Es schien alles so schön anzufangen und die Herzen der Freunde der traditionellen Formen des Klassenkampfes schlugen schon höher. Am 5. Dezember versammelten sich in Frankreich landesweit um die 1 Million Menschen zu Demonstrationen (1) gegen die geplanten „Reformen“ bei der Rentenversicherung. Gleichzeitig kam es zu Arbeitsniederlegungen bei der Bahn und der Pariser Metro, etliche Lehrer und Beschäftigte des Gesundheitswesens schlossen sich ebenfalls an. Sowohl in Paris, als auch in einigen anderen Großstädten wie Nantes, Toulouse, Lyon, … kam es zu Auseinandersetzungen mit den Bullen, die allerdings, obwohl die Teilnehmerzahlen an den Demos so groß waren, bei weitem nicht die Intensität der Konflikte vor genau einem Jahr bei den Aktionen der Gilets Jaunes hatten, deren Demos um einiges kleiner ausfielen.
Seitdem ist nicht wirklich viel passiert. Bei der Metro in Paris wird immer noch gestreikt, einige Buslinien werden nicht bedient, der Bahnverkehr verläuft nicht wirklich nach Fahrplan und einige Erdöl – Raffinerien werden ebenso lahm gelegt wie die Überseehäfen von Le Havre und Marseille. Sinkende Beteiligung an den letzten beiden Aktionstagen (an der Demo in Paris am letzten Aktionstag nahmen gerade nochmal 5000 Leute teil) und hinter den Türen sondieren die verschiedenen Gewerkschaften die Lage. Wieweit wird die Regierung gehen, was für Kompromisse sind denkbar.
Nichtsdestotrotz kursiert das Gerede vom Generalstreik und selbst zahlreiche deutsche Medien übertiteln ihre Berichte mit diesem Schlagwort. Man könnte auch sagen Träume und Klischees treffen auf die bittere gesellschaftliche Realität. Die Bewegung gegen das loi travail (2) war die letzte große Anstrengung ein geplantes zentrales „(un)soziales Reformvorhaben“ mit den klassischen Mitteln zu Fall zu bringen. Sie scheiterte und starb in Schönheit im Sommer 2016, als Hunderttausende sich an der zentralen Demo in Paris beteiligten und der Umzug stellenweise mehr einem riesigen Riot als einer Demonstration glich.
Die Bewegung der Gilets Jaunes generierte sich genau aus dieser Erfahrung der Niederlage. Die Erfolge der Bewegung gegen die Renten- und Sozialversicherungsreform von Juppé 1995 oder der Bewegung gegen den Erstanstellungsvertrag (CPE) von 2006 waren und sind nicht kopier – und wiederholbar. Stand heute. Und so macht sich dieser Tage eine gewisse Ratlosigkeit breit. Für den kommenden Dienstag ist ein weiterer Aktionstag annonciert, die Beteiligung daran und der Verlauf dürften über das weitere Schicksal der Bewegung gegen die jetzigen Pläne zur „Rentenreform“ entscheiden. In diesem Zusammenhang kursiert auch ein Aufruf für die Bildung eines offensiven cortège de têtebei der zentralen Demo in Paris, zu der auch landesweit Leute anreisen werden. Gab es am 5. Dezember noch diffuses Auftreten bei der Demo (begrenzte Konflikte mit den Bullen auf einer gut zu kontrollierenden Route, einige Tausend waren einfach ausgebrochen und in mehreren großen Gruppen weitgehend ohne Bullenbegleitung zum Endpunkt gezogen), soll jetzt offensiv der Zusammenstoß gesucht werden. Ob dieses Modell des zentralen Zusammenstoßes taktisch erfolgreich sein kann und politisch weiterführend sein wird, ist schwierig zu sagen, die nächsten Tage und Wochen werden jedoch darüber Gewissheit bringen.
„Für einen cortège de tête beim Angriff auf die Hauptstadt“
Seit dem 5. Dezember
erschüttert eine mächtige Bewegung gegen die Rentenreform unser
Land: Der Streikaufruf wird stark befolgt, insbesondere in den
Bastionen der SNCF und der RATP, die Demonstrationen sind riesig und
versammeln Hunderttausende von Menschen in ganz Frankreich.
Aber
die Aufrichtigkeit erfordert von uns, dass wir uns eingestehen, dass
die Durchführung der jüngsten Pariser Demonstrationen, insbesondere
jener vom 10. Dezember, Fragen aufwirft. Es ist lange her, dass wir
eine so apathische, befriedete Demonstration, von der keine
Initiativen ausgehen, gesehen haben. Als ob man sich mit der
Vorstellung abgefunden hätte, von einer dichten Reihe von Polizisten
auf beiden Seiten der Demo bis zum Ankunftsort begleitet zu
werden.
Die Bildung von „festlichen Blöcken“ hat es
ermöglicht, eine lebendige und allen zugängliche Atmosphäre mit
Musik, Gesang, Tänzen und Parolen zu schaffen (3). Außerdem wird
das Verhalten der Demo fließender gestaltet, indem Phasen
übermäßiger Stagnation vermieden werden. Aber diese taktische
Errungenschaft ist nur dann sinnvoll, wenn sie mit anderen Praktiken
und anderen Arten von Interventionen verknüpft ist.
Wir
können nicht akzeptieren, dass eine so mächtige (und potenziell
siegreiche) Bewegung ein so geringes Maß an Antagonismus und
Konflikt ausdrücken soll. Sich auf die “Spontaneität der
Massen” zu verlassen, ist eine heuchlerische Art, sich auf die
Untätigkeit zu einigen. Es ist unerlässlich, dass die
unterschiedlichen Realitäten im Zusammenhang mit der
Situation analysiert und kollektiv nach geteilten Zielen
ausgerichtet werden.
Nach der Rede von Edouard Philippe
erweiterte sich die Streikfront mit der Herstellung einer faktischen
Einheit der Gewerkschaften, wie sie seit 2010 nicht mehr zu sehen
war. Es besteht kein Zweifel daran, dass die nationale Demonstration
am kommenden Dienstag ein entscheidendes Datum für das Schicksal der
Bewegung sein wird. Umso notwendiger ist es daher, dass der
cortège de têteein gemeinsames Vorgehen ausdrückt.
Die Gelben
Westen haben gezeigt, dass sich die Macht nur angesichts von
Kämpfen, die über den festgelegten Rahmen hinausgehen, wirklich
bedroht fühlt. Es ist daher dringend geboten, sich von den vorab
festgelegten Formen des Protestes zu trennen, um sowohl bei
Straßendemonstrationen als auch bei Blockaden das Konfliktniveau
anzuheben. Und zwar zu anderen Zeiten, an anderen Orten, durch noch
zu erfindende Formen. Diese Initiative nicht zu ergreifen bedeutet,
sich selbst zur Niederlage zu verurteilen.
Um von einer
Demonstration der Stärke auszugehen, die wir brauchen, wäre es
sinnvoll, sich in Paris zur wahrscheinlich letzten großen
Demonstration vor den Weihnachtsferien zu verabreden.
Treffen
wir uns also jeden Tag an den verschiedenen Blockadepunkte und
nächsten Dienstag um 14 Uhr an der Spitze der Pariser Demonstration!
(2) Siehe auch „Winter is coming“, meine kommentierte Textsammlung zur Bewegung gegen das loi travail, erschienen 2017 bei bahoe books
(3)
https://non.copyriot.com/ueber-den-cortege-de-tete-am-5-dezember-in-paris/