Störfall Flüchtling (1)

Dass es nur ein Bruchteil von Flüchtlingen überhaupt bis nach Europa schafft, dass für die meisten von ihnen das nackte Überleben in Lagern zur Normalität geworden ist, und dass ein Vielfaches an verelendeter Surplusbevölkerung Fluchtgründe hat, für die der Kolonialismus, der Imperialismus und das Kapital des „Freien Westens“ verantwortlich sind, aber dieser Surplus überhaupt nicht das Geld und die Kraft besitzt, die Flucht anzutreten, dass also ein größerer Teil der Menschheit auf den Status der lebenden Toten reduziert wird, das alles fällt in diesem Land erst gar nicht erst unter das „Flüchtlingsproblem“, sondern es wird einfach nur noch die Frage gestellt, wie man die Störer schnellstmöglich wieder los wird.

Geschichtlich liegt in der Monopolisierung des “Gastrechts” durch den Staat eine massive und meist übersehene Enteignung: Kein Einzelner, keine Gruppe kann für sich nun noch Gastrecht beanspruchen und direkt in einen Austausch mit denen treten, die als Ausländer nicht derselben Rechtsgemeinschaft angehören. Damit wird zugleich niemandes Gast bzw. der Fremde geboren, der zum unlösbaren Unbekannten X wird, zum unvorstellbaren Objekt aller reaktionären Gruppenphantasmen und der Weisen ihres Ausschließens: Objekte des Verdachts. Im Glauben, der Fremde genieße die bloß rechtlose Verschonung von der Gewalt als Freigiebigkeit der Macht und des Staates wird er zum unvorstellbaren Objekt der Missgunst, indem man ihm das nicht gönnt, wovon man selbst verschont sein will: die Abwesenheit des Gesetzes und seiner Gewalten. So löst der Verdacht gegen den Fremden die endlosen Strategien aus, ihn als diesen oder jenen festzustellen oder gewaltsam zu vernichten.

Kant führt in den „Metaphysik der Sitten“ vor, dass das Land einer Bevölkerung als öffentliches Eigentum zu betrachten ist, das gegenüber dem Fremden als Privateigentum eines Volkes geltend gemacht werden kann, woraus sich ergibt, dass der Fremde bei Eintritt zugelassen oder abgewiesen werden kann. (Der Fremde kann bezüglich des öffentlichen, aber nicht bezüglich des privaten Eigentums den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt werden.) Entweder wird der Fremde zumindest bezüglich des ersteren den Staatsangehörigen gleichgestellt oder er wird schlichtweg wie nacktes Leben behandelt und bleibt von bestimmten Rechten ausgeschlossen. Diese Rechtlosigkeit wird verschleiert, indem man schlichtweg davon ausgeht, dass Fremde per se einer anderen, territorial definierten Rechtsgemeinschaft angehört. Will man nun wie Kant ein Grundrecht des allgemeinen Verkehrs unter Völkern einfordern, dann müsste eine rechtliche Regelung erfolgen, die eigentlich eine auf kein Staatsterritorium beschränkte Ansässigkeit zuließe. Kant zögert, und was bleibt, ist, dass ein Fremdenrecht das Recht einer Gemeinschaft ist, den Fremden eben gerade nicht als Rechtsperson anzuerkennen.

