie Electronic Data Exchange (EDI) Formate verbessert. Diese logistischen Lieferketten veränderten nicht nur die Zuammensetzung des globalen Proletariats, sondern sie schufen auch das Internet der Dinge. Ein entscheidendes Moment dieser Entwicklung bestand in der Einführung des Barcodes durch das Unternehmen IBM in den 1970er Jahren; der erste Schritt einer logistischen Revolution, in der später der Transport und die Kommunikation durch detailliertes kybernetisches Tracking, Inventarkontrolle und bildschirmbasierte Systeme beschleunigt und optimiert wurden. Als die Logistikketten in Länge und Komplexität wuchsen, generierten sie einen eigenen Sektor der Kapitalproduktion (Microsoft, Oracle, SAP, Epicor etc.). (Ebd.) Es ging darum, die billigsten Ressourcen der Arbeit anzuzapfen, Waren mit den geringsten Kosten zu produzieren und mit der maximalen Geschwindigkeit von der Produktion bis hin zum Verkauf zu bewegen, neue Transportrouten auszubauen und aktuelle und zukünftige Probleme der Unternehmensorganisation möglichst schnell aufzuarbeiten.

Walmart ist das klassische Beispiel für eine gigantische Warenkette, die die Logistik mit der just-in-time Produktion verbindet. Im Jahr 2005 haben die an Walmart angeschlossenen Datencenter ca. 680 Millionen verschiedener Produkte pro Woche getrackt, Barcode-Scanner und punktgenaue Computersysteme identifizierten mehr als 20 Millionen Kunden-Transaktionen pro Tag und speicherten diese Informationen. (Ebd.: Abschnitt 5) Die Satellitenkommunikation verlinkte die jeweiligen Geschäftscenter direkt mit dem zentralen Computersystem und von dort wieder zu den Zulieferen, um das automatische Ordering möglichst reibungslos zu gewährleisten. Schließlich wurde das RFID-System eingeführt. (Dyer-Witheford spricht hier von einer neben der physikalischen Ökonomie enstandenden zweiten Ökonomie, die sich still, unsichtbar, vernetzt und fast schon autonom entwickle, ja simultan und in ständigen Rekonfigurationen verlaufe.) Die radikalsten Veränderungen in der Logistik fanden jedoch am Ende der globalisierten Ketten statt, wo die Deindustrialisierung des Nordens als Grund und Effekt auf die ländliche Entvölkerung im Süden traff, um dort eine neue Welle der primitiven Akkumulation in Gang zu setzen. In Asien, Lateinamerika und Afrika strömten Migranten massenhaft in die Metropolen und deren informationelle Ökonomien oder in den Norden und deren Dienstleistungssektoren oder in spezielle Exportzonen in Mexiko, Philippinen, Malaysia, Thailand und vor allem in China. China wurde auch das Epizentrum der Arbeiterunruhen. Glichzeitig wanderten nordamerikanische Arbeiter stark in die Zirkulationssphäre ab, wo Walmart den Automobilkonzern General Motors als beschäftigungsintensivstes Unternehmen in den USA ablöste. Hier entfaltete die Kombination aus niedrig bezahlten Arbeitskräften (auch in der Zuliefererindustrie), niedrigen Preisen und hohen Profiten zeitweise einen starken Sog für die Dynamik der gesamten US-Industrie.

 

Das Internet

Nachdem Dyer-Witheford ausführlich die Klassenzusammensetzung des globalen Proletariats in der aktuellen Computerindustrie untersucht hat, geht es ihm um neue De- und Rekompositionen dieser Klasse im und um das Internet, wobei er sich auf die zirkulatorischen Flows des kybernetischen Vortex im Internet konzentriert. Der Mehrwert wird hier nicht nur durch die Extraktion von oft unbzahlter Arbeit, sondern auch durch Beschleunigung und technologische Innovation produziert/realisiert, indem u.a. die Umschlagszeiten des Kapitals erhöht werden. Das Internet wurde im 21. Jahrhundert zu einer riesigen Verkaufsmaschine. Wenn die logistischen Lieferketten das kleine dreckige Geheimnis der digitalen Revolution sind, so ist heute das Internet das hübsche Gesicht einer sich explosionsartig ausbreitenden Kommunikation für konsumtive Zwecke, und dies qua streamender Werbung, dem Tracking der Konsumenten und der Steigerung des Warenverkaufs. Der Goldrausch im Internet involvierte von Anfang an viele Agenten: Computersektor, der Soft- und Hardware herstellte,Telekommunikationsfirmen und Kabelproduzenten, Retail- und B-2-B Firmen, Medienfirmen und die gesamte Unterhaltungsbranche. Das Venture Kapital setzte früh enorme Geldsummen in den hochrisikoreichen Sektoren ein. Die Aktienpreise der Dotcom-Firmen bezogen sich nicht auf die Performance, sondern auf Erwartungen.

Mit Christian Fuchs geht Dyer-Witheford davon aus, dass das Web-2.0-Kapital durch Plattformen charakterisiert ist, die den Mehrwert aus der kostenlosen Arbeit der User extrahieren, entweder als Produktion von passivem Rohmaterial, das durch Suchmaschinen-Crawler prozessiert wird, oder als die aktive Kreation der User in den sozialen Medien. (Ebd.: Abschnitt 5) Gleichzeitig wird von den Konzernen Open Source Software eingesetzt, um die Daten der User zu sammeln, zu verbinden und zu bewerten, i.e. Muster und Cluster herzustellen, um das Datenkapital massiv zu akkumulieren. Diese kostenlose Arbeit ist aber nur eine Form einer Vielzahl von Arbeiten in der Schattenökonomie, die supplementär zur Lohnarbeit fungieren. Es sind die billigen Arbeitskräfte, von denen Jason w. Moore spricht, die immer schon konstitutiv für die Geschichte der Kapitalisierung und  Proletarisierung waren.

