Salò oder die 120 Tage von Sodom

Er stand an der Schnittstelle »der drei großen Protestbewegungen gegen die Macht des Staates: der politischen, der sexuellen und der mystischen«, zitiert Klaus Theweleit in »Deutschlandfilme« Maria-Antonietta Macciocchi aus 1978, um danach selbst so fortzufahren: »Bis Mitte der siebziger Jahre waren die Hoffnungen, die Pasolini in die drei Protestlinien gesetzt hatte, zerronnen«.[1]

Salò oder die 120 Tage von Sodom

Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, habe ich mich öfters abgewandt. Die koprophagischen Szenen haben auch bei mir die kulturell gesetzten Ekelschwellen überschritten und das ansonsten übliche Einlassen auf einen Film torpediert. Der Regisseur war tot kurze Zeit nach den letzten Dreharbeiten und dem fast vollendeten Schnitt, geradezu grauenhaft ermordet. Man konnte ihn nicht mehr zum fertiggestellten Film befragen. Aber man kann ihm unterstellen, dass die Wirkung der Sequenzen wie auch des ganzen Filmes intendiert war. Der Film sollte etwas Unzumutbares evozieren: er sollte nicht konsumierbar sein. Er sollte dem Konsumenten den Spaß verderben, den er sich sonst mit dem Kauf der Kinokarte zu verschaffen erhofft. Die Konsumenten sollten das Kino verlassen nicht mit der Genugtuung, irgendein Äquivalent für ihr Geld bekommen zu haben, das ihnen je nach Film angemessen erscheint oder nicht; nein. Sie sollten mit etwas unverdautem nach Hause gehen, mit einer Zumutung, die ihnen angetan wurde und sie auch verstören sollte. Ein Film als Gewalttat gegen den konsumistischen Tod.

In der Betrachtung Pasolinis nach diesem, seinem letzten Film und nach seinem Tod taucht öfters auf: Saló oder die 120 Tage von Sodom hätte erklärtermaßen sein letzter Film sein sollen. Das kann sein oder auch nicht. Schwer vorstellbar wäre, dass Pasolini mit seinem Schaffenswerk aufgehört und sich ins Schweigen zurückgezogen hätte.

Was einfacher beantwortbar ist, ist die Frage, was zu diesem Film geführt hat, zu diesem bebilderten Knüppelschlag gegen den Konsumenten, dem seine Welt in einem Spiegel vorgeführt wird, der das Normale seiner Zeit in der extremen Darstellung kenntlich macht, die Spiegelung eines Lebens, in der er im wahrsten Sinn des Wortes sich mit dem Kot der Geldproduktion abfüttern lässt als Ersatznahrung für ein zu findendes Leben, zu dem jeder mit seiner Geburt aufgerufen ist, um das aber jeder im Sinne einer falschen sozialen Akkumulation, die man die Konsumwelt des Kapitalismus nennen kann mit ihren ganzen obszönen Grundbedingungen aus Vernutzung, Konditionierung, Lebenskontrolle und Entfremdung,  betrogen werden soll.

