So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung (Karl Marx)

Auch in dieser Frage machte Marx keinerlei Zugeständnisse. Und es waren Deleuze/Guattari, die aufgrund vielfältiger historischer Erfahrungen, von denen Marx nichts wissen konnte, ins gleiche Horn bliesen und dessen Ansatz noch verschärften. Deleuze und Guattari verhöhnen geradezu die Demokratie, die den Vertrag, den Konsens und die Kommunikation und damit ständig Äquivalenz predigt (unter der Dominanz des Surplus) und sich zudem noch als ewig wiederkehrend ausweisen will. Deleuze/Guattari deklinieren die gesamte Bandbreite der Demokratien durch: In den Tausend Plateaus sprechen sie von militärischen Demokratien, sozialen Demokratien und sogar der totalitären-sozialdemokratischen Demokratie. In Was ist Philosophie? analysieren Deleuze und Guattari verschiedene Beispiele der Demokratie, die sich von der kolonialen Demokratie des Altertums bis hin zur Nazidemokratie erstrecken. Heute lässt sich eine weitere Variation feststellen, nämlich der Trend hin zu einer Business-Demokratie, das heißt, der Staat wird wie ein Unternehmen geführt, und zwar von Technokraten im Verbund mit den rein auf das Regierungshandeln bedachten Politikern. Man spricht jetzt vom Netzwerkstaat, in den flüssige Regierungsformen integriert sind. Das unsichtbare Komitee schreibt dazu: »Die Demokratie ist das Wesen aller Regierungsformen. Die Identität von Regierendem und Regiertem ist das äußerste Limit, an dem die Herde kollektiver Hirte wird und der Hirte in seiner Herde aufgeht, wo die Freiheit mit Gehorsam zusammenfällt und die Bevölkerung mit dem Souverän. Das gegenseitige Aufgehen von Regierendem und Regiertem ist Regierung im Reinzustand, die keinerlei Form noch Grenze mehr kennt. Nicht zufällig beginnt man nun, über die Liquid Democracy (Flüssige Demokratie) zu theoretisieren. Denn jede feste Form bildet ein Hindernis für die Ausübung der reinen Regierung. In der großen Bewegung allgemeiner Verflüssigung gibt es kein Widerlager, es gibt nur Abschnitte auf einer Asymptote. Je flüssiger, desto regierbarer; und je regierbarer, desto demokratischer. Der metropolitane Single ist natürlich demokratischer als ein verheiratetes Paar, das wiederum demokratischer ist als der Familienclan, der wiederum demokratischer ist als der Mafiastadtteil. »

Beim Begriff der Demokratie tut sich schnell ein Widerspruch auf. Kurt Röttgers hat ihn so formuliert. ” In der geläufigen politischen Interpretation der repräsentativen Demokratie meint Repräsentation Stellvertretung für den Souverän, der offensichtlich auch nicht da ist, jedenfalls nicht da, wo die Politik gemacht wird. Klassisch meinte Souveränität, und so wird auch das Wort hergeleitet: Superioritas, also wieder die da oben. Seit der Enthauptung der Prinzen und Fürsten ist die Souveränität angeblich auf dasVolk übergegangen. Aber auch hier tut sich eine Paradoxie auf. Denn die klassische Topologie der Souveränität kennt oben den Befehlsgeber, den Prinzeps, und unten die Befehlsempfänger und Unterworfenen, eben wörtlich die Sub-jekte. Wie aber kann das souveräne Volk sowohl oben als auch unten sein? Der Begriff der Volkssouveränität möchte die Paradoxie durch den Repräsentationsbegriff lösen, bzw. kaschieren. Die da oben repräsentieren die da unten; was die da oben machen und befehlen, ist der wahre, der eigentliche Wille der Befehlsempfänger da unten. Jean-Jacques Rousseau nannte das die volonté générale. Diese Fiktion wird in demokratischen Staaten durch Wahlen genährt. In
den Wahlen drücken die Sub-jekte ihren Willen aus und haben dann etwa vier Jahre Zeit zu prüfen, ob die an sie ergehenden Befehle, d.h. Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen, ihrem Wählerwillen entsprechen.”