Für die Klassenkomposition des globalen Proletariats hat die kostenlose Arbeit im Web 2.0 folgende Konsequenzen: a) limitierte Expansion der techno-wissenschaftlichen Arbeiter im Web 2.0, b) Mobilisierung eines Prosumer-Contents bei Verlängerung eines unbezahlten digitalen Arbeitstags, c) Subversionen gegen die Medienarbeiter alter Schule, d) Entwicklung eines digitalen Mikrobusiness in Nischenmärkten, e) Intensifikation der Warenzirkulation, und f) die Autokommodifizierung der eigenen Person im Promotion- und Reputationsmanagements (qua Optimierung des Profils). (Ebd.) Jedes Facebook Posting kreiert die Extraktion von Mehrwert, wenn auch parasitär, wobei die Furcht des Users vor sozialem Ausschluss genutzt wird, um mit ihm die Zirkulation des Kapitals voranzutreiben. Es gibt definitiv eine Verbindung zwischen den Facebook Usern und den billigen Arbeitskräften bei Foxconn, insofern erstere auf die billigen Waren (Computer) aus China angewiesen sind, und damit der in China hergestellte Computer Voraussetzung für die Facebook-Aktivität des Users ist, der auf Facebook wiederum kostenlose Arbeit abliefert und eine spezifische Subjektivierungsform des Kapitals inkorporiert.

 

Das globale Proletariat und die Zonen

Dyer-Witheford untersucht wirklich eingehend die Zusammensetzung des globalen Proletariats (in ihrem Verhältnis zur Kybernetik), das er mit Karl-Heinz Roth ein „vielschichtiges Multiversum“ nennt (ebd.: Abschnitt 7), das aus denjenigen Klassen komponiert ist, die ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen, entäußern oder vermieten müssen, um ihre Reproduktion zu sichern, und der Surplusbevölkerung, der selbst noch der Verkauf der Arbeitskraft verwehrt bleibt. Das Portrait der kybernetischen Proletarisierung umfasst den welt-historischen Exodus der agraischen Bevölkerungen, wobei Automation und Biotechnologien die bäuerlichen Kulturen weiterhin stark desintegrieren; es kommt zu Surplusbevölkerungen im informellen Sektor und zu massiver Subsistenzwirtschaft, zum durch die Logistik ermöglichten Transfers der Industriearbeit vom Nordwesten der Welt nach Asien; es findet die Entwicklung eines diffusen Dienstleistungssektors aufgrund von Lohnarbeit in der Reproduktion und Zirkulation statt; man kennt die Mobilisierung der Frauen für bezahlte und unbezahlte Arbeit und die Eskalation von Arbeitlosigkeit, Unterbeschäftigung und unbezahlter oder unsicherer Arbeit. Was all diese Bewegungen mit in Gang setzte, das war die Differenzierung in der Lohnentwicklung im Zuge der neuen globalen „Regulation“ des Kapitals, das die Trennung zwischen den alten kapitalistischen Zentren und den Peripherien miteinbezog – so entstanden neue Möglichkeiten, um billige Arbeit anzumieten und billiges Land zu kaufen und die Erschließung bisher ungeschützter Ökosphären voranzutreiben. Das weltweite Outsourcing und Offshoring großer Unternehmen setzt eine Dynamik in Gang, in der schließlich selbst einige logistische Zielorte der ehemaligen Peripherien eine kritische Masse an Industrialisierung erreichten, sodass sie mit den alten Zentren der Kapitalakkumulation in Europa und den USA in Konkurrenz treten konnten, man denke an einige Städte aus den BRICS Staaten.

Theorie Communiste (TC) spricht heute von drei  Zonen auf dem kapitalistischen Weltmarkt: 1) Die Hyperzonen des Kapitals mit hohen Funktionsleistungen im Bereich der Arbeitsmärkte und der Produktionsorte (Finance, Technologie und Forschung). 2) Sekundäre Zonen mit intermediären Industrien und Technologien (Logistik und Kommunikation). 3) Krisenzonen informationeller Industrien mit niedrig bezahlten Arbeiten oder Zonen, in denen überhaupt nicht gearbeitet wird. (Ebd.) Während die Kapitalproduktion durch die Zonen hindurch unifiziert ist, trifft das keineswegs auf die Reproduktion der Arbeitskraft zu. In der ersten Zone treffen sich hochbezahlte Lohnarbeit mit privater Risikoabsicherung und solche Arbeiten, in denen bestimmte Aspekte des Fordismus erhalten bleiben, während andere Arbeitskräfte mit prekären Bedingungen kämpfen. In der zweiten Zone ist die prekäre, niedrigbezahlte Arbeit die Norm, gemischt mit Inseln der vertraglich bezahlten Arbeit, der Migration und der fehlenden Absicherung sozialer Risiken. In der dritten Zone hängt das Überleben des Proletariats von humanitärer Hilfe, illegalem Handel und mafiösen Strukturen ab, von der Landwirtschaft, aber auch von kleinen Gemeinschaften. Dies muss als ein volatiler und poröser Prozess verstanden werden, der von ständigen Migrationsbewegungen des Proletariats und den Restrukturierungen durch das Kapital durchzogen ist. Als beispielsweise die Löhne in Chinas Industrieunternehmen anstiegen, wanderte das chinesische Kapital erstmalig auch nach Südostasien und Afirka ab. In diesen zonischen Arrangements ist die proletarische Klasse fragmentiert und fraktalisiert, ersteres, insofern die Bedingungen der sozialen Reproduktion sich von einer Zone zur nächsten stark unterscheiden können, fraktal, insofern die grundlegenden Relationen zwischen Kapital, intermediären Schichten und Proletariat sich in selbstähnlichen Patterns in allen Zonen manifestieren, obgleich in verschiedenen Skalierungen und Mischungen.

