Thomas Nails Magnum Opus “Being and Motion” – eine Sensation in materialistischer Philosophie (3)

Die Falte

Das Sein fließt, aber es faltet sich auch. So beginnt Nail den Abschnitt über die Falte. Das Sein faltet sich selbst in ständigen Zyklen und Patterns eines dynamischen Gleichgewichts und kreiert dabei regionale Stabilitäten-in-Bewegung. Sie wird durch die Kreuzung eines flows mit sich selbst produziert. Und sie erklärt die kinetische Struktur einer relativen Stasis oder Stabilität, die aus dem Prozess der Faltung selbst entsteht. Nail vergleicht die Falte mit einem Whirlpool, der in den Falten des Seins existiert. Einer relativen Stasis, die gegenüber dem flow und dem Event immer sekundär bleibt. Dabei transzendiert die Falte den flow keineswegs, sie ist einfach die Umleitung eines flows durch Kreuzung oder den Loop zurück auf sich selbst. Falten und flows sind im selben kinetischen Prozess co-konstituiert.

Dabei unterscheidet sich die Falte von der Konfluenz des flows insofern, als die Falte als ein singulärer Loop sich auf sich selbst zurückbiegt. Damit ist die Falte die Wiederholung eines kinetischen Differentials, dem Kreis, indem sie sich im annähernd selben Loop-Pattern wiederholt und damit eine neue Stabilität kreiert. Der Punkt, an dem sich ein flow mit sich selbst kreuzt, nennt Nail „Periode“. Und obgleich der flow sich kontinuierlich und verändernd um den und im Loop bewegt, bleibt dieser haptische Punkt immer derselbe. Die Periode kreiert kein perfektes Gleichgewicht, sondern besitzt eine frequenzielle Dichte, in dem sich die Falte ständig überlappt, i.e. eine Region der Kreuzung um einen Attraktor erzeugt. Ein Kreis wiederum ist die Bewegung zwischen dem Abflug eines flows vom Punkt der Biifurkation und seine Ankunft am selben Punkt. Dieser Punkt ist der Attraktor des Kreises mit sich selbst. Nail denkt damit auch das Konzept der Identität neu, nämlich als ein Effekt oder Produkt des primären Prozesses einer zyklischen und ständigen Bewegung. Der Kreis als ein Prozess der Selbst-Kreuzung eines flows mit sich selbst bedeutet nicht, dass der flow komplett diskret bleibt, während die Periode einfach eine Selektion aus dem kompletten Kreis ist. Dieser produziert zwar Identität, aber dies ausschließlich durch Bewegung. Dabei erhält die Falte einerseits ständig neue Bewegungen von Außen, andererseits verliert sie während ihrer ständigen Kreuzungen auch Bewegung. Deshalb ist die Falte lediglich eine regionale Erfassung der Bewegung innerhalb einer bestimmten Periode. Weil die Falte nur in der kontinuierlichen Bewegung, die in sie hinein fließt und sie verlässt, ist, kann der Kreis keine Einheit einer ideellen Identität sein, sondern nur ein kinetischer Prozess, die Einheit eines Prozesses der kinetischen Differentation.

Es ist die Ko-Emergenz von periodischer Identität und zyklischer Einheit, welche die Existenz der Falte konstituiert. Das heißt wiederum, dass die Existenz einfach persistent als differenzielle Sebst-Wiederholung von etwas mit sich selbst ist. Wenn das Sein ein kontinuierlicher Fluss ist, dann kommt etwas zu einer konkreten Existenz, wenn es fähig ist, einen konsistenten Kreis oder Zyklus der Selbst-Identität zu reproduzieren. Deshalb ist die Existenz nicht statisch oder formal, sondern kinetisch und praktisch und somit ein Prozess oder eine Bewegung.

Nail führt dann den Begriff der Sensation ein, eine kinetische Struktur der Periode selbst als der doppelte Affekt von Periodizität. Es geht hier um die kinetische Differenz zwischen der Sensibilität und dem Sensibilisierten. In der Periode der Sensation sind beide identisch, aber sie sind in der kontinuierlichen Bewegung des flows durch seinen Kreis differenziert. Die Sensation ist der Sinn des Sensibilisierten als die kinetische Identität des kinetisch Differenten. Sie ereignet sich, wenn ein flow sich selbst affiziert. Dabei fühlt sich jemand als ein Anderer, das heißt aber, das in sich selbst und das für sich selbst sind obgleich differenziert zwei Aspekte desselben beings. Und dies als eine kinetische Struktur der Selbst-Rezeptivität als die Kapazität zur selben zeit zu affizieren und affiziert zu werden. In der Sensation wird jeder Punkt zu sich selbst als ein anderer im Verhältnis zu sich selbst. Und jede zyklische Wiederholung einer Sensation ist die Wiederholung einer kinetischen Differenz.