Mich beschäftigt seit langer Zeit die Frage der »anthropologischen Mutation«, eine begriffliche Verdichtung, die ich später erstmals bei Pasolini gefunden habe, die mich aber inhaltlich trotzdem mein Leben lang begleitet hat. Bei einigen meiner Generation trat der Inhalt in einer anderen Form auf, deren Erfahrung aber aus der gleichen Zeit stammt: die Folgen der Modernisierung des Nachkriegskapitalismus von seinem 8-Stunden-Tag hin zum 24 Stundentag des Kapitals. Ich will Sie hier nicht langweilen mit tieferen ökonomischen Grundtatbeständen. Aber 1945 und folgend hatte der Nachkriegskapitalismus – da eine ungeheure Zerstörung der europäischen Welt aufgehoben werden musste – eine 20jährige prosperierende Zeit vor sich, die keine zyklischen Krisen kannte und in der es im »Aufbau«, auch »Restaurationsphase des Kapitalismus« genannt, immer nur aufwärtszugehen schien. Das waren die Zeiten des sogenannten »Wirtschaftswunders«, ein simples ideologisches Konstrukt, mit der die Wahrheit des Kapitalismus, der vorher im Konkurrenz- und Ressourcenkampf gerade erst zur Zerstörung von Gesellschaften geführt hatte mit ungeheuren materiellen Folgen, für die Gläubigen des Fortschritts als Überlegenheitsmoment des Westens propagiert wurde gegen die damals noch existierende erste Form eines Sozialismus, der noch einer aufzubauenden Staatlichkeit unterworfen war. Etwa 1967, eigentlich beginnend schon ab 1965, ist die Zeitspanne abgelaufen, in der die Restauration der bürgerlichen Gesellschaft nach ihrer Selbstauflösung im Pakt mit dem Faschismus (also den beginnenden 30er Jahre bis hin dann 1945) alle immanenten Widersprüche nach hinten geschoben hatte. Die ersten manifesten Verwertungskrisen des Kapitals traten auf. Es musste eine Ausdehnung des Verwertungsbereiches für die permanente Geldproduktion gefunden werden und historisch ist das etwa die Zeit, in der zunehmend vormals als privat geltende Lebensbereiche durchkapitalisiert wurden. Das fressende Bedürfnis des Kapitals nach Zugriff auf weitere Lebensbereiche in der Gesellschaft jenseits der Fabrik und der Agrarproduktion wurde größer. Alles wurde neu durchorganisiert und neu getaktet. Arbeitsemigranten wurden in Massen herbeigeholt, weil das einheimische Personal nicht mehr ausreichend war und sie billiger entlohnt werden konnten. Die Frauen wurden in das Arbeitsleben hineingezogen und damit in die Normalität von Produktion und Handel. Aus den Universitäten wurden Funktionsorte für die Erfordernisse von Industrie und Handel. Bildung ist inzwischen eine flexible Ware. Die sog. »sexuelle Freiheit« wurde als systemstabilisierend erkannt und als Verwertungsbereich aus der Schmuddelecke der Gesellschaft herausgezogen hinein in einen profitablen Massenbereich. Inzwischen gibt es, wenn Sie sich z.B. das Fernsehen (am übelsten das Privat-TV) oder die Online-Medien anschauen, nichts mehr, was nicht mehr der permanenten Einhämmerung des Zwangs zum Konsum unterworfen ist. Sie können kaum noch einen Film ansehen oder eine Nachricht lesen, ohne unterbrochen zu werden mit Videoclips und sich anbiedernden Werbemüll. Der Bericht über eine Katastrophe oder ein Verbrechen wird unterbrochen mit der Werbung für eine Sonnencreme. Jeder Adressat von Nachrichten oder Werbung ist darin heute gleichermaßen verachtet. Alles Authentische scheint verloren und ist zum Beiwerk einer Welt des Verkaufs degradiert. John Carpenter hat das 1988 in seinem Science-Fiction Film »Sie leben« mit der Enthüllung der unsichtbaren Befehle »Arbeite«, Gehorche«, »Denke nicht«, »Konsumiere« als dominierende Subtexte hinter aller öffentlicher Kommunikation im Kapitalismus eindrucksvoll und wahrheitsnah aufgezeigt.