Vom Jahr 1980 bis zum Jahr 2010 ist der Korpus der planetarischen Arbeitskraft von 1,2 Milliarden auf 3 Milliarden Menschen angestiegen. Dies war keineswegs allein die Folge des globalen Bevölkerungswachstums, sondern eine Folge der Vertiefung der globalen Kapitalakkumulation und der Märkte. Ohne den Einsatz der kybernetischen Technologien wäre wiederum die systematische globale Organisation der Arbeit, ihre Flexibilität und Granularität, ihre Produktion und Zirkulation nicht möglich gewesen. In Zukunft wird sich die Kapitalakkumulation allerdings weniger um die Reproduktion der Arbeitskräfte drehen, sondern um die Reproduktion der kybernetischen Systeme. Die Verbindung von Globalisierung und Kybernetik hat zwei Tendenzen in der Dynamik des Kapital-Vortex offengelegt: Zum einen die Erfassung der globalen Population durch Lieferketten und bewegliche Produktion, die die Arbeit für das Kapital auf einem planetarischen Niveau verfügbar hält, und zum anderen der Drive hin zur Automation, Software-Robotern und Netzwerken, die die Arbeit redundant halten und eine für das Kapital nutzlose Surplusbevölkerung schaffen. Dieser „bewegende Widerspruch“ schafft Arbeitsplätze, wie er sie auch zerstört – und dies keineswegs in einem gleichgewichtigen Prozess, sondern in einer spiralförmigen Bewegung, die zu einer immer intensiveren Maschinisierung des Kapitals führt. Das hohe Volumen von Arbeitskräften, das in den kybernetischen Kapital-Vortex eingesaugt wird, kreiert zugleich direkt oder indirekt die arbeitsplatzsparenden Systeme – industrielle Roboter, automatische Transportmaschinen, Montage der Computer und algorithmisches Trading. Die Arbeiter, die seltene Erden extrahieren, Kabel verlegen, Mobilfunkmasten konstruieren und für die technische Bedienung der Maschinen zuständig sind, produzieren eine Welt von automatischen Halbleiter-Fabriken, robotisierten Fließbändern, Datenzentren und Waren, die von Dronen geliefert werden, und schließlich von algorithmisierter Finance. Einer Periode der hohen Absorption von menschlichen Arbeitskräften durch das Kapital folgt eine Phase der beschleunigten Ausstoßung von Arbeitskräften, mit der die neuen Level der Automation in der Produktion und Zirkulation – kombiniert mit der kybernetischen Finanzialisierung – das Kapital zunehmend vom Proletariat trennen. Im Prinzip kommt das Kapital auch ohne die Produktion von Konsumgütern aus; Unternehmen können den Profit durch die Produktion von Produktionsmitteln für andere Unternehmen produzieren. Die prekäre Arbeitskraft wäre dann als bloßer Rest nichts weiter als eine Komponente des fixen Kapitals. Allerdings ist dies nicht ohne Krisen zu haben. (Bezüglich der Vorausschau kommender Krisen im Kapital-Vortex konzentriert sich Dyer-Witheford auf die Bereiche Beschäftigung, Gegnerschaft, Ökologie und Entität. Alle Tendenzen in der Weltwirtschaft weisen auf eine wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen sowie auf eine steigende Surplusbevölkerung hin. Metereologische Supercomputer und Satellitenstationen zeichnen heute den steigenden Ausstoß von CO2 in die Atmosphäre auf. Das Problem der Gegnerschaft bezieht auf die steigende Zahl von Kriegen, während das Problem der Entität darin besteht, das Management der Unternehmen immer weiter den semi-autonomen automatisierten Systemen überlassen zu müssen. Ebd.: Abschnitt 10)

Was man heute den globalen Arbeitsmarkt nennt, fasst Dyer-Witheford in folgenden Tendenzen zusammen (ebd.: Abschnitt 7):

1) Das Ende der globalen Landbevölkerung durch den Ausbau des städtischen Bias und die Einführung von Monokulturen, durch den Einsatz automatischer Erntemaschinen und genmodifiziertem Samen des Agrarbusiness sowie durch zum Teil gewaltsame Landnahmen für die industrielle Produktion. Im Jahr 1980 war die landwirtschaftliche Produktion noch für 50% der weltweiten Arbeit verantwortlich, im Jahr 2010 waren es nur noch 35%.

2) Migration. Es gibt heute ca. 200 000 Millionen Migranten weltweit, einige sind saisonale Arbeiter, anderen nomadisieren permanent. Dennoch sind diese Bewegungen ganz an den Flüssen des Kapitals ausgerichtet; die Grenzen der Länder sind nicht offen, vielmehr werden die Migranten gerade dort mit den neuesten Technologien gescannt; die Arbeiter werden nach verschiedenen Differenzierungen reguliert (bezahlt/unbezahlt, qualifiziert/nicht qualifiziert, permanent /temporär).

3) Arbeitsnomaden. Nicht alle Teilnehmer des heute ca. 3 Milliarden zählenden Proletariats werden für ihre Arbeit bezahlt oder sie werden schlecht bezahlt. Ungefähr die Hälfte des Proletariats ist nämlich in Aktivitäten engagiert, die, wenn überhaupt, nur die Subsistenz sichern, und dies reicht von ländlicher Arbeit bis hin zu scheinbar selbständiger Arbeit. Hier sind die regionalen Unterschiede miteinzubeziehen. Selbst in den Metropolen des Kapitals impliziert Selbständigkeit oft nichts weiter als fragile webbasierte Tätigkeiten in Mikro-Unternehmen oder nominal zwar unabhängige und vertragsbasierte Arbeit, die aber vollkommen in die globalen Lieferketten oder Franchiseunternehmen integriert bleibt; es handelt sich um Aktivitäten, die mit Selbstausbeutung und/oder Formen der Mega-Proletarisierung gut umschrieben sind. Im globalen Süden bedeutet dies oft Straßenarbeit, Tagesarbeit, Betteln und billige Werbearbeit.

