Staat – Krise – Kritik

Die Ansätze zur Erklärung und Kritik des anhaltenden Ausnahmezustands bewegen sich zwischen den beiden Polen Intention und Struktur. Die Intentionalisten nehmen die Profiteure der Situation als Verursacher und schreiben den Ausnahmezustand einem aus der Schublade entnommenen Plan zu, der nun durchgezogen wird. Die Schuldzuweisung der Intentionalisten an die fraglos mächtigen Akteure abstrahiert von den Verhältnissen, in denen diese sich bewegen und die die Quelle ihrer Macht sowie die Bedingungen und Grenzen ihrer Machtausübung darstellen. Wer die herrschenden Zustände als Folge planvollen Handelns begreift, muss dann auch interessenwidrige Effekte des staatlichen Handelns – der Einbruch von Produktion und Absatz und damit die Schwächung seiner Macht – umständlich als gewollte erklären, etwa indem der Staat auf das Ausführungsorgan einer bestimmten Kapitalistenclique reduziert wird. Strukturalisten hingegen, die sich darum bemühen die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, neigen dazu, überhaupt nichts Neues im herrschenden Ausnahmezustand zu erkennen. Die staatliche Herrschaft gehe halt ihren Gang. Man sollte aber schon aufhorchen, wenn der bürgerliche Staat sich nicht mehr an seine eigenen Regeln hält. Zumal die seuchenpolitisch begründete verschärfte Kontrolle und Atomisierung der Menschen und die Beschwörung volksgesundheitlicher Verantwortung die Möglichkeiten von Kritik und Opposition zunehmend einschränkt. Wer isoliert und gehetzt ständig auf seinen Test- und Impfstatus und den der anderen fixiert ist, kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Um die beiden oben genannten Pole der Erklärung zu vermitteln, soll noch einmal umrissen werden, wie es zu wahnhaft verselbständigtem Staatshandeln kommen kann und welchen Nutzen dies hat.

Kapital und Krise

Dass an jedem Ding ein Preis klebt, dass alles seine etwaige Nützlichkeit erst erweist, nachdem es als Ware über den Markt den zahlungskräftigen Konsumenten gefunden hat, dass Gesellschaft als Warentausch stattfindet und dass, wem es an produktivem Eigentum mangelt, zum Tausch nur seine Arbeitskraft bleibt und sich in der Klasse der Lohnabhängigen wiederfindet, der also arbeiten muss, um zu leben, das hat seinen Grund darin, dass der Staat das Privateigentum als Form der gesellschaftlichen Produktion einrichtet und erhält. Damit ist auch der Zweck der Produktion festgelegt: Profit, mehr Geld nach Verkauf der Waren, als für die Erzeugung eingesetzt wurde. Jedwedes Bedürfnis ist zum Mittel des Profits verkehrt, ein zahlungsunfähiges wird nicht bedient. Armut und Elend sind darum auch in den kapitalistischen Zentren weder zufällig noch selten, sondern notwendig und häufig. Dass ökonomische Effizienz in Sachen Tauschwertzuwachs nicht gleichzeitig dem Gebrauchswert dient, sondern auf diesen eher zerstörerisch wirkt, ist am hiesigen Gesundheitssystem gut zu beobachten, dessen Krankenhausfabriken Gewinn ausschütten, aber  kaum noch Patienten gesundheitsförderlich versorgen können. Die Arbeitsbedingungen dort sind zum Davonlaufen. Wer den Thrill eines Katastrophenszenarios sucht, hat auf hiesigen Notaufnahmen jederzeit Gelegenheit, diesen in den Stunden des Wartens ausgiebig auszukosten.

