Wenn ich grob einschätzen sollte, wie sich das Verhältnis von Vernunft und Geschichte bei Marx darstellt, würde ich folgendes sagen: Das Kapitalverhältnis gilt Marx als notwendiges Übel, weil ohne seine Errungenschaften offenbar kein Verein freier Menschen möglich ist.
Wo Marx diese Errungenschaften erwähnt, tut er dies an den grossartigsten Stellen mit feiner Zurückhaltung: “Es ist gesagt worden und mag gesagt werden … ” (Ro/ 97) oder er benutzt die englische Sprache. Dass kein Weg am Kapitalverhältnis vorbeigeführt hat, ist zwar zum Verzweifeln idiotisch und in letzter Konsequenz so unbegreiflich wie die Geschichte insgesamt, aber es ist eben so.
Erst unter der Fuchtel des Wertgesetzes fingen die Menschen an, allgemeinen Reichtum zu produzieren. Dass sie diesen allgemeinen Reichtum nicht immer schon besessen haben, bleibt für immer unverständlich, und nur die Religionen haben durch ihren Schwindel diesen ärgerlichen Blödsinn gerechtfertigt und begründet.
Dass schliesslich kein vernünftigeres Produktionsverhältnis als ausgerechnet das terroristische, menschenverwüstende Kapital die Menschen zur Produktion der materiellen Basis eines Vereins freier Produzenten getrieben hat, ist wiederum eine bittere Tatsache, die man zwar konstatieren muss, aber doch eigentlich schlecht begreifen kann. Ich würde deshalb nicht von weltgeschichtlich unvermeidbaren Dingen sprechen, denn diese Redeweise setzt eine in der Geschichte waltende Vernunft voraus, die fast an Vorsehung grenzt.
Das Kapital vorausgesetzt, müssen wir beispielsweise die so genannte ursprüngliche Akkumulation als einen unvermeidbaren Vorgang begreifen. Das Kapital selbst aber ist weltgeschichtlich so wenig unvermeidbar wie es sich logisch aus seinen Voraussetzungen nicht erklären lässt. Der berühmte Satz, dass der Schlüssel zur Anatomie des Affen die Anatomie des Menschen sei, ist auch so zu verstehen, dass die Anatomie des Affen eben eine andere wäre, wenn es keine oder andere Menschen gäbe, und dieser Satz ist vor allem so zu verstehen, dass die Anatomie des Menschen sich nicht logisch aus der Anatomie des Affen ableiten lässt.
Man kann also zwar zeigen, dass ein früherer Zustand die Voraussetzung eines späteren gewesen ist, aber man kann deshalb nicht sagen, dass sich aus dem früheren Zustand zwangsläufig der spätere hat entwickeln müssen, mehr noch: Der frühere Zustand ist keineswegs die unumstössliche Basis der späteren Entwicklung, sondern ein von der späteren Entwicklung geprägtes Konstrukt, d.h. der Ursprung und der Verlauf der Geschichte ist immer durch ihr gegenwärtiges Resultat vermittelt. Dass die Erkenntnis der Menschen stets eine spezifische historische ist, ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Geschichte kein konsequent logischer Prozess ist, der sich nach immanenten, stets gleichbleibenden Gesetzen entwickelt. Wenn man die Geschichte unter die Bestimmungen der Vernunft setzt, darf man nicht vergessen, dass weder die Geschichte noch ihr Ausgangspunkt, also die Natur, jemals vernünftig waren. Sie können dies schon insofern nicht gewesen sein, als die Vernunft etwas erst spät in der Geschichte Entstandenes ist, und also von den entlegenen Epochen, die begriffen werden sollen, sehr verschieden.