4) Die Existenz eines neo-industriellen Proletariats. Im Gegensatz zu den Beschwörungen vieler Theoretiker der Informationsgesellschaft ist die industrielle Arbeit im Weltmaßstab nicht wesentlich zurückgegangen. Im Gegenteil, der industrielle Output hat sich in den letzten 4 Jahrzehnten verdreifacht, er ist von 2,58 auf 8,93 Trillionen Dollar in einer Periode angestiegen, in der sich die Weltbevölkerung noch nicht einmal verdoppelt hat. Dies sei weit von einer gewichtslosen, luftigen oder immateriellen Ökonomie entfernt, merkt Dyer-Witheford an dieser Stelle an.

(Die ökonomische Bedeutung dieser Zahlen ist allerdings noch genauer zu beleuchten. Lohoff/Trenkle weisen in diesem Kontext auf den stofflichen Parameter Arbeitsproduktivität hin. (Lohoff/Trenkle 20129 Sie argumentieren, dass für die relevante Verausgabung lebendiger Arbeit, die sich in der Gesamtwertmasse zu einem bestimmten Zeitpunkt materialisiere, nicht absolut geleistete Arbeitsstunden, sondern gesellschaftlich durchschnittlich notwendige, abstrakte Arbeitszeit entscheidend sei. Wenn man fünf Arbeitsplatze in China durch einen einzigen Arbeitsplatz in den USA ersetzen könne, dann ginge im globalen Rahmen auch nur dieser eine Arbeitsplatz mit seiner relevanten Produktivität in die gesellschaftlich gültige, globale Wertmasse ein. In der Tat wäre dann in empirischen Studien die Produktivitätsunterschiede in bestimmten Industrien in den USA und China zu untersuchen (die Lohoff/Trenkle tatsächlich auch im Verhältnis 5-1 verorten.) Allerdings sind, gerade wenn es um das von Lohoff/Trenkle aufgeworfene Problem des Abschmelzens der lebendige Wertmasse im Zeitalter der Mikroeletronik geht, nicht nur stoffliche, sondern preisliche Kategorien zu untersuchen –  die organische Zusammensetzung der Kapitale, Profitraten, das Verhältnis von Zinsrate und Profitrate. So kann die geringere Arbeitsproduktivität in den Unternehmen in China gegenüber den USA durch niedrigere Löhne (steigende Mehrwertrate) bis zu einem gewissen Maß kompensiert werden, und dies ist in Bezug zu Durchschnittsprofitraten und Produktivitätsdifferenzen im nationalen und internationalen Maßstab zu setzen, wobei letztendlich preisliche und eben keine stofflichen Indikatoren zählen.)

Während in der Tat ein großer Teil der industriellen Arbeit von den USA und Europa ausgelagert wurde, haben in den ehemaligen Peripherien signifikante Teile der Industriearbeit überlebt, aber zu weitaus niedrigen Löhnen, oft ohne Gewerkschaften und in weitgehend deregulierten Formen. Diese Arbeiten sind jedoch für die Infrastrukturen des Kapitals zwingend notwendig. Man denke an die unzähligen Kabelverlegungen und an den Bau riesiger Datenzentren, die Daten in die Clouds senden.

6) Die Multiplikation der Arbeit und der Anstieg der Dienstleistungen, letzteres eine amorphe Kategorie, unter die so verschiedene Tätigkeiten wie hochkomplizierte Buchhaltung, Consulting, Portiers und die Arbeit von Sicherheitskräften und die Arbeit in Fastoodketten fallen. Viele Arbeiten (Werbung, Marketing, Unterhaltung, Retail und Kommunikation) finden in der Zirkulationssphäre statt, das heißt in der Finance, Sexarbeit und im Gesundheitswesen. Die Feminisierung der Arbeit bezüglich des Einschlusses von immer mehr Frauen in die Lohnarbeitsverhältnisse, wobei die Unterschiede in Länge und Lohn zuungunsten der Frauen weltweit fortbestehen.

7) Die Existenz von neuen Bildungsfabriken, die heute Aspiranten aus allen Klassen aufnehmen, denen man ständig eine höhere Mobilität hin zu besseren Jobs verspricht.

Um es zusammenzufassen: Das sog. kybernetische Kapital hat den Pool von Arbeitern, aus dem es schöpfen kann, auf weltweiter Ebene zwar erhöht, aber damit zugleich ein Heer von Arbeitsnomaden geschaffen, für das selbst der marxistische Term der Reservearmee nicht zutreffend ist, insofern größere Teile dieser Nomaden niemals mehr in kapitalorientierte Produktionsprozesse integriert werden können. Mit den Worten von Mike Davis bilden sie die „Surplus Humanity“. Im Jahr 2011, in dem die Klassenkämpfe weltweit neu aufloderten, zeigte sich das ganze Ausmaß der neuen Klassenzusammensetzung des Proletariats: Die neuen Schichten der Surplusbevölkerung, die Jugend, die in den Bildungsfabriken als graduierte Studenten ohne Job reproletarisiert wurde, das neoindustrielle Proletariat in Fabriken wie Foxconn und die Myriaden von prekären, niedrigbezahlten Arbeitern auf den Plätzen in Kairo bis New York.