Mit der Garantie des Privateigentums setzt der Staat eine eigendynamische Produktionsweise ins Werk, dessen betriebsbedingten Verheerungen er im Griff behalten muss, damit das Verhältnis erhalten bleibt. Der Staat übernimmt die Funktion, die die Einzelkapitale in ihrem Konkurrenzverhältnis nicht erfüllen können – er muss als über der ökonomischen Konkurrenz stehende Macht das Gesamtsystem erhalten, er ist ideeller Gesamtkapitalist. Er sorgt für die nötige Infrastruktur und für Handelswege nach außen. Er richtet Zwangsversicherungen für die Lohnabhängigen ein, damit zeitweise oder dauerhaft Unausbeutbare nicht verhungern müssen. Er schützt einen Teil der Lebenszeit, damit nicht die Arbeitskraft durch Überausbeutung allzu bald unbrauchbar wird. Er schützt das Privateigentum gegen kriminelle oder revolutionäre Infragestellung. Er betreut auch die Krisen des Systems, an denen es nicht mangelt.

Die Privateigentümer der Produktionsmittel, die arbeiten lassen und als die Produzenten gelten, konkurrieren mit ihren Produkten um den in den Waren enthaltenen Mehrwert, der ihnen als Profit zu Buche schlägt, wenn sich im Nachhinein der Produktion herausstellt, dass die Waren sich verkaufen und in Geld eintauschen lassen – erst dann rechtfertigt sich der gesamte Prozess der Produktion dieser Ware als erfolgreicher Verwertungsprozess, ansonsten sind Produktion und Produkt wertlos und überflüssig. Das entscheidende Mittel der Konkurrenz um Profit ist die Verbilligung der gekauften Arbeitskraft durch Steigerung ihrer Produktivität. Finden sich allerdings keine Käufer mehr, ist der Markt gesättigt, lässt sich gar kein Profit mehr realisieren – die Krise ist da. Kein Mangel an Nützlichem herrscht, sondern zu viel ist produziert worden, um es profitabel zu verkaufen. Zu viel und zu ergiebige Produktionsmittel sind aufgebaut worden, um sie gewinnbringend zu betätigen. Wenn im global entfalteten Kapitalismus Geld auf der Suche nach lohnender Anlage vermehrt in den Finanzmarkt fließt, weil die Überakkumulation sich verstetigt, die unmittelbare Investition in produktive Unternehmungen keinen Gewinn verspricht, bleiben die im Finanzsektor geschaffenen Kreditformen abhängig von der erfolgreichen Verwertung des produktiven Kapitals. Diese Fluchtbewegung in den Kredit – Spekulation auf zukünftigen Gewinn aus erweiterter Produktion – vergrößert sogar noch die Ansprüche an die profitable Produktion und damit die Krisenanfälligkeit.

Der Grundwiderspruch des Kapitalismus – das Mittel und der Zwang, den Profit in der Konkurrenz zu erhalten und zu steigern, widerspricht seinem Zweck, den Profit zu realisieren – erzeugt wiederkehrende Krisenzustände, in denen Lohnabhängige entlassen und ihrer Existenzgrundlage beraubt werden, Reichtum in Form von Produkten und Produktionsmitteln vernichtet wird – „die Krise stellt gewaltsam die Einheit von wertmäßiger und stofflicher Proportionierung wieder her“[1], bis die profitable Produktion erneut beginnen kann, um sich bis zum nächsten Krisenausbruch zu entwickeln. Krise und Staat sind Verlaufsformen dieses Widerspruchs.

Die ideologische Verarbeitung der Erfahrung wiederkehrender Krisen oder des Scheiterns an den Zwängen der Klassengesellschaft mag diese Krisen als „unökonomische“, isolierte, auf einzelne Gesellschaftsbereiche beschränkte oder als anthropologische Schicksalhaftigkeiten erscheinen lassen – sie haben dennoch ihren wesentlichen Grund im Kapitalverhältnis als (Re-)Produktionsform der Gesellschaft.