Selbst dieser Satz setzt allerdings die historische Vernunft schon voraus, und er kann nur gedacht und ausgesprochen werden, wenn sich durch ihrerseits unverständliche geschichtliche Zufälle eine Ahnung von historischer Vernunft, und das heisst immer auch: vernünftiger Historie gebildet hat. Der vernunftlose Zufall in der Geschichte wird gerade an ihren Brüchen offenbar. Zwischen dem Kapital und den vorangegangenen Gesellschaftsformationen gibt es zum Beispiel im strengen Sinn keine Kontinuität. Warum das Kapitalverhältnis sich ausgerechnet im Europa des siebzehnten Jahrhunderts bildete, kann man nicht erklären. Die Voraussetzungen wären vielleicht auch anderswo und früher gegeben gewesen, und alle Voraussetzungen zusammen machen noch kein Kapital, insofern dieses etwas von seinen nichtkapitalistischen Voraussetzungen wesentlich Verschiedenes ist. Das Kapitalverhältnis ist gerade nicht reduzierbar auf eine Konstellation nichtkapitalistischer Faktoren, und eine vermutlich beliebig verlängerbare Liste von Voraussetzungen aller Art würde niemals den stringenten Begründungszusammenhang darstellen, der später das Kapital, unter der Voraussetzung, dass es schon existiert, bestimmt. Die Entstehung des Kapitalverhältnisses, und das heisst: Die Entstehung von Vernunft in der Geschichte gehorcht also keiner geschichtlichen Logik, und dieses Schandmal aller historischen Vernunft, diesen Makel ihrer erbärmlichen Herkunft, hat Marx stets im Auge behalten, insofern er unerbittlich darauf bestand, das Kapital logisch aus seinen Gesetzen, und nicht historisch aus seinen Entstehungsbedingungen zu begreifen.
Im Gegensatz zu Engels hat er der Versuchung widerstanden, die Kritik der politischen Ökonomie in eine Geschichtsschreibung von fataler Plausibilität umzumünzen, eine Geschichtssehreibung, die mit dem allwissenden Erzähler auch die allwissende Vorsehung voraussetzt, eine Geschichtsschreibung, in der die sperrigen, spröden, furchtbaren, aller Vernunft spottenden Momente kassiert sind, weil sie stets nur als in weiser Voraussicht geplante Entwicklungsstufen der Menschheit erscheinen.
Wo das Kapitalverhältnis also herkommt, lässt sich nicht sagen, aber wenn es einmal da ist, wird die Geschichte für einen Augenblick logisch – freilich nur im Hinblick auf einen Zweck, der das Kapital bereits transzendiert. Genauer: Die Existenz des Kapitals eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzen. Ob diese Möglichkeit von den Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische, sondern eine praktische Frage. Wenn auf das Kapitalverhältnis ein Verein freier Menschen folgt, ist es ein Fortschritt gewesen. Wenn auf das Kapitalverhältnis der Atomkrieg folgt, wird man es, als Vorstufe dieses Atomkriegs, hingegen kaum als Fortschritt bezeichnen können. Ohne den Begriff des Fortschritts aber ist es unmöglich, von Logik in der Geschichte zu sprechen. Nur wenn man einen Ursprung und ein Ziel schon voraussetzt, stellt sich Geschichte überhaupt als ein Prozess mit unterscheidbaren, nämlich in Relation zum Ursprung und zum Ende verschiedenen Entwicklungsstufen dar, und die Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen ist die erste Voraussetzung, deren zeitliche Abfolge in einen logisch zwingenden Zusammenhang zu bringen. Logik und Teleologie hängen hier offenbar eng zusammen.
Logik ist immer zwar die Sache, aber die Sache, gesetzt unter die Bestimmung des Subjekts. Die Natur ist zwar kein Menschenwerk, die Naturgesetze aber sind dies immer. Die logischen Zwänge setzen also immer ein frei oder willkürlich Zwecke setzendes Subjekt voraus. Nur wenn ich der Natur mit einem bestimmten und von der Natur verschiedenen Willen entgegentrete, erfahre ich am Widerstand, den sie gegen meinen Willen leistet, ihre eigene Gesetzmässigkeit.* Der verrückte Eigenwille zum Beispiel, mitten im Winter unbedingt Erdbeeren essen zu wollen, ist die Voraussetzung für die Erkenntnis, dass diese nur im Frühsommer zu haben sind. Ein Bär hingegen, der Winterschlaf hält und ähnlichen Gesetzen unterworfen ist wie die Erdbeeren, würde von diesen Gesetzen nichts merken.