Man denke an da Problem der Mittelklasse, die insbesondere in den Bereichen des Designs der Maschinen und der Ausbildung von Arbeitern, die an die neuen Maschinen gebunden werden, arbeiten und einen vorderen Platz in der Lohnhierarchie einnehmen. Die Kybernetik hat solche Schichten erst neu hervorgebracht wie aber auch zerstört. Dabei erscheint die Aufgliederung der globalen Beschäftigung in drei Sektoren – Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung – und eventuell die Erweiterung durch den Sektor Information unangemessen, insofern heute kaum noch ein Arbeitsplatz vorstellbar ist, der nicht in irgendeiner Verbindung zur Digitalisierung steht. Es gibt eine Zunahme von Arbeitern, die stark mit kybernetischen Systemen verbunden sind, Programmierer, Softwareingenieure, Netzwerkexperten, Webdesigner, Systemadminstratoren in allen möglichen Sektoren (Finance, Unterhaltung, Marketing und Administration) und Arbeiter in den neuen kreativen Industrien. Das Wachstum der digital basierten Arbeit wird oft mit der Mittelkasse und ihren gut bezahlten Löhnen und hohem Status assoziiert, aber auch hier lässt sich dieses Narrativ durch die Globalisierung, man denke an den „Aufstieg“ der relativ schlecht bezahlten Programmierer in Indien, in Frage stellen. Eine große Anzahl der Arbeiten im Zusammenhang mit Netzwerken ist standardisiert, prekär, ungeordnet und schlecht bezahlt. Dennoch hat das Wachstum des kybernetischen Kapitals eine neue Mittelschicht hervorgebracht, die vor allem überwachungstechnische Aufgaben und technologische Verantwortlichkeiten für das Kapital übernimmt, man denke an die Teamleader, Projektkoordinatoren und Consultants, die den Management-Apparat des Kapitals bilden, der im Zuge der Globalisierung auf einem molekularen Level rekonstruiert wurde.

 

Finanzielles Kapital und Chimerica

Dyer-Witheford geht auf das Problem ein, dass die Senkung oder die Stagnation der Lohnkosten, die u.a durch Automation und Outsourcing möglich wurde, natürlich die Frage aufwirft, wer die Produkte, die aus den globalen Lieferketten strömen, denn nun eigentlich kaufen soll, ein Problem, das in den USA seit den 1980er Jahren immer stärker mit der Vergabe von Konsumentenkrediten beantwortet wurde. Man kann natürlich die Nachfrage steigern, wenn man bei fallenden oder stagnierenden Reallöhnen die Zahl der Arbeiter erhöht, wie dies in China der Fall gewesen ist, oder indem man wie in den USA geschehen, den Luxuskonsum steigert und Schichten aufbaut, die über erhebliche Kaufkraft verfügen, und die Anzahl der Akteure, die im Vorfeld für die Realisierung der Waren zuständig sind, erhöht (Makler, Handelskapital, Immobilen etc.) und zudem die direkten Produzenten gegenüber großen Handelskapitalisten wie Aldi, Apple oder Wal-Mart schwächt. Gelöst wird damit aber weder das Realisierungsproblem noch das der Überakkumulation. Letzteres kann durch überhöhte Preise und Gebühren, höhere Steuern und eine radikale Austeritätspolitik zeitlich verschoben werden, was aber die Überproduktion und den Mangel an profitablen Investitionsmöglichkeiten und damit die Überakkumulation des Kapitals nicht aufhebt. Im Kontext der Überakkumulation von Kapital sind gerade auch die steigenden Kosten für technologische Investments in komplexe kybernetische Systeme und Infrastrukturen ein Faktor, der die dem Fall der Profitrate entgegenwirkenden Tendenzen, die auf Kybernetik beruhten, wohl zum Teil kompensiert hat. Und der Immobiliensektor zeigt, was passieren kann, wenn dem Bausektor Geld von Banken geliehen wird, und gleichzeitig den Verbrauchern Hypotheken gewährt werden, damit diese die von Bauunternehmen gebauten Reihenhäuser kaufen können. In diesem Kontext ist das finanzielle Kapital ein überaus wichtiger Jongleur, um die Krisen zu verschieben oder zu kompensieren (und nicht allein deren Verursacher). Das finanzielle Kapital, das heute mit den besten integrierten kybernetischen Systemen ausgestattet ist, operiert ständig in einem Feld von Unsicherheit, das zyklisch auch Turbulenzen hervorruft, wobei die von Teilen des Proletariats neu hinzugewonnenen Lebensvorteile in Sekundenschnelle verdampfen können.

Anhand dessen, was Dyer-Witheford „Chimerica“ nennt, analysiert er die Bewegungen der aus ländlichen Gebieten stammenden Migranten an die urbanen Endstellen der Niedriglohnproduktion für digitale Geräte (China), die für die Konsumenten in den USA als Basis für den populären Gebrauch des Internets dienen, das immer stärker zu einer Plattform für den Verkauf von Waren umgestaltet wird. Je mehr es unmöglich wurde in den ländlichen Gebieten Chinas noch zu überleben, desto mehr strömten die Migranten in die Städte und wurden dort zu billigen Lohnklaven; je stärker in den USA die Konsumentenkredite wuchsen, desto stärker stieg dort auch das ökonomische Wachstum. Diese beiden Trends besaßen eine Komplementarität. Während die USA mit der Nicht-Reproduktion qua exzessivem Kredit handelten, sparten die gewöhnlichen Chinesen, um Krankenhausbesuche, Wohnungen oder generell ihre prekäre Existenz zu sichern. Wenn China als die neue Werkstätte des globalen Kapitals begriffen werden kann, so die USA als die globale Shopping Mall. Ein Teil der steigenden Konsumausgaben in den USA bestand aus dem Luxuskonsum der Kapitalisten und der neuen Software-Ingenieure in Silicon Valley, aber auch das nordamerikanische Proletariat konnte seine Konsumausgaben erhöhen, zumal die Frauen in die Produktion zu meist jedoch niedrigen Löhnen integriert wurden und eben die Konsumentenkreditvergabe stark anstieg, damit die Konsumenten vor allem billige Waren aus China kaufen konnten.

Die von Dyer-Witheford aufgenommene These vieler Marxisten, dass die Finance in ihren verschiedenen Formen, von Krediten über fiktives Kapital bis hin zu den Derivaten die Probleme der fehlenden effektiven Nachfrage und der geringen Investitionen teilweise nur verschoben hat, bedarf einer eigenen Diskussion. Hier nur folgenden Anmerkungen.