Krise und Staat

Dem Staat ist die Krise Anlass, sich als Ordnungsmacht zu inszenieren.[2] Die Zwecke und Erfolgsmaßstäbe der Eingriffe sind umstritten, werden innerhalb von Interessenwidersprüchen von Staats- und Kapitalfraktionen ausgehandelt, um zu entscheiden, auf wessen Kosten die Krise zu lösen sei. Bereits jenes inszenatorische Moment ist Einfallstor für die wahnhafte Dynamik staatlichen Handelns. Verschärfend hinzu tritt der fetischistische Bezug auf seinen Gegenstand: Staatliche Akteure und Institutionen kennen die Gründe für die Notwendigkeit ihres Eingreifens nicht, beziehen sich auf die kapitalistische Produktion als ein naturwüchsiges Geschehen.  Da sich die Gründe des Geschehens dem Bewusstsein der Akteure entziehen, ideologische Vorstellungen hinsichtlich der Krisen vorherrschen, stellen sich die Entscheidungen für bestimmte Eingriffsmittel als nachträgliche Rationalisierungen von interessengeleiteten Interpretationen, abstrakten Absichten und Wunschdenken dar. Der Versuch, rational-planerisch, bürokratisch Krisen vorzubeugen und sie zu kontrollieren, steigert paradoxerweise die Irrationalität des staatlichen Agierens. Je „mehr versucht wird, ,,vorweg“ langfristige Programme aufzustellen, die staatliche Tätigkeit zu planen, desto mehr [muss] diese Staatstätigkeit in Widerspruch geraten […] zu den realen Anforderungen des sich naturwüchsig entwickelnden Produktionsprozesses.[…] Je mehr […] die staatliche Bürokratie versucht, eine straff organisierte, einen ,,einheitlichen Willen” zum Ausdruck bringende Entscheidungshierarchie herzustellen, desto mehr muß sie sich von der Einflußnahme durch außerhalb liegende gesellschaftliche Interessen abschließen.“[3] Spezialisierte bürokratische Staatsabteilungen verselbständigen sich so zu quasi-kybernetischen Apparaturen, denen die Folgen ihres eigenen Eingreifens phantomhaft erscheinen und die in kumulativer Radikalisierung in den Ausnahmezustand eskalieren können, sobald Krisensymptome im Fadenkreuz festgestellt werden.

Probleme mit der Volksgesundheit sind dabei keine Naturereignisse, sondern sind im Zusammenhang mit dem kapitalistischen Naturverhältnis zu sehen: die Natur, insbesondere Mensch und Tier als Arbeitskraft, ist rein quantitatives Material technischer Beherrschung und Ausbeutung, der kranke Leib ist Objekt medizinischer Manipulationen und Statistik, ökonomischer Verwertung sowie hygienepolizeilicher Quarantänisierung, zuweilen ist er auch Kostenfaktor und Belastungsgröße für ein ökonomisch frisiertes Gesundheitswesen. Im ideologischen Begriff „Volksgesundheit“ sind die Bedürfnisse der Individuen zu Mitteln von Profit und staatlicher Kontrolle verkehrt. Dieser Begriff fasst die isolierten sinnlichen Eigenschaften und technischen Abläufe zusammen, die sich messen, gesetzlich regeln, als Arbeitskraft ausbeuten und für die gesundheitsökonomische Verwertung instrumentalisieren lassen. Die Gesundheitsbürokratie, die diesen Begriff in Anschlag bringt, eskaliert in den Ausnahmezustand, indem ihre Methoden in technizistische Paranoia umschlagen. Die PCR-Massentests sind Quelle des Mythos von der allgegenwärtigen Seuche – die ominöse Inzidenz –  und seuchenpolitische Herrschaftstechnik zur Bevölkerungskontrolle zugleich. Desgleichen das schon länger aufgenötigte und bald aufgezwungene Impfabo. Test- und Impfstatus regeln den Zugang zu Einkommen und zum öffentlichen Raum. Im Zusammenhang mit der schon länger betriebenen Mobilmachung um die Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit ergeben die Maßnahmen und die Impfpflicht eine  ideologisch stärkere und praktisch engere „biopolitische“ Bindung des Staatsbürgers an den Staat.[4]