Die zwingende Logik des Wertgesetzes erlaubt daher Rückschlüsse auf die Existenz eines Subjekts, und zwar eines Subjekts, welches nicht einfach nur der Natur, sondern dem gesellschaftlichen Leben der Menschen selber als Subjekt gegenübersteht. Damit sind die Menschen einerseits das die Logik des Wertgesetzes konstituierende Subjekt, andererseits die eben der von ihnen selbst konstituierten Logik unterworfene Sache. Es ist dies ein Widerspruch, der genau in dem Moment auftaucht, wo die Gesetzmässigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Menschen als wesentlich erkannt wird, der folglich schon in Montesquieus Buch “Vom Geist der Gesetze” zu finden ist und dort zur bloss graduellen Differenz neutralisiert wird. Montesquieu versucht, die Freiheit zu retten, indem er beschwichtigend sagt, die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens der Menschen seien nicht so unbedingt, so perfekt wie die Naturgesetze. Anders verfährt Marx. Er nimmt den Anspruch der politischen Ökonomie, Wissenschaft zu sein, ernst, und vor genau dieser Ernsthaftigkeit wird der Anspruch zunichte. Die Logik der politischen Ökonomie bleibt stets partiell und partikular, ihrem Anspruch, den ganzen gesellschaftlichen Lebensprozess der Menschen zu erklären, kann sie nicht genügen. An ihrem eigenen Anspruch gemessen, erweist sich die Logik der politischen Ökonomie als lückenhaft und widersprüchlich, und das Subjekt, worauf diese Logik Rückschlüsse erlaubt, entpuppt sich als Aufziehpuppe, als bewusstloser Automat. Marx kann also zeigen, dass die Logik der politischen Ökonomie unter den Prämissen, unter denen sie denken muss, scheitert, und er tut dies mit nervtötender Akribie.
Die Prämissen aber, die für das Scheitern der politischen Ökonomie verantwortlich sind, sind selbst keine logischen, sondern ganz reale. Eben deshalb hält Marx keine wissenschaftliche, sondern eine wirkliche Revolution für nötig, und diese vorweggenommene wirkliche Revolution ist eine Prämisse des Marxschen Denkens. An dieser Stelle gesellt sich gewissermassen zu Marx, dem nimmermüden, pedantischen Tüftler, der sich über Seiten hinweg in chaotische Rechenoperationen verstrickt und sie am Ende mit “lassen wir das” kommentiert – da gesellt sich also zu Marx, dem penetranten Wissenschaftler sein Zwillingsbruder, nämlich Marx als revolutionäres Schreibtischsubjekt. Das Kapital als Vorstufe zu einem Verein freier Produzenten betrachtet, also diesen Verein freier Produzenten vorausgesetzt, werden die Lücken und Widersprüche der politischen Ökonomie begreiflich, und der Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit im gesellschaftlichen Leben der Menschen, eine der zentralen Aporien bürgerlichen Denkens, löst sich materialistisch gewendet dahin auf, dass die freien Produzenten das Wenige, was zu tun sie noch gezwungen wären, sehr wohl in freier Übereinkunft regeln könnten und keines über ihnen schwebenden gesetzmässigen Zusammenhanges mehr bedürften. Die Voraussetzung dieser theoretischen Auflösung der Widersprüche der politischen Ökonomie ist aber so wenig eine logische, wie zuvor die Unfähigkeit zur Auflösung dieser Widersprüche nicht logisch, sondern real begründet war. Man muss das Kapital vielmehr abschaffen wollen, wenn man es begreifen will, und dieser Wille, das Kapital abzuschaffen, hat seinerseits aussertheoretische Gründe. Über die Kontinuität zwischen politischer Ökonomie und Kritik der politischen Ökonomie ist hier wieder der Bruch nicht zu vergessen, und als Bruch ist hier zu verstehen der Entschluss des revolutionären Schreibtischsubjekts, sich mit keinen Verhältnissen abfinden zu wollen, welche den Menschen unterdrücken, ausbeuten, quälen, verdummen, entmündigen. Mit diesem revolutionären Entschluss hatte nun der Wissenschaftler Marx insofern Glück, als dieser Entschluss die aussertheoretische Prämisse zur Klärung von Ungereimtheiten in der politischen Ökonomie war. Ungereimtheiten allerdings, an denen das offizielle Interesse schon längst vorübergegangen war, weshalb Marx auch nie Professor wurde.