Der kinetische Prozess der Sensation besteht somit aus zwei unterschiedenen Operationen, der Rezeptivität und der Umleitung, das heißt, die Sensation erlaubt es den flows zu passieren oder entschleunigt sie durch Umleitung. Nur am Punkt der Kreuzung zwischen zwei differenziellen Region desselben flows kommt es zur Sensation, und zwar als eine sich wiederholende Kreuzung von Differenzen und eben nicht als Replikation eines vorherigen Punktes. Die Sensation ist ein Chiasmus, der die Operation der Rezeptivität und der Umleitung in einer einzigen Periode kombiniert. Die Hand, die berührt, wird ebenso durch das berührt, was sie berührt.

Wenn ein flow sich zurück faltet und sich mit sich selbst kreuzt, dann produziert er die Sensation von etwas, dem Sensibilisierten. Dabei entstehen durch periodische Sensationen Qualitäten, womit diese kein Attribut schon existierender Substanzen sein können. Vielmehr werden die Qualität und das Ding zur selben Zeit in einer Falte produziert, insofern das Ding nichts anderes die Konjunktion seiner kinetischen Affekte ist. Damit besitzt die Qualität auch keine Essenz.

Die Selbst-Kreuzung des flows ist eine Periode der Sensation, aber sie definiert auch die kinetische Qualität des Sensibilisierten. Die Periode selbst ist dabei keine logische oder abstrakte Identität (A=A), sondern eine kinetisch qualifizierte Identität als eine gewisse Solidität, Größe, Geschwindigkeit, Farbe, Temperatur etc. Kinetische Theorien in der Physik zeigen, dass alle Partikel sich konstant in kontinuierlichen Frequenzen oder Zyklen und Wellenformen bewegen und vibrieren. Subatome Partikel, Atome und Moleküle bewegen sich und besitzen eine Frequenz. Jede Materie hat eine Frequenz oder Wellenform der Bewegung, die ihre Qualität auf den verschiedenen Ebenen der Emergenz definiert. So definiert die kinetische Dichte der Falten die feste, liquide und gasförmige Qualität eines Dings, während die kinetische Frequenz das Sichtbare, Hörbare und Olfaktorische des Dings definiert. Die Wellentheorie der Materie zeigt, dass die Qualität der Materie durch ihre Wellenform definiert wird. Qualitäten sind damit das Resultat kinetischer Affektionen, flows, deren Dichte, Gestalt, Geschwindigkeit und Frequenz repetitiv und direktional ist. Eine Falte besitzt eine Wellenform, weil sie eine Periode besitzt, in der etwas sie verlässt und zu sich selbst in verschiedenen Geschwindigkeiten und Zyklen zu sich selbst zurück kommt. Dabei ist der Grad einer Qualität relativ zu einer Periode, durch die alle verbundenen Zyklen passieren.

Falten haben natürlich auch eine quantitative Dimension, insofern ihre kontinuierlichen Zyklen als numerisch diskrete Einheiten behandelt werden. Dabei sind Qualität und Quantität einfach nur zwei Dimensionen derselben kontinuierlichen Bewegung der Falte. Während die Qualität die Periode oder den Punkt der Sensation der Falte beschreibt, beschreibt die Quantität die Periodizität als ein Ganzes, als identisch und als einen komplett vereinheitlichten Zyklus. Die aktuelle Physik akzeptiert die qualitative Kontinuität der Bewegung der Materie als Quantenfelder, aber auch die Quantifizierungen dieser Felder als unterschiedene emergente Ebenen: Atome, Moleküle, Zellen, Tiere, Pflanzen, Galaxien etc. Dabei ist die Quantität nichts weiter als ein Zyklus einer qualitativen Falte von Bewegung, die als Eins angenommen wird.

