Post Covid Prime Riot Manifest [Part II)

Zwanzig notwendige Anmerkungen zu den gegenwärtigen Konfliktualitäten und Perspektiven.

Teil 2: Anmerkungen 6-10

Sechs: Es gilt den Horizont der gegenwärtigen Konfliktualität zu fassen. Um nicht weniger kann es gehen, da nicht nur unsere Geduld endlich ist, sondern erstmalig auch die Zeit, die uns geblieben ist, um den endgültigen Ansturm zu organisieren. Das die Welt, in der wir leben, dem Untergang geweiht ist, wissen alle. Die Frage ist nur was sich daraus ergibt. Wir haben gesehen, wie die Permanenz des Ausnahmezustandes in der Governance der Pandemie anfänglich nur in den gesellschaftlichen Randbereichen auf Widerstand gestossen ist, die (in den westlichen Medien weitgehend verschwiegenen) spontanen Revolten als Reaktion auf die Ausrufung des Ausnahmezustandes brachen in den Knästen, den proletarischen Vororten und Slums (vor allem in Afrika, aber auch z.B. in Europa in den französischen Banlieues) und z.B. auf dem indischen Subkontinent unter den Wanderarbeitern aus, die verzweifelt versuchten, in ihre Heimatdörfer zu gelangen, weil sie nur so eine Überlebensperspektive für sich sahen.

Der soziale Gehalt des Ausnahmezustandes, der innewohnende existenzielle Angriff wurde zuerst von breiten Teilen der Klasse negiert, bzw. gelang es diesen Klassenwiderspruch durch die medial gesteuerte Angst zu manipulieren. Die in vielen Ländern von unten organisierten Maßnahmen zeigten (auch), dass es möglich war, die gesundheitliche Gefahr durch das Coronavirus realistisch einzuschätzen und Schutzmaßnahmen zu entwickeln, die den wirklichen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Dies war nicht nur in den ärmeren Ländern der Fall, auch in vielen Krankenhäusern in Italien, Frankreich, Spanien und den USA waren vor allem die Pfleger*innen in vielen Bereichen in der Anfangsphase der Pandemie auf sich selbst zurückgeworfen, mussten unter improvisierten Bedingungen versuchen, sich selbst zu schützen und trotzdem eine Versorgung ihrer Patient*innen zu gewährleisten. Diese Prozesse der Selbstorganisierung, die (auch ansatzweise und zu wenig) den gegenseitigen Austausch beinhalteten, kommen nicht ohne Grund in den vorherrschenden Erzählungen über die Pandemie nicht vor. Dass auch die Linken (wiederum von wenigen Ausnahmen abgesehen) sich ausschließlich auf die staatliche Pandemiepolitik beziehen, auch in ihrer später verhalten geäußerten Kritiken zu einzelnen Aspekten der Maßnahmenpolitik, macht sie auch an diesem Punkt zu einem Teil des Machtblockes, der uns feindlich gegenüber steht.

Alles, was noch auf uns am Horizont wartet, all die Schrecken und Katastrophen, schreien geradezu danach, die Erfahrungen der Selbstorganisierung die wir in dieser Pandemie gemacht haben, zu sammeln und auszuwerten, sie sind unser Rüstzeug für das was noch auf uns zukommt. Wenn dies nicht geleistet wird, sind wir dem Staat und seiner Allmacht ausgeliefert. Wir wissen das aus allen Revolten, Aufständen und Umstürzen. Es geht nicht nur um die “Frontlinie”, jeder Erfolg, der dort erzielt wird, ist nichts wert, wenn wir keine aufständische Infrastruktur aufbauen, und selbstverständlich betrifft das auch den medizinischen Bereich. Das meine ich auch, wenn ich von dem Horizont der Konfliktualität spreche, die Revolte ist kein Spielplatz, sondern der Ort, der Grundlagen schafft, um einen aufständischen Prozeß wagen zu können. Entweder wir schaffen uns eine Analyse der realen Situation oder wir werden untergehen.

Sieben: Wir werden uns von vielen alten Ballast trennen müssen. Vor allem ideologischen. Die Art und Weise wie die Totalität des Faschismus begriffen und beschrieben wird, stammt aus historischen Prozessen, die teilweise schon ein Jahrhundert alt sind und der Form der Totalität, die wir heute vorfinden, nicht mal ansatzweise gerecht werden. Wer diese Totalität, die auf die Subjektivitäten selbst abzielt, nicht begreift, leugnet oder relativiert, stellt sich gegen die notwendigen Schritte im aufständischen Prozeß. Wie Agamben richtigerweise anmerkte (1) : Dass es sich bei den in den selbst ernannten kommunistischen Ländern errichteten Regimen um eine bestimmte Form des Kapitalismus handelte, die sich besonders für wirtschaftlich rückständige Länder eignete und daher als Staatskapitalismus zu bezeichnen ist, war denjenigen, die die Geschichte zu lesen verstehen, durchaus bekannt; völlig unerwartet war jedoch, dass diese Form des Kapitalismus, die ihre Aufgabe erfüllt zu haben schien und daher obsolet schien, stattdessen nun dazu bestimmt war, in einer technologisch aktualisierten Konfiguration das dominierende Prinzip in der gegenwärtigen Phase des globalisierten Kapitalismus zu werden.” Und weiter: “Sicher ist jedoch, dass das neue Regime den unmenschlichsten Aspekt des Kapitalismus mit dem grausamsten Aspekt des Staatskommunismus verbinden wird, indem es die extreme Entfremdung der Beziehungen zwischen den Menschen mit einer noch nie dagewesenen sozialen Kontrolle kombiniert.”