Zwar ist das Kapital nur begreiflich, wenn man es abschaffen will, aber wenn man es abschaffen will, ist es immerhin tatsächlich zu begreifen. Eben dies würde ich von der Entwicklung seit meinetwegen 1870 nicht behaupten. Warum diese Entwicklung, zwei Weltkriege und der Faschismus inklusive, als Voraussetzung für einen Verein freier Menschen notwendig wäre, wüsste ich nicht zu sagen. Dies scheint mir der Grund für das Auseinanderbrechen der Einheit von Wissenschaft und Revolutionstheorie zu sein, die freilich, wie ich auszuführen versuchte, schon bei Marx keine, also noch niemals eine bruchlose war. Aber immerhin arbeitete Marx unter Verhältnissen, die sich in einer Theorie ausdrückten, der das erlösende Wort fast schon auf der Zunge lag, unter Verhältnissen, wo so etwas wie ein Verein freier Produzenten am Horizont erahnbar wurde, weil tatsächlich um ihre Emanzipation kämpfende Menschen in ihrem Kampf dessen Ziele teilweise schon antizipierten. In solchen Situationen finden Vernunft und Geschichte ausnahmsweise für einen Augenblick zueinander, ist die Revolution vernünftig und die Theorie revolutionär – mit wesentlichen Einschränkungen, die ich nun kurz entwickeln will.
Den Verein freier Produzenten schon vorausgesetzt – so wurde bisher argumentiert – wird das Kapitalverhältnis logisch. Diese Voraussetzung und also die sich auf sie gründende Logik tritt aber solange in Widerspruch zur Realität, wie die Revolution noch nicht stattgefunden hat, der Wille des erkennenden Subjekts, welcher Voraussetzung seiner Erkenntnis, noch nicht verwirklicht ist. Logik – so wurde gesagt – ist die Sache, gesetzt unter die Bestimmungen des Subjekts. Solange die Sache also nicht wirklich unter die Bestimmungen des Subjekts gesetzt ist, bleibt die Logik widersprüchlich oder Wahn. Die Widersprüche, die immer ein der Realität widersprechendes Subjekt voraussetzen, ein Subjekt, welches die Realität unter von ihr selbst verschiedene Bestimmungen setzt – diese Widersprüche also dröselt Marx mit zermürbender Akribie auf. Marx kann zeigen, dass die Logik des Kapitals an inneren Widersprüchen zerbrechen wird – wobei Voraussetzung dieser Logik freilich wieder die vorausgesetzte Revolution ist. Wenn auf das Kapital nicht der Verein freier Produzenten folgt, zerbricht eigentlich nichts, sondern es bleibt alles beim alten. Die grossartige Vernunft, unter welche Marx das Kapitalverhältnis setzt, resultiert nämlich aus dem greifbar gewordenen Telos der endgültigen Befreiung der Menschheit, nur in Bezug auf diesen ihren letzten Zweck kann man Vernunft und Widersinn in der Geschichte unterscheiden. Nicht weniger als die profane Arbeit hat die historische Arbeit zur Bedingung, dass der Produzent das Produkt schon im Kopf hatte, bevor er Hand anlegte. Und ebenso wie die profane Arbeit ist die historische Arbeit stets mit dem Risiko behaftet, zu misslingen. Wenn aus dem im Kopf antizipierten Produkt schliesslich kein wirkliches wird und dies weiss man vorher nie mit letzter Sicherheit – dann war alle Mühe vertan.
