The riot is over (Athens)

Exarchia, zehn Jahre nach dem Tod von Alexis Grigolopoulus. Die Erschießung des Fünfzehnjährigen durch einen psychisch kranken Bullen hatte 2008 eine Revolte in Griechenland ausgelöst, die, gefüttert von den Zumutungen des deutsch-europäischen Spardiktats, vom anarchistischen Milieu auf weite Teile der Jugend und schließlich auch auf andere, insbesondere migrantische Gesellschaftsgruppen übergriff. Tagelang wurden überall im Land Polizeiwachen angegriffen, Banken niedergebrannt und die Straßen zur Bühne eines radikalen Festes der Verneinung gemacht.

 Ein Freund von Alexis, Nikos Romanos, der den Sterbenden in seinen Armen gehalten hatte, radikalisierte sich in den Auseinandersetzungen ähnlich wie viele seiner Generation – und wurde 2013 bei einem Banküberfall, bei dem Gelder für die Bewegung requiriert werden sollten, verhaftet. Der Sohn eines bekannten Schriftstellers wurde nach seiner Festnahme zusammengeschlagen und gefoltert und auch später im Knast schikaniert – so wurde sein Vorhaben, im Knast weiter an seiner schulischen Ausbildung zu arbeiten, so lange erschwert, bis eine Kampagne Zugeständnisse der Gefängnisleitung erzwang. Auch unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen im Knastrief Nikos zusammen u.a. mit Gefangenen aus bewaffneten Gruppen im Jahr 2016 aus dem Knast heraus zu einem „Schwarzen Dezember“ auf, der weltweit Niederschlag fand. Von Chile bis Australien, vom Friedrichshain bis in die letzten Ecken Griechenlands flammten Feuer der Solidarität und der Revolte auf.

 In Exarchia selbst waren die Riots besonders heftig. Noch während die alljährlich am Abend in der Innenstadt stattfindende, spektrenübergreifende Gedenkdemonstration mit mehreren tausend Menschen von der Polizei mit massenhaftem Gasbeschuss und Schlagstöcken angegriffen wurde, verbarrikadierten verschiedenste Zusammenhänge dutzende Kreuzungen und Straßenzüge rund um das traditionell rebellische Viertel. Bei einer Vollversammlung im Polytechnikum wenige Tage zuvor hatten rund 40 Kollektive, Squats, politische Gruppen Patenschaften übernommen – dementsprechend divers waren auch die Barrikaden. Vom quergestellten und angezündeten Schrottauto über auf die Fahrbahn verbrachten Pflanzenkübeln mitPalmen bis zum NATO-Stacheldrahtverhau oder aufgehäuften Autoreifenwar alles dabei. Vom Zynismus angefressene Beobachter dachten hier erstmals an ein Coffeetable-Buch mit dem schönsten Barrikaden Europas. Dass später am Abend in Würde ergraute Damen mit Zwillen grimmig ihre Ecke halten würden, während Halbglatze tragende Rentner Kisten mit vorbereiteten Mollies aus Kellerfenstern wuchteten, lieferte durchaus Anlass zu romantisierender Verklärung. Es war nicht immer sicher, ob die Tränen, die die Hasskappe benetzten, wirklich dem Gas der Bullen oder doch der Rührung in Rechnung zu stellen waren.

In diesem Jahr war dann aber einiges anders. Die Gedenkdemonstration der Schüler_innen und Student_innen verlief noch wie in den Jahren zuvor: Kids, die Ampeln und Leuchtreklamen zerschlagen, Steine auf eine Bank, ein paar wenige Mollies, erste Gasgranaten. Am Rande westeuropäische Riot-Touristen, die das Ganze mit einer Mischung aus Amüsement und Ehrfurcht verfolgten. Nach ein oder zwei Stunden war der Spaß vorbei und alles rüstete sich für den Abend.

 Exarchia war auch wie in früheren Jahren auf das Eindringen der Bullen ins Viertel vorbereitet und an vielen Ecken entstanden schon am Nachmittag, lange vor dem Start der Demonstration, teilweise brennende Barrikaden. Hinter den Kunstwerken aus Müll und Feuer viele sehr junge Leute, unverkennbar auch viele aus dem westeuropäischen Ausland. Aus den verschiedenen deutschen Universitätsstädten waren Delegationen angereist, erkennbar an der Uniform ihrer viel zu teuren Klamotten. Franzosen, Italiener, sogar Dänen und US-Amerikaner hatte es in das Straßengewirr rund um den Plata Exarchia verschlagen; es kursierten schon Witze, so viele Deutsche und Italiener hätte es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Athen gegeben. Überhaupt wurde die seit Jahren wahrzunehmende und zunehmende Internationalisierung der Akteure des Riots auch in vielen kritischen Anmerkungen deutlich: Comrades welcome, anarcho-tourists fuck off! hieß es auf einem im Internet veröffentlichten Flyer, Plakate im Kiez kritisierten die durch Air-BnB-Vermietungen an Riot-Touristen verstärkten Gentrifizierungstendenzen, ein Wandbild, das sich ironisch Fire`n`B-Tourist Guide nennt, zeigt ein Viertel, in dem die Preise für Kurzzeitvermietungen an die Größe der Feuer in den Straßen gekoppelt sind.