Faktoren wie Profitabilität, Größe, Globalisierung, Mobilität, Geschwindigkeit, Homogenisierung und Vernetzungsgrad sind entscheidend, um die Hegemonie oder Determination des finanziellen Kapitals genauer bestimmen zu können. Hinzu kommen spezifische Funktionsweisen der Kapital-Ökonomie wie die dezentralisierte Aufsicht an den Märkten, die für die Zirkulation des Geldkapitals extrem wichtig ist, und zudem brauchbare Möglichkeiten der Verteilung des nach profitablen Anlagen suchenden Geldkapitals. David Harvey weist in seinem Buch Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln auf die in den 1980er Jahren sowohl in den USA als auch international stattfindende effektive Verteilung von überschüssigem Geldkapital (bei gleichzeitiger Senkung der Transaktionskosten) durch das finanzielle Kapital hin, dem es gelang, die Kapitalströme in Regionen und Bereiche zu lenken, in denen vergleichsweise hohe Profitraten zu erwarten waren. (Harvey 2014: 39) Natürlich fallen unter diese Faktoren auch möglichst hohe Renditen, die staatliche Absicherung der Gewinne der Banken im Fall von Krisen (Bankenrettung), die starken Handlungspotenziale des finanziellen Kapitals im Kontext des nationalen und internationalen Wettbewerbs, die Bichler/Nitzan in der Essenz als die Potenz der Unternehmen, andere Unternehmen zu schlagen, definiert haben (Bichler/Nitzan 2009), die Stärke der Kapital-Macht, die Existenz von weitgehend unkontrollierten Schattenbanksystemen und die hohe Netzwerkintensität des finanziellen Kapitals. Immer noch gibt es ja in der Finanzindustrie die Dominanz des Shareholder-Value, überdurchschnittliche Kapitalrenditen, Boni und extrem hohe Gehälter für das Management, sowie andererseits die Sozialisierung der Verluste und die zunehmende Einbindung der Lohnabhängigen in die Finanzmärkte zu vermelden. Während die Zentralisation des privaten Geldkapitals nach der Finanzkrise von 2008 weiterhin zugenommen hat, blieb das Schattenbanksystem unangetastet. Der Anteil der Profite der Finanzsektors an den gesamten Unternehmensgewinnen stieg in den USA von 15% im Jahr 1970 auf etwa 40% im Jahr 2005.1 (Vgl. Bischoff 2014: 54/ Harvey 2014: 57) Die rhizomatisch vernetzten Räume des finanziellen Kapitals, dessen Konglomerate sich aus Großbanken, Investmentbanken, Hedgefonds, Ratingagenturen und privaten Großspekulanten zusammensetzen, eröffnen heute permanent strategische Felder für weltumspannende Interventionen und dies teilweise unabhängig vom Ort, an dem sich die intervenierende Agency des finanziellen Kapitals gerade befindet. Und selbst multinationale Unternehmen (aller Sektoren), die große Finanzabteilungen unterhalten, sind als Formen des finaziellen Kapitals zu verstehen, wobei die Divergenz zwischen deren Buch- und Börsenwerten zu beachten ist.

Lohoff/Trenkle sprechen in ihrem Buch Die große Entwertung von einer seit den 1980er Jahren stattfindenden strukturellen Verlagerung der Dynamik der Kapitalakkumulation hin zum fiktiven Kapital bzw. von einer »Kapitalakkumulation ohne Wertverwertung«, die allerdings irgendwann auch auf Grenzen stoße. (Lohoff/Trenkle 2012: 256 f.) Der Vorgriff auf zukünftigen Wert sei durch den Verkauf von fiktivem Kapital in der Gestalt von Eigentumstiteln (Aktien, Anleihen, Derivate etc.), die eine bestimmte Summe Geld und den Anspruch auf Vermehrung repräsentieren, eingeleitet worden. (Ebd.:124 f.) Mit dieser Art der Finanzialisierung fand eine weitere Mobilisierung der Produktion von Industriewaren statt. Mit dem Einsatz von fiktivem (Anleihen, Aktien) und spekulativem Kapital wurden Investitionen im industriellen Sektor und Infrastrukturmaßnahmen in Hinsicht auf zukünftige Verwertung finanziert. David Harvey weist immer wieder darauf hin, dass ein großer Teil der Investitionen im Immobilienbereich im Zusammenhang mit der Produktion von fiktivem Kapital steht (weltweite Immobilienspekulation). (Harvey 2015: 32ff.) Die progressive Urbanisierung und der mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang stehende Immobilienboom ist vom umfassenden Einsatz von neuen Finanzinstrumenten abhängig, mit denen gewaltige Summen von Krediten bereitgestellt werden. Darüber hinaus wurden vor der Finanzkrisse 2008 in den USA lokale Hypotheken zusammengefasst und verbrieft, um sie im globalen Rahmen an Investoren zu verkaufen (CDOs). Desweiteren bedurfte es des Aufbaus neuer Finanzunternehmen, die an den Sekundärmärkten aktiv wurden, um die mit dem Immobilienboom zusammenhängenden Risiken zu verteilen, zu streuen und zu regulieren. Zudem erfolgt heute ein bedeutender Teil des staatlichen und privaten Konsums über Kreditaufnahmen, die selbst Teil der Produktion von fiktivem Kapital sind.

