Spekulation, Kapital und Zeit (Konings: Capital and Time) (2)

Konings versteht den Neoliberalismus ähnlich wie Foucault als die Rationalität einer gouvernementalen Praxis. In diesem Kontext gilt die Spekulation als ein produktiver, regulierender »Impuls«, der das Problem der Unsicherheit in die Logik der Governance einführt. Während der klassische Liberalismus eher daran interessiert war, die Unsicherheit der Zukunft zu diskontieren, valorisiert und lotet der Neoliberalismus die Grenzen des Kalkulierbaren, des Unkalkulierbaren und des Unvorhersehbaren aus. Diese Beschäftigung mit der Zeit findet man in der klassisch liberalen Ökonomie und der Neoklassik nicht. So interessiert sich der Neoliberalismus auch stärker für die Finanzialisierung als für die Kommodifizierung, engagiert sich intensiver mit den Projekten und Aussichten eines Investments als mit dem unmittelbaren Nutzen der Konsumtion; er ist mehr mit der Spekulation als mit der Stasis des Gleichgewichts beschäftigt.

Selbst Hayek ist schon bekannt, dass jede Hoffnung auf ein sicheres und komplettes Wissen vergebens ist, damit auch die Hoffnung auf eine funktionierende zentrale Planung, womit wiederum die Unsicherheit konstitutiv für das Problem der ökonomischen Planung und des Werts wird. Die Neutralität des Marktes bleibt zwar ein unhintergehbarer Horizont der Ökonomie, aber letztendlich ist es die neoliberale Logik des Risikos, die endlos fordernd das Entscheidende ausmacht. Hingegen begreift die orthodoxe Konzeption des Geldes das Problem der Zeit und der Unsicherheit als ein rein technisches Problem der Koordination und sieht im Geld eine einfache und transparente Lösung, reduziert es auf ein Ausführungsorgan von Transaktionen, ja auf eine Ideale Sprache.

Der Neoliberalismus muss als eine Reaktion auf die historischen Veränderungen des Kapitalismus ab den  1970er Jahren begriffen werden, als große Teile der Bevölkerung in die finanzielle Logik integriert wurden und selbst noch der Staat Teil dieser dynamische nökonomischen Entwicklung wurde. Auch wenn es im Neoliberalismus immer um die Reduktion des Sozialstaats geht, will er den Staat nicht einfach nur zurückdrängen, sodass der Neoliberalismus eben auch nicht einfach nur mit der Vergangenheit brechen will, vielmehr muss man ihn als eine Theorie der Governance verstehen, die einsieht, dass der Staat von den ökonomischen Prozessen, die er regulieren soll, nicht getrennt werden kann. Somit ist der Neoliberalismus eine Intervention in die Logik der Kontingenz und Spekulation, von der er sich selbst nicht ausnimmt.

Die Governance des Risikos ist nicht mehr die einer defensiven Orientierung, die sich um die Versicherung zukünftiger Ereignisse kümmert, sondern die einer proaktiven Orientierung, die als eine Ethik sich um die notwendige Entscheidung im Kontext von Unsicherheit kümmert. Der Neoliberalismus ist Teil einer historisch gewachsenen Logik des finanziellen Risikos, das er glaubt, “regulieren” zu können. Die neoliberale Logik der Spekulation bezieht aber immer Techniken der Normalisierung und der Versicherung in ihre Praktiken ein. Indem man das Ungleichgewicht, die Störung und den Fehler im Hinblick auf operative Normen anerkennt, wird auf eine proaktive Adjustierung gesetzt, sodass Instabilitäten und Krisen eine produktive Rolle im dynamischen Prozess einnehmen können. Der Fehler soll nicht vermieden, sondern präventiv behandelt werden, indem man ihn aktiviert und zugleich seine negativen Konsequenzen vermeidet.

Die neoliberale finanzielle Governance impliziert keineswegs den naiven Glauben an die Effizienz des Marktes, vielmehr setzt sie auf Spekulation, Bailout und Austerität. Die Institutionalisierung der informellen too-big-to-fail-Politik ging mit dem Anwachsen des Schattenbanksystems einher, dem Anstieg der Schulden der privaten Haushalte, der Lohnstagnation und der Unsicherheit der Jobs und schließlich den Einschnitten im Sozialstaat. Die bekannten Analysen des Neoliberalismus von Mirowski, Streeck und Crouch konzentrieren sich hingegen fast ausschließlich auf die Praktiken und Ideen der Eliten in der neoliberalen Politik, bezeichnen ihn als eine Abweichung vom normativen Modell einer gemischten Governance, dessen Stern längst am Sinken ist. Konings mahnt dagegen an, die Rolle der Eliten nicht rein im Bereich der Korruption und der radikalen Durchsetzung von Interessen zu sehen, sondern auch die politische Rationalität des Neoliberalismus zu beachten, die neoliberale Vernunft, die Konings nicht als eine ideelle und normative Konsistenz, sondern als ein Grad der Kohäsion auf der Ebene der Praxis und des Imaginären, die sie anleitet, begreift.

Teil 1 hier

Foto: Bernhard Weber

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