Wenn auch manche Kapitalfraktionen zeitweise unter den staatlichen Maßnahmen leiden, werden diese nachträglich zur notwendigen Krisenintervention rationalisiert, ohne die es vorgeblich noch viel schlimmer gekommen wäre. Unermüdlich vor der herbeigetesteten Allgegenwart eines Erkältungsvirus erschrecken zu wollen, ist das wahnhafte Moment, dessen nachträgliche Rationalisierung die Darstellung und Durchsetzung der staatlichen Ordnungsmacht und deren kapitaltauglichen Nutzeffekte ergibt.Die staatliche Gewalt beweist durch die Maßnahmen ideologisch und praktisch ihre Notwendigkeit. Die verschärfte Kontrolle und Selbstdisziplinierung der Arbeitskraft erweisen sich als funktional fürs nationale Gesamtkapital. In dieser zentralen Aufgabe, die Arbeitskraft immer wieder unter die Bedingungen der Lohnarbeit zu unterwerfen[5], zeigt der Staat aufs schönste seine Qualitäten als Ordnungsmacht. Auch die Digitalisierung der Arbeitswelt, die nun verstärkt durchgesetzt werden soll, die durch genauere Steuerung des Produktionsprozesses Kosten und Umschlagzeit des Kapitals senken soll, hat disziplinierende Effekte: die Kontrolle der Arbeitskräfte im Arbeitsprozess wird engmaschiger[6] und die steigenden Anforderungen an die Fähigkeiten beschäftigen unentwegt das lohnabhängige Individuum in digitalen Fortbildungen, die „selbstorganisiert abgerufen werden können und in den Arbeitsalltag integriert sind.“[7]

Kritik

Die demokratische Herrschaft vermittelt Freiheit und (Sach-)Zwang. Damit ist sie für die Bewegungsformen des Kapitals – Markt, Warentausch, Konkurrenz – die passende Herrschaftsform, sofern und solange sich die formale Freiheit der Arbeitskraft für Produktivität, Profit und nationale Zwecke instrumentalisieren lässt. Der Staat bezieht sich mit seinen Rechtsnormen auf die Warenbesitzer als formal Gleiche. Er garantiert so die Konkurrenz aller gegen alle und die Existenz der Klassen, wo sich inhaltlich die unterschiedliche materielle Ausstattung der Individuen geltend macht. Im Parlament können verschiedene Staats- und Kapitalfraktionen ihre widersprechenden Interessen praktikabel vermitteln. Den Staatsbürger erzieht die demokratische Herrschaft zur freiwilligen Unterwerfung unter Nation und Staat. Der gelehrige Demokrat übernimmt dann Verantwortung, engagiert sich nach Kräften im Sinne der herrschenden Betriebsordnung. Die regelmäßig abgehaltenen Wahlen und die sie begleitende medial betreute Meinungsbildung päppeln das demokratische Bewusstsein, indem sie politische Mitbestimmung simulieren. Die wählbaren austauschbaren Charaktermasken unterscheiden sich zur Seite der Wählerschaft nur darin, wie sie anhand der Rituale und im Jargon ihrer politischen Richtung dem interessierten Staatsbürger die Notwendigkeiten staatlicher Herrschaft verdolmetschen.

Im herrschenden Ausnahmezustand macht die bürgerliche Freiheit Pause, der Staat schaltet in den Notstandsmodus und greift durch. Es stellt sich eine rasche Selbstgleichschaltung der sonst sich widersprechenden Parlamentsfraktionen wie auch der medialen Öffentlichkeit ein. Statt Widerspruch und Vermittlung der Interessen projiziert sich hier die verselbständigte Staatsräson ins Parlament, das Virus um jeden zu Preis zu bekämpfen. Die Bundesgerichte sind eingeschlafen.[8] Die nahezu vollständige ideologische, wenn sich die Sportsfreunde der Antifa am Rande von Demonstrationen als Hilfssheriffs betätigen, auch praktische Integration der organisierten Linken in den Staatsapparat komplettiert den Ausfall jeglicher Opposition gegen den staatlichen Durchgriff.  In der Konstellation dieser Elemente drückt sich die neuerliche faschistische Tendenz aus. Setzt sich diese als Reaktion auf reale oder als solche interpretierte Krisenzustände durch, transformiert sich die Herrschaft unter demokratischer Hülle dauerhaft zu einem autoritären Disziplinarregime, das seine Gewalt unvermittelt einsetzt, um abweichendes Verhalten und Widerstand auszuschalten.