Für Lohoff/Trenkle ist spätestens ab den 1980er Jahren das finanzielle Kapital der Motor für die Ausdehnung der globalen Warenproduktion, die schon seit den 1960er Jahren auf hohem Produktivitätsniveau und fortschreitender Prozessautomation stattfand. Die Autoren sprechen von »induzierter Wertproduktion« (Lohoff/ Trenkle 2012: 147 f.) oder von »inversem Kapital«, weil die Wertproduktion nicht auf der Extraktion des Mehrwerts durch den Gebrauch der Arbeitskraft beruhe, sondern von der wachsenden Akkumulation von fiktivem Kapital angetrieben werde, ja die gesamte weltweite Wertproduktion sei heute durch das fiktive Kapital induziert. Denn ohne das fiktive Kapital hätte das fungierende Kapital (das in der »Realwirtschaft» investierte Kapital) in einen sich verstärkenden Kreislauf der massenhaften Entwertung eintreten müssen.

Lohoff/Trenkle haben auch den Versuch unternommen, ihre Thesen empirisch abzusichern. Zunächst weisen sie auf die bekannten Zahlen hin. Der Global Wealth Report bezifferte im Jahr 2010 die Finanzvermögen (ohne Derivate) auf 231 Billionen Dollar und damit auf das Vierfache des aktuellen globalen BIP. Das Gesamtvolumen der Derivate wuchs zwischen den Jahren 1998 und 2008 von 72 auf 673 Billionen Dollar – und erreichte damit das Zwölffache des weltweiten BIP. (Vgl. Lohoff 2014: 6) Ein wichtiger Indikator, der auf die Hegemonie des finanziellen Kapitals hinweist, finden Lohoff/Trenkle in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und China, die man gemeinhin auch als »Chimerica» bezeichnet. Dem seit den 1980er Jahren stetig wachsenden Handels- und Leistungsbilanzdefizit der USA (höherer Import von Waren und Diestleistungen als ihr Export), das durch den Zufluss von Kapital aus dem Ausland finanziert wurde, korrespondiert ein Überschuss in der Kapitalbilanz (Zunahme von Kapitalimporten). Dabei haben die USA zunehmend Waren, insbesondere aus China, eingeführt, während an ihren Finanzmärkten immer stärker Wertpapiere und Derivate an ausländische Kapitalanleger verkauft wurden (fiktives/spekulatives Kapital). Industrieprodukte aus China, aber natürlich auch auch aus anderen exportorientierten Ländern (wie der BRD) wurden in die USA verkauft, während es in den USA gleichzeitig zum Kauf von Wertpapieren aller Art kam. Auch chinesische Privatanleger und chinesische Staatsfonds legten ihre Gewinne vor allem bis zur Finanzkrise von 2008 an den US-Kapitalmärkten an, das heißt, sie kauften in den USA »produzierte« Wertpapiere und Derivate, und dies vor allem seit Ende der 1990er Jahre, zu einem Zeitpunkt, an dem China bezüglich seiner ökonomischen Wachstumsraten noch einmal einen großen Sprung nach vorne machte. Auch an den eigenen Märkten hat China die Finanzialisierung vorangetrieben; so wuchs die Gesamtverschuldung (Staat, Finanz-, Industrie- und Privatsektor) von 153 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf heute 282 Prozent, wobei das Kapital vor allem in die Bauindustrie und den Ausbau der Infrastruktur geflossen ist.(Ebd.)

Einen zweiten wichtigen Indikator für den hegemonialen Einfluss des finanziellen Kapitals auf die „Realwirtschaft“ machen Lohoff/Trenkle in der zunehmenden Vergabe der Konsumentenkredite in den USA seit den 1980er Jahren aus. Mit Konsumentenkrediten und der Vergabe von Hypotheken ließ sich die zunehmende inländische Konsumtion von Konsumartikeln und Immobilien finanzieren. Dies ist deshalb wichtig, weil der private Konsum plus die Ausgaben für private Immobilien ca 75 Prozent des BIP in den USA ausmachen und damit den wichtigsten Faktor für die konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft darstellen. Auch der kreditfinanzierte Konsum weist für Lohoff/Trenkle auf induzierte Wertproduktion hin, denn die Kaufkraft qua Geld kommt nicht aus vergangener Warenproduktion, die an den Märkten realisiert wurde, sondern stellt einen Vorgriff auf zukünftigen Wert dar. Dies betrifft in den USA nicht nur die überwiegend importierten Konsumartikel, sondern auch den inländischen Bausektor und eine ganze Reihe von Dienstleistungen.

 

Perspektiven der Kämpfe
Die autonome Arbeitertheorie hat die Zirkulation und die Realisierung des Kapitals mit der Zirkulation der Kämpfe des globalen Proletariats in Verbindung gebracht. Dyer-Witheford spricht hier eher von Kaskaden der Kämpfe, die weniger glatt als Zirkulationen verlaufen, eher schon chaotisch und widerprüchlich. Diese Kaskaden verbinden nicht unbedingt Teile einer Arbeiterklasse, wie dies zum Beipiel während der Zeit des Massenarbeiters noch der Fall war, sondern durchziehen neue Proletarisierungen; die fragmentiert, segmentiert und fraktalisiert bleiben. Dyer-Witheford erwähnt drei Formen von Kämpfen: Riots der Ausgeschlossenen, massenhafte Okkupationen von öffentlichen Plätzen und Konflikte am Arbeitplatz, wobei sich diese Kämpfe überlappen oder kombinieren, aber auch wieder voneinander trennen können. Genaus dies macht eine Kaskade von Kämpfen aus. Dyer-Witheford analysiert diese Kaskaden ganz konkret anhand der Klassenkämpfe bei Foxconn in China, der Occupy Bewegung und der Platzbesetzungen in Kairo oder Istanbul, wobei wir es hier mit invertierten Kaskaden zu tun haben, Fontänen vielleicht, die nicht wie die Kaskade von oben fließen, sondern als Kämpfe aufsteigen, aber doch gleichzeitig weiter in ungleiche Dynamiken eingebunden bleiben, die segmentierte Subjektivitäten, begrenzte Horizonte und fraktionierte Kapazitäten der Klasse inkludieren, sodass der gemeinsame politisch artikulierte Horizont auch in den Kämpfen des Jahres 2011 kaum vorhanden war. (Dyer-Witheford 2015: Abschnitt 10)