 Man fühlt sich vermutlich selbst dann ertappt, wenn man auf eine jahrelange Praxis der Solidarität mit den Projekten vor Ortverweisen kann. Einige deutsche Autonome haben in diesem Jahr Medikamente für die freie Klinik im besetzten Zentrum K-Vox gesammelt; Ablasshandel im Spannungsfeld von Antagonismus und Konsum, Aufstandsübung mit dem nicht ganz so schlechten Gewissen.

In den Tagen vor dem 06.12. griffen Gruppen an verschiedenen Orten in Athen die Bullen an, auch das Haus eines Syriza-Politikers wurde samt davor geparkter Streife Ziel einer Aktion mit Steinen und  Brandflaschen; anders als in anderen Jahren aber gab es in den Nächten keine größeren Auseinandersetzungen in Exarchia. Die Konflikte zwischen ins urrektionalistischem Millieu und ehergemäßigten Anarchist_innen waren auch ohne detaillierte Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten spürbar, was sich auch auf den Verlauf des sechsten Dezembers selbst auswirken sollte.

Die Polizeipräsenz rund um das Viertel stieg parallel zum Aufkommen von kleinen, sportlich gekleideten Grüppchen mit blondem Haar und vermeintlich wissendem Blick. Der reisende Flügel der Imaginären Partei ist wie ehedem  mehrheitlich männlich und weiß, auch wenn derAnteil nicht-männlicher Personen an den Auseinandersetzungen zuBeginn nicht unerheblich ist. Bereits am Morgen steht ein Helikopter über der Stadt, auch Drohnen beobachten das Geschehen. Es ist offensichtlich aufgerüstet worden. Dass es in der Nacht ruhiggeblieben ist, war angesichts der recht massiven Anwesenheit ausländischer Antagonisten nicht selbstverständlich. Rund um den zentralen Platz, auf dem wie immer ein paar kleine Feuer brannten, wurde viel Deutsch und Französisch gesprochen, es herrscht eine Atmosphäre des meet´n´greet. Doch mit den ersten Mollies und Granaten verschwinden die meisten Griechen von den Straßen; es ist vor allem eine Mischung aus Kids, Migranten und Touristen, die in den ersten Stunden die Auseinandersetzungen trägt. Von einer geschlossenen Verteidigung des Viertels wie in den Vorjahren kaum eine Spur. Und so dauert es auch nicht sehr lange, bis die Riotcopsdie ersten unbewachten Barrikaden nehmen und plötzlich aus mehrerenRichtungen gleichzeitig den Platz stürmen. Wen sie erwischen, den schlagen sie zusammen, es gibt einige wenige Festnahmen. Es scheint kurz, als wäre alles sehr schnell vorbei und die seit einiger Zeit eingesetzten Wasserwerfer beginnen bereits mit dem Löschen.

Doch kaum hat die Polizei den Platz genommen, beginnt es von den Dächern zu regnen: Steine, Mollies, Farbeimer, Toilettenschüsseln, ja ganze Wohnungseinrichtungen sorgen dafür, dass sich die Bullen sehr schnell zurückziehen. Der nun einsetzende Häuserkampf zieht sich über viele Stunden; auf etlichen Dächern verschanzen sich hunderte samt ihrem Material. Während immer mehr Mollies von den Flachdächerngeschmissen werden, schießen die Bullen Gas auch in Wohnungen und Hauseingänge, das Echo der Blendschockgranaten wird zu einer dystopischen Symphonie.

Als die Auseinandersetzungen irgendwann in den Morgenstunden endlich abflauen, ist unklar, wer hier eigentlich was gewonnen hat. Wer im nächsten Jahr erneut im Dezember nach Athen reisen möchte, sollte vorher aufmerksam den Genoss_innen vor Ort zuhören. Denn der allgemeine Riot ist vorbei.

Foto: Stefan Paulus

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