POST COVID RIOT PRIME MANIFEST – ROTER OKTOBER [PART II]

Part I findet sich hier, das ursprüngliche POST COVID RIOT PRIME MANIFEST hier, POST COVID RIOT PRIME MANIFEST – NEXT LEVEL hier.

Sechsundvierzig: Der gegenwärtige gesellschaftliche Aggregatzustand ist der der Gefangenschaft, genauer gesagt, und in Weiterentwicklung der allgegenwärtigen Knastgesellschaft von denen schon die schwarzen Brüder und Schwestern der Black Panther in den 70ern sprachen, der einer Gefangenschaft in Geiselhaft. Die Gefangenschaft verpflichtet zu nichts, entweder sie wird akzeptiert oder wird mit individueller oder kollektiver Revolte und dem Bemühen, dem Knast zu entkommen, beantwortet. Dies setzt voraus, dass Freiheit überhaupt noch denkbar ist im Gegenwärtigen, Orte kennt an denen das freie Atmen überhaupt noch möglich ist. Die Geiselhaft, die sich über den Planeten mit dem Corona Ausnahmezustand bis in die letzten indigenen Gebiete ausgebreitet hat, erwartet ständige Gegenleistung um überhaupt am “nackten Überleben” (Agamben) partizipieren zu können.

Jede grundsätzliche Kritik wird nun als Verleugnung der EINZIGEN Realität gebrandmarkt, die Kritiker als nichts mehr zur Gesellschaft zugehörig von dieser ausgeschlossen oder in ihrem Geisteszustand pathologisiert. Alles, was als Counterinsurgency in den 70er und 80er gegen den bewaffneten Antagonismus praktiziert wurde, ist nun gesamtgesellschaftlich generalisiert worden. Mit dem Corona Ausnahmezustand wurden die “systemrelevanten Sektoren” noch einmal in aller Schärfe definiert, die unter allen Umständen am Laufen gehalten werden müssen. Jeder und Jede ist dazu verpflichtet seinen, bzw. ihren Beitrag, zu leisten, notfalls dienstverpflichtet, dazu gibt es nun entsprechende Regelungen z.B. für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Und nun, da der Ausnahmezustand der Pandemie fließend in den des Krieges, der im Kern ein Krieg um die Energieressourcen ist, übergegangen ist, trifft die Dienstverpflichtung die streikenden Arbeiter in den Eröl- und Erdgasraffinerien- und Depots in Frankreich, denen Bullen nach Hause geschickt werden, um sie zur Arbeit zu schleppen. Die Lohnarbeit ist nicht mehr nur ein Ausbeutungsverhältnis, sondern das eines Leibeigenenverhältnises, ergo das einer Geisel, die sich ständigen neuen Erpressungen ausgesetzt sieht, die nie enden, egal, wieviel an eigenem Leben als Tauschwert angeboten wird.

Dass nun die Anti-Terroreinheiten in Frankreich gegen die von den Raffinerien sich ausweitende Streikwelle eingesetzt werden sollen, um die “systemrelevanten Sektoren” am Laufen zu halten, ist nur die konsequente Logik des Empire im Endgame, in dem jeder Dissens in seiner Zulässigkeit von den staatlichen Staaten gelabelt wird: zulässig oder als gegen die herrschende Ordnung gerichtet, was im Kriegszustand in dem wir uns befinden, als terroristischer Akt behandelt werden muss.

Siebenundvierzig: Die Macht endet dort, wo sich der Mensch weigert, sich mit seinem Geiselnehmer zu identifizieren, sich seinem vermeintlichen Schutz zu unterwerfen, kurz gesagt, sie endet dort, wo die regressive Neurose endet. Frantz Fanon musste, um als Psychiater seine Patienten wirklich verstehen zu können, sich dem algerischen Aufstand anschließen, er konnte ihr Leid nur lindern, indem er zum Revolutionär wurde. “Wenn die Psychiatrie eine medizinische Technik darstellt mit dem Ziel, Menschen zu ermöglichen, ihre Entfremdung von ihrer Umgebung zu überwinden, bin ich mir die Feststellung schuldig, dass der Araber, der in seinem eigenen Land beständig entfremdet ist, in einem Zustand absoluter Entpersonalisierung lebt.”