Dyer-Witheford gesteht zwar zu, dass diese Kämpfe ohne die Anwendung von kybernetischen Tools und Techniken, im speziellen des Internets, nicht möglich gewesen wären, wendet aber zugleich ein, dass die Kybernetik wahrscheinlich die dem Kapital in seiner Binnengschichte bisher freundlichste Technologie gewesen sei, sei es bezüglich der Vernichtung des Raumes durch die Zeit, sei es die ubiquitäre Überwachung oder sei es die Erschafffung des globalen Proletariats. Zwar muss die proletarische Bewegung diese Tools (fläckendeckend, aber wenig bindend; viral, aber überwachend; schnell, aber flüchtig) benutzen, um sie aber zugleich zu relativieren, das heißt, man muss gegen das sein, was man benutzt. Und dies führt zur Frage, ob das Proletariat auch gegen das Kapital sein kann. Ja, sagt Dyer-Witheford, aber nur wenn es gegen sich selbst ist, insofern es heute durch die Operationen der Logistik, der Internetmärkte und der Algorithmen des finanziellen Kapitals ständig weiter segmentiert und damit in das System eingeschlossen wird.

Zuletzt spricht Dyer-Witheford noch das Problem der proletarischen Organisation und die Notwendigkeit des Aufbaus einer „humanen Front“ an, die alle proletarisierten und reproletarisierten Populationen inklusive der prekären Mittelschichten durchzieht. Er erwähnt bezüglich des Begriffs „Front“ zwei Momente: Unter metereologischen Gesichtspunkten die Strömung im Vortex, die die Potenz besitzt, ihn auch zum Kollabieren zu bringen; bezüglich des Moments der Militanz verweist Dyer-Witheford auf einige Bemerkungen von Ernst Bloch, in denen dieser von der Front als einer Linie (in die Zukunft) spricht, die von einem militanten Optimismus gekennzeichnet sei, der gegen den banalen Glauben an einen automatischen Fortschritt zu wenden sei.

Die Gegenbewegung gegen das Schicksal und die pure Negation (Krieg, Todesstatik des Kapitals, Furcht und Barbarei) fasst Dyer-Witheford mit folgenden Indikatoren oder Orientierungen zusammen:

1) Das Kapital kümmert sich heute stärker denn je um die Reproduktion seines fixen im Vergleich zu seinem variablen Anteil. Dagegen sei auf dem Planeten ein sozialer Körper der Communis zu entwickeln.

2) Um die Segentierung der proletarischen Schichten, ihre Konkurrenz untereinander zu überwinden, bedarf es einer diese Segmentierung übergeifenden Organisation, die Allianzen zwischen den Arbeitenden, den Arbeitslosen und den prekären Schichten schafft, indem sie gewisse Verantortlichkeiten der sozialen Reproduktion übernimmt, ohne auf das staatliche Sozialnetz verzichten zu wollen, und gleichzeitig neue Formen der Selbstverwaltung schafft. Die Grenzen zwischen Riots, Lohnkämpfen, Platzbesetzungen und Hackeraktivitäten müssen überwunden werden, indem eine neue Form der Klassenorganisation sie koordiniert.

3) Netzwerke. Dyer-Witheford erwähnt in diesem Zusammenhang vielfältige sich multiplizierende Bewegungen, die im Kampf voneinander lernen, neue Objekte entwickeln und ihre Operationen in Hinblick auf ein gemeinsames Ziel, das durchaus graduell sein kann, koordinieren. Diese Prozesse können aus den oben diskutierten Gründen niemals allein auf Cyber-Aktivitäten beruhen, sodass diese durch langsamere, lokale und planorientierte Prozesse ergänzt werden müssen.

4) Planungen für Übergänge hin zu einem Kommunismus, wobei die Organisationen in den Übergängen beweglich, mobil und multipel und konstant in Diskussion mit de sozialn Bewegungen sein müssen. Dyer-Witheford verweist auf Karl Heinz Roths Vorschlag der Verbindung von gewerkschaftlichen Organisationsformen und sozialen Bewegungen, was kurzfristige Zielsetzungen betrifft, auf einen anti-zyklischen Keynesianismus, der über seine eigenen Grenzen hinausgetrieben wird, auf die Arbeiterkontrolle in neu aufgebauten Betrieben, auf die progressive Besteuerung des Kapitals und auf massive Umverteilungen des Reichtums. Zudem ist die radikale Reduzierung der Arbeitszeiten, die radikale Demokratisierung und die lokale und regionale Sozialisierung von Betrieben und Institutionen ins Auge zu fassen.

Ein weiteres Kapitel wäre über Dyer-Withefords kraftvolle Schilderungen der sozialen Kämpfe in den letzten zwanzig Jahren zu schreiben, zu denen weder die Anarchisten noch die Akzelerationisten  nennenswerte Beiträge geliefert haben.

 

Literatur

Bichler, Shimshon/Nitzan, Jonathan (2009): Capital as Power. A Study of order and creoder. Florence.

Bischoff, Joachim (2014): Finanzgetriebener Kapitalismus. Entstehung – Krise -Entwicklungstendenzen. Hamburg.

Dyer-Witheford, Nick (2015): Cyber-Proletariat. Global Labour in the Digital Vortex. London.

Harvey, David (2004): Die Geographie des »neuen« Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung. In: Christian Zeller (Hg.): Die globale Enteignungsökonomie. Münster. 183-215.
– (2013): Rebellische Städte. Berlin.
– (2014): Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln. Hamburg.
– (2015): Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Berlin.

Lohoff, Ernst (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. Der Fetischcharakter der Kapitalmarktwaren und sein Geheimnis. In: Krisis 1/2014. www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation

Lohoff, Ernst/ Trenkle, Norbert (2012): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster.

 

Foto: Bernhard Weber

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