Hätte man zu Beginn des Ausnahmezustands noch wohlwollend meinen können, dass die Linke etwas schwer von Begriff sei, muss man nun feststellen, da sie die herrschende faschistische Tendenz befördert, dass ihr überwiegender Teil ins feindliche Lager übergewechselt ist. Die Linke hat ihren des längeren gepflegten Moralismus zur tätigen Staatsliebe fortgebildet. In der Verteidigung des Staates gegen Kritik, in der Disziplinierung von Abweichlern, in der Beschwörung des solidarischen Zusammenhalts angesichts des Kriegs gegen das Virus, in der skandierten Vergewaltigungsphantasie – „Wir impfen euch alle“ – und der herbeigesehnten staatlichen – „Impfpflicht“ – oder einfach in haltloser Verblödung[9] spricht sich der Überschwang einer nationalen Erweckungsbewegung aus, die auch schon mal in Gestalt einer Friedensbewegung[10] auftrat.  An der Seite von Staat und Nation zu landen, ist der konsequente Weg einer Linken, die von Klassenverhältnissen nichts mehr wissen will.

Das Gute daran ist die Erkenntnis, dass man in dieser Steppe der Kritiklosigkeit mit dem Aufbau einer radikalen Opposition gegen Staat und Kapital ganz von vorn anfangen muss und dabei viel ausprobieren kann. Die wachsenden Demonstrationen lassen auf eine sich entwickelnde Bürgerrechtsbewegung hoffen. Sofern auch hier nicht enttäuschte Nationalisten unterwegs sind, die besser regiert werden wollen, treibt die Leute das Ziel auf die Straße, ihre Grundrechte wiederzuerlangen und die autoritären Auswüchse des Staates zurückzustutzen. Die Weiterentwicklung (wenigstens von Teilen) dieser Bürgerrechtsbewegung zur Staatskritik ist sehr zu wünschen. Hierfür allerdings ganz unbrauchbar ist der Blick des Insektenforschers, der nun diese Bewegung differenziert betrachten und in seinen Setzkasten nach politischer Brauchbarkeit einsortieren will.[11] Solch eine Herangehensweise reproduziert nur die statische und unvermittelte Trennung von moralisierendem Subjekt und Beobachtungsobjekt.

Wer an der Radikalisierung dieser Bürgerrechtsbewegung interessiert ist, sollte sich vielmehr als ihr Teilnehmer begreifen und zum Zwecke der Radikalisierung an die Gründe der notwendigen Schäden erinnern, die es mit sich bringt, Zwangsmitglied einer staatlich organisierten Klassengesellschaft zu sein, an die Gründe dafür, dass das Leben unter dem Zwang zur Lohnarbeit nicht lebt. Wer trotz regelmäßiger Enttäuschungen glaubt, durch Gewerkschaftsarbeit und SPD-Wählen auf den grünen Zweig zu kommen, dem fehlt gewiss einiges, vor allem aber die Erkenntnis, dass für ein gutes Leben Staat und Kapital abgeschafft werden müssen. Die Verhältnisse beruhen auf der Ausbeutung der Lohnabhängigen. Wenn sich diese dafür nicht mehr einspannen lassen, wenn sie auf breiter Front die Lebens- und Produktionsmittel in die eigenen Hände nehmen, wir die bedürfnisorientierte Produktion organisieren, dann hören Klassen, Kapital und Staat auf zu sein. Voraussetzung für den revolutionären Willen ist die Einsicht in seine Notwendigkeit. Erkennen ist ein gemeinsamer Prozess. Sicher ist die Sprache dafür noch zu finden. Vielleicht bringen die richtigen Fragen zur rechten Zeit aufgeworfen das Denken in Schwung. Jener Erkenntnis auf die Sprünge helfen bei denjenigen, die der Unmut auf die Straße treibt, die aber noch reformistische Illusionen haben, können aber gewiss nur die, die sich selbst schon in einem Organisierungsprozess befinden, in den sie die Agitierten mittels der sich verbreitenden Erkenntnis zu integrieren versuchen. Erkennender und gemeinsame Zwecke setzender Geist ist der Organisierungsprozess – die Vermittlung von Kopf (Ratio) und Hand (Erfahrung) – auf dass die Praxis die Augen aufschlage, Vernunft sich breitmache als „Quelle der wahren objektiven Praxis, denn der Mensch vermag nur so viel als er weiß.“[12]