Die Dekolonialisierung des Bewusstseins, ich bin schon darauf eingegangen, ist die dringlichste Aufgabe der revolutionären Kräfte jetzt. Die Linke hat sich in ihrer historischen Niederlage, dem “Ende der Geschichte”, so sehr eingegraben, dass sie sich nur noch als moralisches Korrektiv des Bestehenden definieren kann, sie somit selber Teil des Bestehenden geworden ist (wenn man von den traurigen Gestalten absieht, die sich weigern, die letzten 25 Jahre zur Kenntnis zu nehmen und deshalb mit ihrem untauglichen analytischen Werkzeugen des letzten Jahrhunderts die aktuellen Konfliktualitäten bearbeiten). Genau deshalb gab und gibt es keine materialistischen Analysen des Pandemie Ausnahmezustandes und des Krieges, der gerade in Europa tobt. Nur moraltriefende Ausgrenzungen und scheinbare Frontverläufe des Klassenkampfes, die Irrlichter im grauen Nebel sind, der sich wie Eiskristalle auf die nackte Haut unserer Seele brennt. Den Nebel zu lichten heißt, den revolutionären Horizont sichtbar zu machen, der real da ist. Viele der Aufstände der letzten Jahre im Trikont haben genau das begriffen, wenn sie gegen jede Fremdzuschreibung darauf beharren, dass sie eine revolutionäre Erhebung repräsentieren.

“Die politische Moderne wird oft im Licht der Französischen Revolution gedacht. Tonnen von Büchern und Tausende von Analysen wurden geschrieben, um sie zu glorifizieren, sie zu beschmutzen oder zu versuchen, unsere Gegenwart mit ihr zu denken. Dazu gehört auch der Versuch, sie zusammen mit der Revolution in Haiti zu denken, der ersten Revolution der schwarzen Sklaven, die nur zwei Jahre später, 1791, ausbrach. Die Revolutionäre in Haiti nahmen die Slogans der Revolution in Frankreich für Freiheit und Gleichheit wörtlich. Sie geben einer ‘zweiten Geste’ Gestalt, die die erste Geste radikalisiert und retrospektiv auf sie einwirkt. Der universelle Charakter der Französischen Revolution gehört nicht der Französischen Revolution, sondern denjenigen, die den Staffelstab übernehmen, damit die Worte Freiheit und Gleichheit nicht nur Worte sind, geschweige denn Instrumente der Unterwerfung. Es sind die Revolutionäre in Haiti, die ‘überprüfen’, dass das, was geschehen ist, nicht nichts war, sondern zu etwas anderem führen kann. Es geht also nicht um die Magie und das Genie einer Eröffnungsgeste, sondern um die Art und Weise, wie eine emanzipatorische Geste eine andere Geste ablöst. Indem sie diese verifiziert und ihre Wahrheit zu einem Werden macht.” (1)

Geschichte schreiben zu wollen heißt auch Geschichte neu denken und aufschreiben zu wollen, heißt den ganzen ideologischen Ballast loszuwerden, der dem modernen Leibeigenen wie eine Fußfessel angelegt ist, heisst die rote Zone wieder erstürmen zu wollen und nicht selber zum konzeptionellen Architekt der modernen Knastgesellschaft zu werden, zum Strategen der roten, gelben und grünen Zonen. Heisst den realen Frontverlauf in der Klassenauseinandersetzung zu markieren, heisst sich die notwendigen analytischen Mittel, die dazu nötig sind, anzueignen. Heisst sich der Familie der Milieus zu entsagen, die jetzt wieder mit ihren lahmen Kampagnen und leeren Phrasen ankommen. Nicht zuzulassen, dass die leeren Augen wieder unsere Seelen mit ihren Alpträumen beschweren. Heisst sich die Orte zu erkämpfen, an denen wir wieder überhaupt atmen können. Sonst werden wir einfach ersticken. Ersticken an all den Lügen, an all den falschen Zeugnissen. Ersticken an all dem verbalen Müll, mit dem sie versuchen unser Bewusstsein in kolonialer Abhängigkeit zu halten, an den Ängsten, mit denen sie uns manipulieren, ersticken an unserer Ohnmacht, an dem Gefühl, nichts ausrichten zu können.