Es entspricht nicht unbedingt dem Alltagsverstand, dass die parlamentarische Demokratie darauf basiert, dass die Staatsbürger mit der Wahl jegliche Machtbefugnisse an die politischen Repräsentanten abgeben bzw. an professionelle Gruppen von Politikern delegieren, die in ihrem Namen Entscheidungen treffen. Aber doch ist es so. Umgekehrt kann man auch sagen, erst weil die Repräsentanten existieren, existiert auch die durch sie repräsentierte Gruppe. Wir befinden uns also in einer zirkulierenden, sich wechselseitig verstärkenden Zuschreibung. Die Repräsentanten sind Mitglieder einer entsprechenden bürokratischen Organisation (Partei) und werden von dieser mit einem Mandat versehen. Und im Grunde genommen funktioniert eine politische Partei, was ihre Legitimationsweisen angeht, nicht anders als eine Kirche, denn bei beiden Organisationen stellen die Delegierten die Usurpation von Posten als einen Dienst an der Organisation und insbesondere an denjenigen dar, die sie gewählt bzw. delegiert haben. Will beispielsweise ein Minister als legitim anerkannt werden, dann muss er eine Nachfrage nach seinem »Produkt« schaffen und dies geschieht folgendermaßen: Indem er behauptet, ganz für das Volk da zu sein und für es zu sprechen, macht er sich zum einen zum Volk und zum anderen löscht er sich selbst aus (und wird damit erst alles). Diese Art der Transformation funktioniert nur repräsentativ, sodass der Politiker als Repräsentant in einer Rechtsperson aufgehen muss, die zeigt, dass diejenigen, die nichts als sie selbst sind, nichts sind, weil sie nicht für das Volk sprechen, nicht in dessen Namen sprechen, während er, der für das Volk spricht, eben alles und allmächtig ist. Diese Konstruktion nennt Bourdieu den »Orakeleffekt«

Die Delegation der Macht an die staatlichen Politprofis stellt eine spezifische Form der Enteignung der Bevölkerung dar, sodass die Bürger nur durch die Enthaltung oder Nichtwahl im Rahmen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie ihren Unwillen zum Ausdruck bringen können. Oft genug besteht eben darin die einzige Möglichkeit der Unterklassen zur politischen Artikulation, denn sie verfügen meistens nicht über die Bildung und die politischen Ressourcen, um überhaupt in der Öffentlichkeit in politische Debatten eingreifen zu können, womit gerade ihr Schweigen als Rache an einem System begriffen werden könnte, das sie ausschließt, indem es sie einschließt. Gerade ihre Apathie könnte als ein unbewusster Protest gegen die Monopolisierung der Politik durch die professionellen Politiker in den Staatsapparaten angesehen werden. Diejenigen, die das Monopol besitzen, ständig über das allgemeine Wohl des Volkes fabulieren zu können, sind es auch, die das Monopol auf die Zugänge zu den Ämtern innehaben und damit von den meisten öffentlichen Diskursen über das allgemeine Wohl profitieren.1

Dabei artikulieren sich die Parteien in einem politischen Feld, das sie zwar gemeinsam besetzen, in dem sie sich aber zugleich in einer gewissen Konkurrenz zueinander befinden, wobei der Einfluss und die Macht einer Partei sich nicht nur an ihrer gegenwärtigen Stellung in diesem Feld bemisst, sondern auch an der Potenz, eine möglichst große, heterogene Wählerschaft mobilisieren zu können, was jede Partei von vornherein zur politischen Unschärfe zwingt. Die politische Position, die eine Partei vertritt, ist ein Leitgedanke, der gerade dann in die Tat umgesetzt werden kann, je größer die Bevölkerungsanteile sind, die die Partei durch ihre symbolischen Aktivitäten mobilisieren und an die Wahlurne bringen kann. Zugleich soll im medialen Feld ein Gleichklang zwischen denjenigen, die politische Meinungen zirkulieren lassen, und denjenigen, die diese Meinungen konsumieren, erzeugt werden, wobei in der letzten Instanz die politische Relevanz der Meinungen, Diskurse und Positionen eben auch in der quantitativen Masse an Bürgern liegt, die permanent mobilisiert werden muss. In den epidemisch gewordenen Meinungsumfragen, die zu Wahlzeiten noch zunehmen, kommt es zur Abfrage von Positionen, ohne dass die Produktion der Formulierungen und das spezifische Frage-Antwort-Spiel, hinter dem sich Strategien und Interessen verbergen, transparent wären, folglich ohne dass diese von den Befragten auch nur im Ansatz durchschaut oder in Frage gestellt werden können.

Die Wahl ist Teil eines politischen Marktes, der jedoch keineswegs durch eine unsichtbare Hand dirigiert wird, sondern an dem insbesondere die Experten und Repräsentanten der privilegierten Klassen ständig Angebote formulieren, die über die Kanäle des Marketings, der Medien, des Fernsehens und des Internets an die Bürger herangetragen werden. Diese wiederum konsumieren die Angebote und schließlich den Wahlakt selbst, insofern ihre politischen Entscheidungskapazitäten auf eine einzige synkretische Zeichnung verdünnt werden. Letztendlich sind jegliche Gestaltungspotenziale der Bevölkerung, die soziale Kämpfe und Konflikte betreffen, in der Wahl ausgesetzt, vielmehr ist die Wahl aufgrund ihrer eigenen Logik geradezu »ein Instrument zur Verwischung von Konflikten und Gegensätzen« (Bourdieu). So erkennt die Mehrheit mit den Wahlen unzweifelhaft an, dass ihr Einfluss auf laufende und konkrete politische Entscheidungen gegen Null tendiert. Diese werden heute oft genug abseits der repräsentativ-demokratischen Prozeduren von einer professionell-technokratischen Elite und supranationalen Institutionen getroffen, und dies unter Ausschluss der bzw. gegen die Bevölkerung, die allerdings mit einem Minimum an Chancen und Rechten innerhalb des demokratischen Spiels gehalten werden muss.