Dieser Prozess, den viele der sich damals Politisierenden als zunehmende Übernahme ihrer neuen Lebensformen durch das Kapital erfahren, am Anfang überhaupt erst intuitiv erspürt hatten, wurde mit Scheinfreiheiten umstellt. Plötzlich waren Lebensformen akzeptiert, deren Beanspruchung zuvor oftmals noch zum Polizeieinsatz führte. Viele Haltungen der vorher erstarrten Gesellschaft wurden aufgehoben, denken Sie nur an das Recht auf Abtreibung, Entkriminalisierung der Homosexualität, Durchlässigkeit des Bildungssystems auch für Arbeiterkinder, neue Schulformen und Kindererziehung und vieles andere mehr. Das ganze Gesellschaftssystem wurde umgebaut. Wenn ich von Scheinfreiheiten rede, dann nicht, weil ich die Dinge im Einzelnen entwerte. Endlich gibt es eine – wenigstens – formale Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft, endlich werden andere sexuelle Identitäten in ihrer Normalität anerkannt. Wenn ich von Scheinfreiheiten rede, dann deswegen, weil jeder dieser Erfolge mit einem höheren Grad an Anpassung in das ökonomische System bezahlt wurde. Das ist das Paradox: Die Erweiterung einer partikularen Freiheit wird vom System so organisiert, dass sie auf das ganze System stabilisierend und herrschaftssichernd wirkt unter Steigerung der Ausbeutungsrate. Das ist die Potenz des liberalen Kapitalismus, die er gerne gegen andere Wirtschaftsformen in Geltung bringt und von der aus er glaubte, sukzessive die ganze Welt erobern zu können. Dass das allerdings nur im Innern funktioniert und die Liberalität schnell ihre Grenzen findet, haben diverse Kriege in den letzten Jahrzehnten wie der Irak-Krieg 1, der Jugoslawienkrieg, der Irak-Krieg 2, die Zerstörung von Libyen und jüngst die Politik gezeigt, die zur Militarisierung des neuen Ost-West-Konfliktes in der Ukraine führte. Gleichwohl, wir reden hier von sozialen Zerstörungskraft des Kapitalismus nach innen: Das Kapital reproduziert sich nach seinen Sachzwängen und seinen Vertretern ist es in letzter Konsequenz egal, ob Sie Frau, Mann oder Diverse, ob Sie Afrikaner, Chinese, Europäer, ob sie schwarz, weiß oder gelb sind, ob sie sich zu jener sexuellen Gruppe zugehörig fühlen oder zu irgendeiner Lebensform. Natürlich bevorzugen die führenden Akteure innerhalb des bestehenden Herrschaftssystems Menschen, die das alles nicht wollen, die in nationalistischen Kategorien denken oder in den alten Kategorien der Geschlechterhierarchie oder in etwas anderem, mit der Gesellschaften gespaltet werden, da es die Herrschaft leichter macht. Aber in der letzten Instanz der ökonomisch grundierten Gesellschaft gilt nur ein Gesetz: das von Wachstum und Mehrwehrt, das von Arbeit und Konsum! Das ist das einzige Unverzichtbare für das System der Lebens- und Weltverwertung: dass die Menschen die Verwertung des eigenen Lebens für die Akkumulation des Kapitals akzeptieren. Der Preis dafür ist unendlich hoch: Jede/r bezahlt es mit dem grundsätzlichen Verlust über die Verfügung des eigenen Lebens. Dieser Akt vollzieht sich, indem die substanzielle Ausbeutung mit dem technologischen Fortschritt gesteigert und gesteigert und gesteigert wird. Wenn Sie dem nicht mehr entsprechen, sind Sie der Feind aus einer anderen Welt. Und, nebenbei bemerkt: Die Zukunftsforschung in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte angekündigt, dass zum Ende des Jahrhunderts die großen Probleme der Menschheit, die die materielle Versorgung ihres Lebens betreffen, gelöst seien durch den technologischen Fortschritt und die gesellschaftlich notwendige Arbeit des Individuums vielleicht noch 3 Stunden pro Tag betreffen. Heute stecken sie 24 Stunden in der Mühle, denn auch die Reproduktionszeit ist längst nicht mehr ihre und Teil der Produktions- und Konsumbestimmung des Lebens.

Das war der Hintergrund der aufbrechenden Revolte der sechziger Jahre, die, bei mir und anderen zu dem geführt hat, was man den Trennungsstrich ziehen nannte oder Die Machtfrage stellen oder einfach nur das Einnehmen einerantagonistischen Position.

Pasolini kam aus einer anderen Erfahrung heraus. Für Pasolini lag in den gesellschaftlichen Bereichen, die das Kapital bisher nur gestreift hatte, die noch einen großen Teil an eigenständiger Kultur besaßen, eine Kraft, eine Resilienz, von der er erwartete, dass sie den Angriffen des Kapitals standhält. Daher kam sein Vertrauen in die alten Kulturen und die Selbstsicherheiten der Unterschichten. Hier drängt sich eine Parallele auf zu dem Roman von Tomasi di Lampedusa, in dem der Fürst über die Sizilianer räsoniert und konstatiert, dass sie jahrtausendelang immer wieder eine neue Herrschaft nach der anderen erlitten hatten und trotzdem davon im Inneren stoisch unberührt blieben. Das scheint mir bis in die sechziger Jahre hinein, was Fabien Vitali zeitlich gewiss präziser verorten kann, eine Überzeugung von Pasolini gewesen zu sein: Die Armen in Indien (das er bereiste) oder Nordafrika (wo er Landschaften für seine Filme aussuchte) besitzen eine andere, eine eigene Art von Lebenskraft, auch eine eigene ursprüngliche Würde, die den Wert des Lebens kennt und von der grundsätzlichen Sehnsucht nach dem Gemeinschaftlichen bestimmt ist und der es immer wieder gelingt, sich in diesem Gemeinschaftlichen, sich im Kollektiven zu verorten und zu vereinheitlichen und – in gewisser Weise – sich darin als dem Tode geweihtes Individuum aufzulösen, aber auch zu bleiben. Diese Haltung, in der es noch eine Identität des Einzelnen mit dem allgemeinen Leben gab, das aus kollektiver Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestand, hat der Kapitalismus durchbrochen. Der dem Konsum unterworfene Mensch hat nur noch die Gegenwart, in der er abgetrennt von allen anderen zur arbeitenden und fressenden Monade verkommt. Das Authentische, ein Leben, das nicht von der gesellschaftlichen Zeichnung dominierend geprägt ist, ist verloren gegangen. Damit der Raum für die Entwicklung eines freien Subjektes.