Nail kommt dann zum Begriff der Pore. Die Pore oder das Öffnen einer Falte ist das, was die Falte von sich selbst differenziert, womit sie kein singulärer solider Punkt ist, sondern eine Kreuzung von zwei distinkten Punkten innerhalb desselben flows. Hätte die Falte keine Poren, wäre sie komplett homogen, selbst-identisch und statisch, und deshalb muss sie eine Differenz zwischen sich selbst und sich selbst besitzen. Auch die miteinander verbundenen Zyklen einer Falte, die ihre qualitativen und quantitativen Grade definieren, besitzen Poren. Dabei ist die Pore keineswegs als ein negativer oder leerer Platz inmitten der Falte zu verstehen, sondern als die Chora einer Falte, das heißt, sie ist der positive und kreative Prozess des flows selbst, der durch die eigene Bewegung einen neuen Raum eröffnet. Die Differenz zwischen einer Falte und sich selbst ist die Pore, aber zwischen dieser Pore und dieser Falte gibt es eine weitere Falte und eine weitere Pore, die diese Falte von sich selbst unterscheidet und so weiter.

Falten werden durch eine oder mehrere Konjunktionen (Zusammentreffen) miteinander verbunden, wobei diese die Verbindung zwischen einer oder mehreren Kreuzungen sind. Die Konjunktion von Falten nennt Nail ein „Ding“, das qualitative und quantitative Seiten besitzt. Das verknüpfte Ding ist ein Bild. Nail zeigt am Stuhl, dass er eine Konjunktion einer kinetischen wellenförmigen Qualität mit einer gewissen Solidität (Temperatur, Farbe, Textur) ist und somit sein sensorisches Bild erzeugt. Gleichzeitig hat er vier Beine etc. und ist damit eine Quantität. Eine numerische Objektivität. Die “Dingheit“ des Stuhls ist die Differenz zwischen allen verbundenen Qualitäten und Quantitäten, die es selbst nicht hat, aber mit ihm verbunden sind. Desto mehr Qualitäten ein Ding hat, desto mehr Poren hat es. Und je mehr Poren es hat, desto öfter kann es geteilt oder durch andere Falten und Felder penetriert werden, die es von innen und außen transformieren. Eine Pore ist eine Differenz zwischen flows, und ein Ding ist eine Differenz zwischen dem, was mit ihm verbunden ist, und was nicht. So sind selbst die anorganischen Körper der Minerale nichts weiter als relativ stabile Kombinationen von Falten in einer kontinuierlichen Transformation kinetischer Energie. Eis, Wasser und Luft sind relative Stadien einer kontinuierlichen Konjunktion im fluiden Körper der Erde. Auf der mikroskopischen Ebene sind alle anorganischen und organischen Körper Konjunktionen von kleineren Körpern usw. , die alle auf jeder Ebene in konstanter Bewegung sind. Flows von Molekülen und Atomen bewegen sich kontinuierlich und verbinden sich miteinander. Dabei sind die flows immer auch Vektoren und Tensoren in den Dingen, können aber auf sie nicht reduziert werden.

Es lassen sich Konjunktionen in Injunktionen, Kreisläufe und Disjunktionen unterscheiden. Die Injunktion ist ein inklusives Verbinden von zwei und mehr Kreuzungen,sodass der Zyklus des einen mit dem Zyklus des anderen identisch ist, i.e. eine inklusive Identität von zwei oder mehr Falten. Der Kreislauf wiederum ist eine Konjunktion einer oder mehrerer Falten in einer dritten, größeren Falte, die als gemeinsamer Background für die anderen Falten dient und sie zusammen bringt. In diesem Zusammenhang funktioniert das Konzept der Kausalität nur als ein Shortcut für längere Beschreibungen einer kinetischen Situation.

Der dritte Typus der Konjunktion ist die Disjunktion, ein kinetischer Prozess, bei dem ein oder mehrere flows die Falte verlassen, d.h., es handelt sich um eine Entropie von flows. Und ohne Bewegung gibt es keine Entropie und keine Thermodynamik, wobei das zweite Gesetz der Thermodynamik lediglich besagt, dass die Bewegung zunehmend in Unordnung übergeht, aber dies nicht immer der Fall sein muss. Da die Bewegung stochastisch ist, ist es möglich, dass Ordnung und Neganthropie auch emergieren kann, auch wenn es weniger wahrscheinlich ist.

Im nächsten Teil gehen wir zur Besprechung des Feldes über.

Foto: Stefan Paulus

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