Achtundvierzig: Die menschlichen Seelen sind die postmodernen Kolonien, die Kobaltlager mit der sich das Empire in den Transhumanismus hinüber retten will. Dies ist seine einzige Perspektive. Unsere Perspektiven sind vielfältig. Die Erde, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben, angesichts dessen in Defätismus zu verfallen, ist genauso gefährlich wie die appellative Ohnmacht, die um sich greift. Im Kern schafft die reale Situation eine geschichtliche Freiheit, die in der Moderne einmalig ist. Wir haben nichts mehr zu verteidigen, nur noch alles zu gewinnen. Es gibt keine utopischen Bilderwelten, die uns begrenzen. “Wir werden siegen, weil wir tiefgründiger sind”, schrieben die Autoren des Konspiratorischen Manifests. Tiefgründiger, nicht nachhaltiger. Wir entwerfen keine gesellschaftlichen Blaupausen, die immer notgedrungen Kopien des Gegenwärtigen sind. Das Denken kann sich von allen Fesseln befreien. Irgendeine Form von Erde wird bleiben, die Macht des Menschen, seine Hybris, ist begrenzter, als er es sich ausmalt. Die Trauer um die Verluste sind Teil davon, nun wir selber sein zu können. Die Trauer ist nicht nur dem Menschen eigen, aber sie gehört wohl zu seinen edelsten Eigenschaften. Sie markiert sein Wissen um seine Endlichkeit genauso wie seine sozialen Bindungen, ohne die er nichts ist. Wir haben eine ganze Welt zu betrauern und wie an jeden Anfang eines Trauerprozesses steht am Anfang der Trauer um die Welt ein Abgrund an Schmerz und Verzweiflung. Das trennt uns von unseren Todfeinden, deren destruktives Verwertungssystem keinen Verlusterfahrungen kennt, keine echte Tränen, nur synthetische Gefühlswelten, seelische Krücken. Deshalb wurden unsere Toten im Pandemie Ausnahmezustand einfach verscharrt, jede Ansammlung als Trauergemeinschaft verboten. Deshalb schlucken immer mehr Menschen Psychopharmaka, ein Drittel aller Amerikaner klagt mittlerweile über Symptome einer klinischen Depression oder chronischen Angsterkrankung. Während der Lockdowns stieg der Umsatz von Antidepressiva um 50%, das gängige Medikament Zoloft wurde knapp, weil die Hersteller in Asien nicht mehr mit der Produktion nachkamen. “Die Seele brennt und im Herzen Eiszeit” fand man auf die Mauern Zürichs während der Jugendrevolte der 80er an die Häuserwände gesprüht. Die Menschen können nicht mehr, sie wollen nicht mehr. Wir leben in revolutionären Zeiten.

“Nachdem die Revolte endgültig der Vergangenheit angehört, fällt es mir schwer, etwas Sinnvolles zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen, wenn Normalität und Stabilität wieder die Oberhand gewinnen, sehe ich ehrlich gesagt keinen Sinn darin, irgendetwas zu tun, und selbst die banale Tätigkeit des Lebens kann sich als ziemlich zäh erweisen. Darüber hinaus würde ich wetten, dass jeder von uns mit diesem Zustand vertraut ist, in dem diese Anstrengung von einem gewissen Maß an Leid begleitet wird, das von leichtem Unbehagen bis hin zu schwersten Qualen reicht” (2)

Ja, wir waten durch ein Meer aus Tränen. Aber wir sollten verstehen, dass dies unvermeidlich ist. Und jeder Trauer wohnt Trost inne, wenn es uns gelingt, uns in echter Beziehung zu anderen Menschen zu setzen. Der Schmerz zwingt uns zu einer Entscheidung. Entweder verleugnen wir ihn und damit uns selbst, oder wir bekennen uns zu unserer Fragilität. Und in dieser Fragilität begegnen wir uns. Schaffen wir die Bindungen, die wir benötigen, um unsere Vereinzelung, unsere Hoffnungslosigkeit zu überwinden. Liebe – Hoffnung- Krawall.