Das, was wir in den sechziger Jahren als existenzielle Bedrohung auf uns haben zukommen sehen, die Übernahme unseres ganzen Lebens durch das Kapital mit unserer Anpassung für selbstreferenzielle Akkumulationszwecke, also Geld, das Geld produziert, Ware die in die Ware führen muss, erfuhr Pasolini als bittere Erkenntnis: dass die Borgate, die römischen Jugendlichen und die Unterschichten in der Welt, nicht gefeit sind gegen den mit Reizen ummäntelten Zwang des Kapitalismus, alle und alles in seine Verwertung hineinzuziehen und zwar so, dass diese dieses Leben als freie Entscheidung erfahren. Milo Rau fand Jahrzehnte später einmal die treffende Sentenz dazu: »Die zwischen oben und unten sind heute vereint. Und zwar im Traum vom luxuriösen Tod«. Diese Erfahrung für Pasolini war enorm, um nicht zu sagen: mit einem großen Schmerz versehen. Die Folgen kennen sie hier alle: eigene Filme, in denen er noch die sexuelle Freiheit hochgehalten hat (Erzählungen aus 1001 Nacht, Decamerone oder Canterbury Tales) hat er als Irrtum verworfen und in ihrer Aussage zurückgezogen. Und das mit geradezu brachialer Wut. In dem Zeitungsartikel »Vom Kommunismus zum Konsumismus«[2] widerrief er seine Erwartungen an das Subproletariat und bezeichnete seine Angehörigen als »doch bloß seichte Kriminelle«, die sie für ihn dann auf einmal »schon immer« gewesen seien. Allerdings dürfen wir hier nicht übersehen, dass für Pasolini die Verwerfung der durch das Kapital korrumpierten Lebensweise nicht gleichbedeutend ist mit der Auslöschung vorhergehender Lebenshaltungen. Was einmal real war in der Welt, ist für Pasolini – hier nahe bei Walter Benjamin – vielleicht nicht sichtbar, aber es bleibt in der Geschichte und kann sich im Augenblick des Ereignisses aus den angehäuften tektonischen Schichten überkommener zivilisatorischer Überlagerungen hervorbrechend befreien.

Ich erlaube mir, diese Erfahrung grundsätzlicher Zerstörung eines vom Menschen ausgehenden Eigenem – und damit in gewisser Weise Authentischen – als Hintergrund von Saló oder die 120 Tage von Sodom zu sehen. Für mich ist das kein Film (meine Kollegin Gabriella Angheleddu hat das schon angemerkt), der sich primär mit dem Faschismus der Zeit Mussolinis und Hitlers beschäftigt, obwohl die Verbindungen dazu auch erkennbar sind. Hier teile ich nicht die Interpretation von Klaus Theweleit, der in Zustimmung zu Filmkritikern, die den Film als »Anlauf auf die Darstellung von Greueln der deutschen Lager« sahen weiter ausführte: »[Der Film] ist damit die erste (und wahrscheinlich einzige) filmische Dokumentation aller KZ-Greuel, die deutsche KZ-Besatzungen, ihre Opfer quälend, und brüllend vor Lachen, in den Kriegsjahren verübt haben«.[3] Diese zweifelsohne mögliche Assoziationsverbindung ist nachvollziehbar, jedoch halte ich sie schon deswegen für fraglich, weil das Verhältnis der Nazis zu den Juden von einer antrainierten Abscheu geprägt war aus einem jahrhundertealtem virulentem Antisemitismus und einem die Kolonialisierungsabsichten fördernden Rassenkalküls. Es entsprang eben nicht einem Lustempfinden, dem es um schiere Auslebung von Herrschaft ging, ohne Suche nach einer auch nur ansatzweise für die Akteure verbindlichen Legitimation, die zu irgendeiner Staatlichkeit hätte führen sollen. Das hat die Herren in Saló nicht nur nicht interessiert; ihre Macht bestand für sie darin, sich auch über diese Frage überhaupt hinwegzusetzen. Der Traum vom 1000jährigen Reich der Nazis dagegen entsprang nicht der Willkür des entgrenzten Lustempfindens, sondern auf der Makroebene einem unerfüllten Verlangen nach imperialer Herrlichkeit, die zu ihrer Realisierung zu jedem Verbrechen bereit war, letztlich aber auf Anerkennung einer superioren Rolle in der Welt abzielte. Ein als Traum gesetzter Alptraum aus dem Gefühl einer umgedrehten Minderwertigkeit.