Dass das von Kant geforderte Grundrecht nicht funktionieren kann, wird ganz evident, wenn man sich vergegenwärtigt, dass heute jeder Fleck Erde auf dem Globus Staatsterritorium ist, der Globus von einem Netz von Linien und Räumen, von Staatsgrenzen überzogen ist, sodass sich niemand mal gerade nach Lust und Laune auf einem schönen Plätzchen Erde niederlassen kann, zudem innerhalb der Staatsgrenzen weite Teile des Boden privatisiert sind. In jedem Staat gelten Gesetze und Regeln, in denen festgeschrieben ist, wer das Recht auf Aufenthalt erhält, ein Territorium verlassen und ein anderes Land auf Dauer oder temporär bewohnen darf. Dieses Recht wird unter Umständen von Staaten auch mit Gewalt durchgesetzt und bestätigt damit der eigenen Bevölkerung, dass jeder ihr Zugehörige als Staatsbürger unter der Hoheit des Staates steht und damit auf bestimmte Rechte (und Pflichten) festgelegt ist, die auf dem eigenen Territorium eben Gültigkeit besitzen. Selbst wenn man auswandern will, hat man sich gefälligst beim Staat abzumelden, wobei die Auswanderung eben auch verweigert werden kann. Wird die Auswanderung anerkannt, dann steht bei der Einwanderung erneut die Einholung einer staatlichen Erlaubnis an. Die „fortschrittlichsten“ und ökonomisch stärksten kapitalistischen Staaten fragen den Einwanderungswilligen zum einen nach seinen finanziellen Möglichkeiten und beruflichen Qualifikationen, das heißt nach dem, was er zur Kapitalakkumulation beitragen kann, zum anderen erforschen sie unter polizeilichen Gesichtspunkten, ob er nicht als politischer Extremist oder gar potenzieller Terrorist ein Gefährdungsrisiko darstellt.

Somit lässt sich erst einmal feststellen, dass heute jede Person Teil eines Staatsvolks ist und vom Staat als eine Ressource betrachtet wird, mit denen ökonomische, politische und militärische Projekte in Angriff genommen werden können, welche die Macht des Staates im internationalen Kontext erhöhen. Dabei werden die Staatsbürger hinsichtlich ihrer grenzüberschreitenden Bewegungen von mindestens zwei Staaten überwacht und kontrolliert. Und jeder Staat schreibt selbst die Bedingungen fest, unter denen Menschenrechte wie die Freizügigkeit der Bewegung stattfinden kann.

So wird oft für die Einreise und den Aufenthalt ein Visum benötigt, der Lebensunterhalt muss gesichert und die Identität bzw. Staatsangehörigkeit muss eindeutig nachweisbar sein und nicht gegen die Interessen des Einwanderungslandes verstoßen. Der Staat regelt durch ein ganzes Brimborium von Rechtsprechung, Regeln und Verfahren, welche Ausänder er bei sich duldet und welche nicht. Über die wechselseitige Anerkennung von Pässen oder ähnlichen Dokumenten wird der jeweilige Grenzverkehr geregelt.

Dabei bedarf der grenzüberschreitende Strom von Waren, Dienstleistungen und Kapital der Regulation der internationalen Migration und Mobilität von Menschen, wobei Arbeitskräfte in die Verwertungsschleifen des Kapitals der großen Mächte, das national und international agiert, eingebunden werden, und nur den Eigentümern, Managern, den ökonomischen, politischen und kulturellen Eliten ist eine einigermaßen freie Beweglichkeit auf dem Globus garantiert. Ein großer Teil der Menschheit sitzt heute in mehr oder weniger lagerartigen Zuständen und Behausungen einfach fest.

Dennoch wird von Autoren wie Thomas Nail das 21. Jahrhundert, wir kommen darauf noch zurück, als das Jahrhundert des Migranten bezeichnet, eine Figur, die allerdings nicht mit dem Flüchtling gleichgesetzt werden darf. Letzterer will/muss aus ganz verschiedenen Gründen das Territorium seines Staates verlassen, in dem er als Staatsbürger dem nationalen Rechtssystem unterworfen ist, und deshalb gelten für ihn zunächst auch alle Regeln der Aus- und Einwanderung. Auf der Flucht wiederum muss der Flüchtling gerade den Gesetzen des eigenen Landes entkommen, wenn er beispielsweise einer in Ungnade gefallenen Religionsgemeinschaft oder politischen Gruppe angehört, Opfer von Landraub oder Bürgerkriegen geworden ist oder gar von Hungertod, Folter und Todesstrafe bedroht ist.