Lasse F. Hund


[1]Vgl. Wirth, Margaret: Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Prokla 1973 Nr. 8/9, S. 17-44, S. 37.

[2]Vgl. Zum staatlichen Vorgehen in Sachen „Flüchtlingskrise“ vgl. Freerk Huisken: “Wir schaffen das!”, beteuert Kanzlerin Merkel.Was denn eigentlich?, https://fhuisken.de/downloadable/lose-texte/Gegenrede38a.odt.

[3]Vgl. Wirth, S. 39-43.

[4]Vgl. Thunder in Paradies: Thesen zur Entgrenzung des Staates,
 https://thunderinparadise.org/2021/12/23/es-gibt-keine-roten-linien-mehr/#more-716.

[5]Vgl. Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat, in: Karlsruher Stadtzeitung, Nr. 35 – Frühling 1985 – S. 45-55, https://www.wildcat-www.de/wildcat/35/wc35soz.htm.

[6]Vgl. „Industrie 4.0“, Ein großer Fortschritt in der „Vernetzung“ und in der Konkurrenz um die Frage, wem er gehört, Gegenstandpunkt 2-16, https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/industrie-40.

[7]„Entsprechende Konzepte sind in der Erprobung.“ Vgl. Krzywdzinski, Martin: Die COVID-19-Krise beschleunigt den Strukturwandel in der Arbeitswelt, https://wzb.eu/de/forschung/corona-und-die-folgen/die-covid-19-krise-beschleunigt-den-strukturwandel-in-der-arbeitswelt.

[8]Amts- und Landesgerichte zeigten sich kritikfreudiger. Z.B. das Amtsgericht Weimar: Vgl. AG Weimar, Urteil vom 11.01.2021 – 6 OWi – 523 Js 202518/20: https://openjur.de/u/2316798.html.

[9]Auch ausgewiesene Anarchisten wollen in staatlicher Gewalt keinen Unterschied mehr erkennen zur davon befreiten Gesellschaft (Hagedorn, Nicolai: Der Covid-Komplex, in: GWR 20. Dezember 2021, https://www.graswurzel.net/gwr/2021/12/der-covid-komplex/) oder rechtfertigen den Staat gleich ganz unumwunden („Ich lass mir gar nichts sagen…“, in: Samizdatarchiv – Online-Archiv des Anarcho Infoblatts Jena, https://samizdatarchiv.noblogs.org/online-lesen/aibj-17/ich-lass-mir-gar-nichts-sagen/).

[10]Vgl. Pohrt, Wolfgang: Ein Volk, ein Reich, ein Frieden , in: Zeit 30. Oktober 1981, https://www.zeit.de/1981/45/ein-volk-ein-reich-ein-frieden, gelesen: https://www.youtube.com/watch?v=0h9EJGk_k9M.

[11]Vgl. etwa die Ansichten des „Offenen Antifaschistischen Treffens Köln“, die Nowak in seinem Artikel beschreibt. Nowak, Peter: Kritik im Handgemenge, in: ND 14.02.2022, https://www.ndaktuell.de/artikel/1161327.coronaproteste-und-die-linke-kritik-im-handgemenge.html.

[12]Vgl. Feuerbach, Ludwig: Wesen des Christentums, Reclam, Stuttgart 1969, 286 u. Anm. 3.

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