Es geht in dem Film, den wir gleich sehen, Pasolini nicht primär um den alten Faschismus. Salò ist für Pasolini ein historischer und gleichzeitig ein allegorischer Ort der Macht, jeder Macht, die für Pasolini identisch ist mit Faschismus und Anarchismus, hier eingesetzt als die verschiedenen Seiten der gleichen Medaille der Regel- und Grenzenlosigkeit.

Es geht um Herrschaft, um Menschen als Objekte, um die Vertreter von Geldmacht, die mit dieser Macht alles in Gang setzen können, was ihnen beliebt. Und es geht um die Aussichtslosigkeit des Ausbrechens, das in den Opfern so internalisiert ist, als sei es ein Naturgesetz.

Das ist der doppeldeutige Grund, aus dem der Film sanktioniert und polizeilich verfolgt wurde, eben nicht nur in den postfaschistischen Gesellschaften. Die Elite der altnazistisch geprägte Mehrheitsgesellschaft in Deutschland hat sich in ihrer erfolgreichen gesellschaftlichen Verdrängung über ihre Beteiligung an der Nazi-Barbarei auch durch Pasolini ertappt gefühlt. Sie sah sich in der Gestalt der vier Herren kenntlich gemacht. Aus diesem Grund wurde die erste deutsche Fassung des Films[4] strikt zensiert mit Kürzungen von insgesamt 28 Minuten Länge [5]. So ist die Scheinhinrichtung des Opfers herausgenommen worden, dem der Bischof entgegenschleudert »Unheilbarer Idiot, wie konntest Du nur glauben, dass wir Dich umbringen. Hast Du noch immer nicht begriffen, dass wir 1000fach töten wollen, bis an die Grenzen der Ewigkeit, sofern die Ewigkeit Grenzen hat.« Auch die Hinrichtung des Ezios (und die der schwarzen Dienstmagd), der die Altnazis an ihre Partisanen-Hinrichtungen und die Normalität der Liquidierung erinnerte, wurde in der deutschen Version herausgenommen. Die Hundeszene ist nicht enthalten, das Auspeitschen des Opfers bis zur Bewusstlosigkeit, die Fütterung der Susi von mit Nägeln versehener Nahrung und vieles andere mehr wurde in Deutschland zensiert.
Aber die Tabuisierung des Films kam ja nicht nur von den ehemaligen oder nur leicht camouflierten Alt-Nazis und Faschisten in Deutschland und in Italien, sie kam auch aus Ländern, in denen der Faschismus nicht an der Macht war bzw. aus Ländern, die an der Niederschlagung des deutschen Faschismus beteiligt waren. Was hat sie dazu gebracht, den Film polizeilich verbieten zu lassen?