Ein Flüchtling, der sein Leben vor den Übergriffen seines Staates retten muss, kann nicht anders als schnellstmöglich das Land zu verlassen und verliert dabei nicht selten seine letzten Habseligkeiten und muss oft genug seine Familie zurücklassen. Er muss, bevor er flieht, noch versuchen irgendetwas zu Geld zu machen, sich Geld leihen oder Versicherungen verkaufen, denn ohne Geld ist die Flucht meist aussichtslos. Wer also fliehen muss, um nicht zu sterben, oder sich aus durchaus guten Gründen entschließt zu fliehen, um dem Elend vielleicht zu entkommen, der will weder als Tourist unterwegs sein noch kann er einfach mal so mit einem Visum auswandern. Eine freiwillige Abmeldung bei seinem Staat käme meistens dem Gefängnis oder gar seinem Tode gleich. Und mit der Flucht gilt er, ob er will oder nicht, als Feind des eigenen Staates und ist damit zunächst illegal unterwegs.

Da der Flüchtling in der Regel nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, seine Identität oft prekär ist und er unter Umständen sogar ohne Papiere unterwegs ist, braucht er sich um ein Visum beispielsweise bei einem Einreisestaat erst gar nicht zu bemühen. Flucht vor Hunger und Bomben gelten erst einmal wenig, zumal der Flüchtling aus der Perspektive des Staates, aus dem er flieht, als jemand gilt, der das herrschende Recht gebrochen hat. Der Flüchtling „reist“ aber nicht nur illegal aus, sondern er wandert auch illegal in ein fremdes Staatsterritorium ein. Nach der Grenzüberschreitung ist er nicht nur Fremder/Ausländer an sich, sondern er ist eine rechtlose Figur, das heißt er gehört auch nicht zum Volk des Staates, in den er ja ungebeten eindringt, und wird, mittellos und arm wie er meistens ist, nicht unbedingt mit einem Willkommensblumenstrauß empfangen. Im Gegenteil, man schützt sich zunehmend, siehe „Festung Europa“, heute mit Zäunen, Hotspots, Frontex und allerlei Verfahren und Sortierungen an den Grenzräumen vor den unwillkommenen Eindringlingen namens Flüchtlingen und will sie inzwischen so schnell wie möglich in ihre angeblich sicheren Heimatländer wieder abschieben. Damit wird deutlich, dass die kapitalistischen Staaten nach strengen Regeln, die ihren ökonomischen und politischen Interessen entsprechen, definieren, welche Personen zu ihrem Staatsvolk gehören und welche nicht, um mit rechtlichen, legitimatorischen und gewalttätigen Mitteln dafür zu sorgen, dass die einheimische Bevölkerung „geschützt“ wird, und wenn es ökonomische Konjunkturen notwendig machen, eben auch aufgestockt wird.

Inzwischen hat sich längst wieder herauskristallisiert, dass man die Flüchtlinge so schnell wie möglich wieder loswerden will, sind sie doch oft bettelarm und möglicherweise ohne die brauchbaren Qualifikationen, haben sie sich als Ausländer schon im Herkunftsland über Gesetze hinweggesetzt oder sind sie gar als Rasse definiert, die dem einheimischen Volkskörper schädlich ist.

Sie fallen den imperialistischen Staaten und ihren Bevölkerungen (größtenteils) schlichtweg zur Last, werden bspw. am besten in den Hotspots vor den Grenzen Europas sortiert und zurückgewiesen oder man errichtet zwecks ihrer weiteren Behandlung Erstaufnahmeeinrichtungen und Lager, die sich bspw. Ankerzentren nennen, transportiert sie an Grenzen und schiebt sie ab usw.