Die geschichtliche Zukunft ist ungeschrieben. Immer. Es wird jedoch in der Zuspitzung der diversen Katastrophen zu einem dauerhaften (inter)staatlichen Notstandsregime kommen müssen, um die verschiedensten für das Weiterfunktionieren des Systems überlebensnotwendigen Prozesse steuern zu können. In welcher Art und Weise dieses Notstandsregime “erzählt” wird, ist die einzige Frage, die noch offen ist. Seit längerer Zeit schon geistert die Erzählung vom “new green deal” durch die Welt, dieser wird jedoch ausschließlich aus der Perspektive und den Interessen der Privilegierten gesteuert und realisiert werden. Niemand muss sich Illusionen hingeben, wer in einer Welt der abschmelzenden Polarkappen als erstes geopfert werden wird, um “im Namen der Menschheit” “den Planeten zu retten”. Sich von diesen barbarischen Akten einen Begriff zu erarbeiten, sie analytisch zu antizipieren, ist unabdingbar. Nichts wäre fahrlässiger, als diesen Prozeß zu unterschätzen.

Acht: Wir müssen alles neu aufbauen im aufständischen Prozess. Das hat das Unsichtbare Komitee 2007 festgestellt. Ich finde, es ist in dieser Hinsicht schon unglaublich viel geschehen. Was fehlt, ist eine veränderte Sichtweise auf die zahllosen Aufstände und ihren Erfahrungen. Der Aufstand in Nahost und Afrika, der im Westen immer unzutreffenden als “arabischer Frühling” bezeichnet wird (“arabisch” spart die Teilnahme diverser Ethnien ebenso aus wie die Tatsache, dass die Aufstände sich bis ins Herz von Afrika ausbreiteten), hat gezeigt, wie fragil eine ganze Staatenkette innerhalb weniger Monate werden kann. Der Aufstand zielte nie auf die Übernahme des Staates, wo dies geschah, wie z.B. in Ägypten durch die Muslimbrüder, war dies nur vorübergehender Natur, oder führten dieses Versuche in langjährige Bürgerkriege wie in Syrien oder Jemen. Die wirkliche aufständische Transformation fand jedoch in den Gesellschaften statt, so wird es auch von den Protagonist*innen begriffen (2), nur die westliche linke Rezension der dortigen Aufstände ist nicht in der Lage, den qualitativen Sprung zu realisieren, den diese Erhebung für die Region bedeutet hat. Gefangen in den Gedankenwelten des Sturms auf das Winterpalais kann die westliche Linke nicht Teil des Aufstandes werden, weil sie überhaupt nicht begreifen kann, was der Wesensgehalt der gegenwärtigen Aufstände ist. Oder sie nur daran interessiert ist, diese ideologisch zu kolonialisieren und somit zu neutralisieren.

Neun: Wenn wir also davon ausgehen, dass die Zeit der Aufstände schon länger begonnen hat, der Prozeß des Umsturzes schon viel weiter gediehen ist, als es uns vorherrschende Erzählungen glauben machen wollen, stellen sich sämtliche Fragen in anderer Form. Oder zugespitzt: Die Erzählungen, dass es anders wäre, sind Erzählungen, die sich gegen die aufständische Dynamik stellen, weil sie diese verleugnen.

Zehn: Was es in dieser Phase des aufständischen Prozesses dringend braucht, ist die Intensivierung des Austausches unter den aufständischen Fraktionen. Die Frage der Informationen, die Möglichkeiten, diese zu übermitteln, oder zu unterdrücken, zu manipulieren, ist derzeit vielleicht die wichtigste strategische Frage. An ihr entscheidet sich ob der aufständische Prozess stagniert oder nicht. Was die Kontrolle von Informationen, die Macht, diese zirkulieren zu lassen, oder eben ihre Zirkulation zu unterbinden, für eine Bedeutung hat, hat sich im Pandemie Ausnahmezustand überdeutlich gezeigt. Für das herrschende System war dieser Pandemie Ausnahmezustand eben auch ein Manöver im kybernetischen Bürgerkrieg, nun gilt es sich ebenfalls die Mittel anzueignen, Macht über die Zirkulation von Informationen zu erlangen. An diesem Frontabschnitt entscheidet sich alles. Wenn die aufständischen Fraktionen nicht über copy and past von Taktiken und Memes hinausgelangen, gerät der aufständische Prozeß in eine Stagnation, Verzweiflung und Mutlosigkeit werden sich verbreiten, es wird unnötige Niederlagen, oder als Niederlagen erlebte Aufstände geben, die Menschen davon abhalten werden, sich den Aufständischen anzuschließen. Dies gilt es zu verhindern. Es fehlt in diesen Tagen nicht an Revolten und Aufständen, ein Blick in die bürgerlichen Tageszeitungen reicht, um sich davon zu überzeugen. Was fehlt, ist eine gemeinsame Vorstellung davon, wie “der Himmel zu erstürmen sei”. Der in unseren wildesten Nächten schon so greifbar nahe aufscheint. “Le Monde ou rien” heiß es vor einigen Jahren in Frankreich, ich glaube, es geht noch darüber hinaus.

Teil 3 : Anmerkungen 11-15 folgt

Fußnoten des deutschsprachigen Lektorats

  1. Capitalismo comunista” von Giorgio Agemben erschien im Dezember 2020, deutsch übersetzt auf Sunzi Bingfa: “Der kommunistische Kapitalismus” https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2020/12/28/der-kommunistische-kapitalismus/
  2. Rethinking the concept of revolution through the Syrian experience” von Charlotte Al-Khalili, auf deutsch: “Das Konzept der Revolution durch die syrische Erfahrung überdenken”, erschienen in Sunzi Bingfa #24
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