Pasolini zeichnet mit dem Film nicht nur Herrschaft in ihrer reinsten, radikalsten Form, Herrschaft demaskiert als grundsätzlich schrankenlos und als solche auch faschistisch. Er denunziert mit seinem Film die ganze westliche Moderne als Irrweg, auf dem das Individuum sukzessive als Subjekt ausgelöscht und Bestandteil einer in sich sinnlosen Maschinerie wird. Sein Verweis, dass der »Neue Faschismus«, den er als »Konsumfaschismus« bezeichnet, vernichtender ist als der alte Faschismus, entspringt der Erfahrung der Widerstandslosigkeit, mit der das Gros der Menschen sich wie freiwillig in das System permanenter Verwertung stürzt, weil es, geblendet von den Scheinfreiheiten und den Konsumversprechen den Akt der Enteignung des eigenen Willens, damit die des Subjektes verpasst und so sich in eine Lage manövriert, aus der es irgendwann kein Entkommen mehr zu geben scheint – außer im großen Knall des ökonomischen Zusammenbruchs der Welt und des Zusammenbruchs der Natur. Pasolinis Film ist hier nicht nur eine Denunziation von Herrschaft, sondern auch eine seines Gegenparts: der bekennenden Widerstandslosigkeit. Denn das ist das andere Merkmal dieses Filmes: Neben der Denunzierung von Herrschaft werden auch die denunziert, die im gleichen Gesellschaftsraum befangen bleiben. Es gibt nur eine Flucht im Film, die scheitert, indem der Flüchtende von hinten erschossen wird; es gibt ein Fluchtbemühen, das mit durchgeschnittener Kehle endet. In beiden wird damit die Unwahrscheinlichkeit eines Erfolgs mit diesem möglichen Weg aufzeigt; es gibt die erhobene Faust des Ezios, der Mut des Subjekts im Augenblick seiner Verlorenheit. Die Würde des Menschen, die darin aufsteigt, wird brachial niedergeschossen, weil dieses aufbegehrende Subjekt zu isoliert ist in einer Welt der Kollaborateure und Opfer, die ihn an die Macht verraten haben, die selbst über das Moment der Klage nicht hinauskommen und in der Klage nur die bestehenden Verhältnisse bestätigen, in denen sie sich bestenfalls bessere Herren (und Frauen) wünschen oder eine andere Stellung im Gefüge der Gesellschaft.

Pasolini setzt mit seinem Film Salò oder die 120 Tage von Sodom eine dystopische Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Der Film endet mit dem Foltertod der ausgewählten Opfer und mit den beiden Hilfswilligen, die in eine Normalität ohne Exzess zurückkehren, von der offen ist, ob sie nur das Präludium zum nächsten Exzess bildet. Diese Abweichung von der offenen Dystopie verweist jedoch auf keinen Ausweg; es gibt daraus nur die Fortschreibung eines Bestehenden, das herrschaftlich strukturiert bleib.

Ein Ausweg aus dieser Situation lässt für den denkenden Menschen nur zwei Möglichkeiten offen: die des Suizids oder die eines Aufbäumens gegen das gesamte Falsche. Insoweit ist der Film auch eine Realisierung der Adorno‘schen Sentenz: »Es gibt kein richtiges Leben im Falschen«.

Hier scheint mir die primäre Ursache dafür zu liegen, weshalb der Film unerträglich war für die Hüter der gesellschaftlichen Politik und der systemorientierten Kultur. Das für sie integrierende (und beruhigende) Moment des Mitmachens und des grundsätzlichen Mitlaufens fehlte. Zumal der Film in einer Zeit entstanden ist, in der die Möglichkeit der Revolte noch nicht verblasst war, in der es noch ein Wissen gab über die Existenz eines anderen Gesellschaftlichen.

An dieser Stelle können wir uns der Frage nähern, warum der Film heute in gewisser Weise sogar als Kultfilm bezeichnet werden kann. Er kann inzwischen gezeigt werden, keine Polizei schreitet mehr ein, kein Karl Korn als FAZ-Feuilleton-Chef, der selbst früher emphatisch den Film »Jud Süß« gefeiert hatte, echauffiert sich heute über die Gefahr der Verderbnis der Gesellschaft, die mit diesem Film beschleunigt werde. Der Film stößt den Konsumenten weiterhin ab, aber er hat seine prügelnde Wirkung verloren. Manchen Betrachter entlockt der Film heute vielleicht auch nur noch eine zynische Bewertung.