Neunundvierzig: “Sich finden, organisieren, Aufstand”, schrieb schon 2008 das Unsichtbare Komitee in “Der kommende Aufstand”. Nichts hat sich daran geändert. Jedenfalls hierzulande. In anderen Teilen der Welt sind die Menschen schon weiter. Hier irren wir weiter orientierungslos durch unser Leben und unsere Praxis. Es wird hier keinen heißen Herbst geben. Höchstens von rechter Seite. Die Großdemo der AfD in Berlin mit 10.000 Leuten hat davon einen Vorgeschmack vermittelt. Der antifaschistische Irrtum, der ein überlebensnotwendiger Impuls Anfang der 90er war, ist in der Sackgasse gelandet, in die er gehört. Ohne eigene sozialrevolutionäre Praxis, ohne realen Kontakt zum zu großen Teilen migrantischen Surplus Proletariat, ohne analytische Werkzeuge,… sind wir verloren. Es muss dringendst eine gemeinschaftliche Debatte unter den dissidenten Splittern angeschoben werden, die auch auf eine konkrete Organisierung und Praxis zielt. Es muss endlich begriffen werden, dass diesem Prozeß partikulare Interessen unterzuordnen sind. Die Situation ist zu zugespitzt, um sich den Luxus des Vor-sich-hin-Wurschtelns weiter leisten zu können. Die Verfassungsschutzbehörden haben das schon begriffen, gehen von der realen Gefahr der Erosion ihrer Ordnung aus, allerdings nicht durch die Wühlarbeit linker Maulwürfe. Die Macht verliert immer mehr an Zustimmung, das Corona Maßnahmen Korsett wird immer breiter abgelehnt, die politischen Parteien stehen als das da was sind sind, Sachverwalter des täglichen Elends, während die Inflation galoppiert und die Notenbanken nicht in der Lage sind, die Sache in den Griff zu bekommen. Failed State ist nicht mehr die Lagebeschreibung ferner Regionen wie Somalia, Libanon oder Haiti, sondern eine Realität, die sich vor aller Augen in einem der reichsten Länder der Welt manifestiert. Wir stehen vor historischen Veränderungen, entweder wir organisieren uns und sind in der Lage innerhalb der fragilen Verhältnisse zu intervenieren, oder wir werden ohnmächtige Zuschauer bleiben.

Fünfzig: “Zunächst jedoch sehen wir hier den ersten Fortschritt, den der Geist der Revolte auf das Denken ausübt, das anfänglich von der Absurdität und der scheinbaren Sterilität der Welt durchdrungen ist. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend, wird ihm bewusst, kollektiver Natur zu sein; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, dass er die Befremdung mit allen Menschen teilt und dass die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest.” So schreibt Albert Camus in “Der Mensch in der Revolte”. Angesichts der Welt, die es nicht mehr so geben wird, wie wir sie kennen, angesichts dieses unermesslichen Verlustes, angesichts des alles überwältigenden Schmerzes, der mit dieser Erkenntnis einhergeht, stellt sich die Frage aller Frage, die den Menschen von Beginn an umtreibt, noch einmal in einer ganz anderen Dimension. Wie angesichts all dessen noch sich selbst, dem Leben, einen Sinn geben? Sicherlich gelingt dies in der allgemeinen Atomisierung, in den Scheinrealitäten der Blasen, in den ersehnten safer spaces nicht einmal ansatzweise. Es gelingt vielleicht da, wo wir uns gemeinsam dem Todeskult, der alles mit sich reißt, entgegenstellen. Dass heisst, zu der Unvermeidlichkeit, sich zu organisieren, um überhaupt revoltieren zu können, kommt die Unvermeidlichkeit, zu revoltieren, um überhaupt unserem Leben angesichts der Absurdität, die grundsätzlicher als angesichts des Abschieds von der Welt wie wir sie kennen, nicht sein könnte, trotzdem einen Sinn abtrotzen. Unter Tränen werden wir um diese Erkenntnisse nicht umhin kommen. Aber vielleicht werden wir irgendwann begreifen, dass manche Dinge unvermeidlich waren, damit wir die werden, die wir in unseren Träumen immer sein wollten.

to be continued…  

Fußnoten

(1) DÉCOLONISER LES IMAGINAIRES DE LA RÉVOLTE von Rakia Mako in Lundi Matin #352 https://lundi.am/Decoloniser-les-imaginaires-de-la-revolte , auf deutsch “Die Vorstellungswelten der Revolte dekolonialisieren” in Sunzi Bingfa #41

(2) Idris Robinson: Postskriptum: Über den Schmerz https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2022/06/26/postskriptum-ueber-den-schmerz/#more-2402

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