Of course ist selbst das Lager für den Flüchtling erst einmal ein Schutz, aber seine Behandlung richtet sich nicht nach der Hilfe, die für ihn notwendig ist, sondern orientiert sich an ihm als einem Störfall. Wenn die Bild-Zeitung und AFD meinen, Flüchtlinge seien vor allem Kriminelle, Vergewaltiger, Drogenhändler oder Terroristen und große Teile der Bevölkerung dabei mitgrölen, dann ist daran nur so viel wahr, wie Kriminalität eben auch in jeder inländischen Population zu finden ist, wobei die Kriminellen hier oft genug vom Reichtum ausgeschlossen sind und ihr Leben im virtuellen Hartz4-Lager oder als Teil des Prekariats verbringen müssen und deshalb auf die nicht ganz abwegige Idee kommen, kriminell zu werden.

Die Bemühungen von Flüchtlingen, sich außerhalb des Lagers eine Arbeit zu suchen, werden heute meistens unterbunden, insofern das Lager zum einen seinen Status als Provisorium beibehalten soll, zum anderen die finanziellen Aufwendungen des Staates so gering wie möglich bleiben sollen. In den großen Lagern Afrikas oder dem Nahen Osten, zu Millionen-Zeltstädten herangewachsene Elendsquartieren, hängt das Überleben von den Aufwendungen regionaler, nationaler oder supraregionaler Hilfsorganisationen ab, wobei „Leben“ dort auf den Zustand des Wartens bzw. des Vegetierens reduziert ist. Wer kann, flieht dann eben aus dem Lager, oder man bleibt gezwungen, sich auf Dauer im Lager irgendwie einzurichten, während die einheimische Bevölkerung im Lager längst einen Markt für Waren von Handys bis Waffen entdeckt hat.

Seine Staatsbürgerschaft, die er von sich aus gar nicht ablegen kann, muss der Flüchtling beibehalten. Wenn er nämlich keine Papiere besitzt, mit denen er sein Herkunft zweifelsfrei nachweisen kann, dann sieht es für ihn ganz schlecht aus. Wo nämlich Flüchtlinge auf eine Staatsmacht treffen, wird nicht primär ihre Not, der Anlass ihrer Flucht, definiert, beurteilt und eventuell eliminiert, als erstes wird vielmehr ihre Staatsbürgerschaft, also ihrr Herkunft, abgefragt. Die Tatsache, dass es gut verdienende Schleuser gibt, die gefälschte Papiere für Flüchtlinge besorgen, zeigt nur, dass individuelle Fluchtgründe mit den vom Staat anerkannten Fluchtgründen längst nicht zusammen fallen müssen, wobei letztere von eine Reihe situativer politischer Maßnahmen und Regelungen, von sich ändernden Konjunkturen in der Flüchtlingspolitik und von ökonomischen Interessen abhängig bleiben.

Von den 60 Mio. Flüchtlingen, die von UN-Organisationen im Jahr 2015 angegeben wurden, befindet sich nur ein Teil auf dem Weg in die Zentren des Weltkapitals und deren Wohlfühloasen. Zudem sind längst nicht alle, die fliehen müssen und auch den Willen dazu besitzen, zur Flucht tauglich. Flucht vor politischer Verfolgung, materieller Verelendung oder Krieg gelingt den Alten, Kranken oder physisch und psychisch Entkräftete per se nicht. Sie sind als Teil einer globalen Surplusbevölkerung auf das Vegetieren reduziert, als Opfer der Zurichtung ihrer eigenen Staaten, sind sie zugleich das Produkt der neokolonialistischen und imperialistischen Politiken der kapitalistischen Kernstaaten sowie der großen multinationalen Konzerne.

Dies zeigt sich selbst noch daran, dass ohne Smartphone und Internalisierung der kapitalistischen Ware-Geld-Beziehungen heute keinem mehr die Flucht gelingt, wobei aber oft genug eben jede Geldquelle zum käuflichen Erwerb von Lebensmitteln fehlt. Es befinden sich aber auch Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Studenten unter den Flüchtlingen,  deren Lebensunterhalt in Bürgerkriegen ebenso ruiniert wurde. Ethnische Besonderheiten, Religion oder Stammessitten bilden kaum noch einen Grund zur Flucht; das globale Kapital hat solche Gründe in seiner Wanderung über alle Kontinente längst eliminiert.

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