Aus meiner Sicht ist die Welt, die Pasolini dystopisch mit seinem Film an die Wand gemalt hat, Realität geworden. Die Welt des Konsums scheint sich allumfassend – in unserem westlichen Lebenskreis, über andere möchte ich nicht sprechen – durchgesetzt zu haben. Die Menschen hier bewegen sich auf dem, was so umfassend erlaubt wie umfassend verboten ist. Eine grundsätzliche Infragestellung dieser Welt taucht aus den systemkonformen Wünschen der Menschen nicht mehr auf, die nur noch die Form der Wünsche, jedoch keine eigene inhaltliche Gestaltung mehr kennen, jedenfalls: egal was sie wollen, sie bekommen eine Schablone. Wenn sie zu einer Grundsatzkritik der Verhältnisse kommen, dann nur, weil die Selbstzerstörung der Lebenswelt für die Menschen so weit vorangetrieben ist, dass sie nicht mehr verdrängt werden kann. Die Pandemie der letzten Jahre war so ein Ereignis, das aus dem Destruktionspotential der verökonomisierten Welt herausgesprungen ist. Die Rückwirkungen der Klima-Katastrophe erzwingt Blickwinkel, die es zwar schon seit Jahrzehnten gibt, die aber ignoriert wurden von Politik und Gesellschaft – und wir dürfen uns hier keinen Illusionen hingeben: Herr und Knecht bewegen sich im gleichen sinnlosen Raum – weil die ökonomische Interessenslage eine andere ist (und bleibt) und das singuläre Interesse an der Bereicherung über dem kollektiven Interesse des Schutzes der Menschheit steht. Die dystopische Welt Pasolinis ist eingetreten und gleichzeitig bunt geblieben und die Farbe wird allenfalls durch Katastrophen von außen abgewaschen, nicht durch die Kritik der Menschen an ihren eigenen Lebensverhältnissen. 400 Tsd. Menschen stampften und grölten im Glauben von bedeutsamer Bedürfnisbefriedigung vor knapp drei Wochen in Hamburg einen Tag und – in der Regel besoffen – noch eine Nacht lang beim »Schlagermove«, ein von außen betrachtet grauenhaft verblödeter Kontext nicht nur, weil er gerade einmal 1 ½ Flugstunden entfernt von der kriegerischen Vernichtung ganzer Städte und Landschaften im eigenen europäischen Kulturraum stattfand, sondern weil das dahinterstehende hedonistische Verlangen schon fast wie mit Gewalt die Umwälzungen in der Welt nicht zur Kenntnis nehmen will, die sich derzeit historischen vollziehen und nichts mehr beim Alten lassen werden. Dieses Verlangen pocht nur noch auf seinem scheinbaren Recht nach Dauerbefriedigung und ignoriert die unerträgliche Lebenssituation der Mehrheit der Menschen der Welt. Dieser Hedonismus ist nur noch zutiefst ekelhaft. Es stampft und brüllt ein Recht auf Verdrängung und Betäubung herbei und offenbart vielleicht, wie es im Inneren der Einzelnen aussieht, wenn sie allein der Macht ausgeliefert sind, die zu wählen sie glaub(t)en frei gewesen zu sein. Die anthropologische Mutation, die Pasolini vor 50 Jahre hat kommen sehen, scheint hier vollständig vollzogen. Das Außen, das grundsätzlich Andere ist nicht vorstellbar und deswegen verweist der Film zwar auf einen Zustand, aber nicht auf einen Ausweg und kann von den Hütern von Politik und Kultur ertragen werden. Das Wenige, was bleibt, ist die Hoffnung, dass die Veränderung der Welt eine weitere anthropologische Mutation erzwingen wird, die zu einem neuen Menschentyp führt, der sich von dieser dann zur Vergangenheit gewordenen Geschichte kopfschüttelnd abwendet und jenes Vorstadium der Menschheit überwindet, im dem wir uns offensichtlich weiterhin befinden. Aber auch Hoffnung muss man gestalten.

Vielen Dank.

[1] Klaus Theweleit: Deutschlandfilme, Filmdenken & Gewalt, Stroemfeld / Roter Stern, 2003, S. 144
[2] P.P. Pasolini, Lutherbriefe. Aufsätze, Kritiken, Polemiken, Wien/Bozen 1996, s.65-69, zitiert nach Klaus Theweleit, s. FN 1
[3] Klaus Theweleit: Deutschlandfilme, Filmdenken & Gewalt, Stroemfeld / Roter Stern, 2003, S. 172
[4] Salò oder die 120 Tage von Sodom, DVD, Euro-Video Medien GmbH, wahrscheinlich 2014
[5] Die Euro-Video-Version hat eine Laufzeit von 89 Minuten. Der unzensierte Film dagegen eine von 157 Minuten.

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