Die Demokratie generiert den Gestus, dass die offizielle Meinung die Meinung der Mehrheit sei, oder zumindest derer, die es wert sind, überhaupt eine Meinung zu haben. Dazu muss, wer wirklich an politischen Operationen teilhaben will, mit den durch den Staat erzeugten und kontrollierten Spielregeln auch spielen können, gerade indem mit den Spielregeln dem Spiel, das der Staat ist, die höchste Ehre erwiesen wird. Dazu gehört auch der von den Unterklassen geforderte Respekt, die Höflichkeit und der Anstand gegenüber den offiziellen Autoritäten. Summa summarum sind es Spielregeln, die das obligatorische und zugleich fiktive »Wir« artikulieren, indem sie glauben machen, dass die Eliten und Technokraten für nichts weiter sprechen als für dieses »Wir«. Die Parteien produzieren hegemoniale Diskurse und vor allem den Glauben an die Universalität ihrer Diskurse, indem sie Phantome produzieren, etwa »Deutschland«, das Volk, Sicherheit, Überfremdung, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und dergleichen mehr. Die Demokratie wird dannzusammengeschweißt vom Glauben an diese Phantome, sie ist unter diesem Gesichtspunkt eine akkumulierte und im Staat konzentrierte Phantomhaftigkeit, die sich als die Logik der Dinge repräsentiert. Dazu bedarf es der offiziellen Diskurse bzw. der offiziellen Reden, die innerhalb der Institutionen, der Verwaltung und im öffentlichen Feld zirkulieren, um eine Art organisiertes Vertrauen zu implementieren, das die staatlichen Diskurse stützt.

Der Staat ist der Raum der Zirkulation der offiziellen Rede, der öffentlichen Meinung, der Ordnung, der Mandate und letztendlich der Ort einer noch im Protest offiziell anerkannten Macht. Diese Macht wurde über lange Perioden der Auseinandersetzungen hinweg als Konsens verstanden und dabei übersehen, dass diejenigen, die im Namen des allgemeinen Wohls oder des Universellen sprechen, auch diejenigen sind, die den Zugangs zu diesem Gut (Allgemeinwohl) monopolisieren. Es handelt sich demnach um Akteure, die das Vorrecht besitzen, sich diese universelle Ressource anzueignen, indem sie das Monopol auf den Kampf um das Monopol erlangen. Diese monopolistische Aneignung spielt in das Feld der freien und gleichen Bürger hinein und setzt sich durch diese erst durch, das heißt die Privatisierung der Bürger, aus denen sich der Staat zusammensetzt, und die Repräsentation ihrer Einheit im Staat bilden eine doppelte Bewegung, die in der Demokratie konvergiert. Und gerade diese Konstellation bildet letztendlich keine Schranke mehr für die rechtlichen Übergriffe des Staates in die individuell-private Sphäre hinein.2

Allerdings sieht die Zukunft der Demokratie eher trostlos aus: “… die Idee der Freiheit, eine neue und junge Idee, ist bereits dabei, aus den Köpfen und Sitten zu verschwinden, und die liberale Globalisierung kommt in genau der gegenteiligen Form daher – eine polizeistaatliche Globalisierung, eine totale Kontrolle, ein Terror, der auf ‘Law-and-Order’-Maßnahmen beruht. Die Deregulierung endet in einem Maximum an Zwängen und Einschränkungen, die denen einer fundamentalistischen Gesellschaft ähneln.” (Baudrillard)

1Die Wahlen nötigen dazu, eine Vielzahl heterogener und oft ausschließender Diskurse, die im Kontext konfliktueller Klassenhabiti, Klasseninteressen und Klassenstrategien auftauchen, in einem singulären Akt zu verdichten, das heißt in einem Wahlakt Dinge zur Entscheidung zu stellen, für die man eigentlich Tausende von politischen Auseinandersetzungen in Permanenz bräuchte. Reale politische Einflussmöglichkeiten verschiedener Gruppen werden durch die Wahl nicht nur beschränkt, vielmehr erkennt der von seinen Interessen, Wünschen und Begehren entkleidete Staatsbürger mit der Wahl an, dass er seinen Einfluss an professionelle Mandatsträger, die innerhalb eines Apparates fungieren, delegiert.

2Der Staatsbürger, ein Individuum, das als das Subjekt unveräußerlicher Freiheiten und Menschenrechte angesehen wird, muss zugleich als ein Körper begriffen werden, der vom Staat und seinen Privatisierungszentren geschaffen wird, man denke an Familie, Schule etc.

check also here

Foto: Stefan Paulus

Nach oben scrollen