Folgt also auf das Kapital nicht der Verein freier Produzenten, so ist es auch kein historischer Fortschritt gewesen, sondern es landet auf dem Friedhof zwar bemerkenswerter, aber untergegangener Kulturen, wird aus einem Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie zu einem Gegenstand der Völkerkunde. Das diskriminierende Kriterium ist immer, ob eine Epoche zur Revolution taugt. Wenn nicht, unterscheidet sie sich von allen anderen nur gradüll. Voraussetzung sogar der Unterscheidung von Kapitalismus und Barbarei ist immer noch die Erwartung der Revolution. Wenn man sie aufgibt, wird diese Distinktion hinfällig und weicht einem Kaleidoskop verschiedener Gesellschaftsformationen und Epochen.
Indem Marx das Zerbrechen des Kapitalverhältnisses prognostizieren kann – indem Marx also das Vorübergehen jener revolutionären Situation prognostizieren kann, die seiner Darstellung des Kapitals als widersprüchlichen Verhältnisses konstitutiv ist, insofern kann Marx die mit diesem Zerbrechen verbundenen Alternativen nennen: Entweder die Menschheit konstituiert sich wirklich zum historischen Subjekt, oder sie darf sich darauf gefasst machen, von der zweiten Natur, die noch etwas ungemütlicher ist als die erste, erschlagen oder doch wenigstens zurückgeschlagen zu werden, und zwar nicht nur auf geschichtlich, sondern eventüll sogar naturgeschichtlich zurückliegende Entwicklungsstufen, auf die Stufe jener “schwachen und gehetzten Tierarten”, von denen Marx im Kapital noch metaphorisch spricht, zu denen die Menschen nach der nuklearen Katastrophe aber durchaus tatsächlich mutieren könnten. Marx kann zeigen, dass die für eine befreite Menschheit notwendigen Produktivkräfte existieren, und dass diese Produktivkräfte sich in masslose Destruktivkräfte verwandeln werden, wenn die Revolution nicht gemacht wird. Marx kann also Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution beweisen – mehr aber auch nicht, insofern sie ein Akt ist, der sich nicht in den Bedingungen seiner Möglichkeit und den Zwängen seiner Notwendigkeit erschöpft.
Logische Konsequenz aus der Geschichte ist die Revolution nur unter der Voraussetzung, dass ein historisches Subjekt bereits existiert. Die Existenz dieses Subjekts ist aber ihrerseits nicht logisch zu begründen. Weil die Voraussetzungen von Geschichte immer idiotisch sind und der wirkliche Eintritt der Menschheit in die Geschichte dies nicht mehr sein soll, klafft zwischen beiden auch eine rational nicht überbrückbare Lücke. Die Revolution setzt immer die Menschheit als historisches Subjekt schon voraus, obwohl sie dies erst in der Revolution wirklich werden kann. Die Konstitution der Menschheit zum historischen Subjekt bleibt also immer ein Stück Usurpation, Antizipation, Spekulation – ein Sprung ins kalte Wasser.
Es bleibt bei der Konstitution der Menschheit zum historischen Subjekt unter Verhältnissen, die dies eigentlich nicht erlauben, also unter allen Verhältnissen, unter denen Revolution erforderlich ist, stets ein irrationales Restchen stehen, die freie, und das heisst: Nicht am Schreibtisch prognostizierbare Übereinkunft der Betroffenen nämlich, deren spontaner Wille. Zu Marxens Zeiten freilich konnte sich dieses irrationale Restchen, dieser spontane Wille, auf denkbar solide Argumente stützen. Dass sich mit Hilfe dieses Willens Fragen klären liessen, welche die bürgerliche Vernunft selber angeschnitten hatte, verlieh ihm die Autorität und den langen Atem der Wissenschaft.
Diese überaus glückliche Konstellation halte ich heute für Geschichte. Unter der Voraussetzung, dass es eine proletarische Revolution geben würde, konnte Marx das Kapital begreifen, weil es als Vorstufe zum Verein freier Menschen tatsächlich vernünftig war. Das heisst aber: Nur unter der Voraussetzung, dass die Revolution auch wirklich gemacht wird, ist die Theorie, die das Kapital als Vorstufe zum Verein freier Menschen begreift, im strengen Sinn richtig gewesen. Diesem Risiko der Falsifikation durch die fernere Geschichte ist jede ernst zu nehmende Gesellschaftstheorie ausgesetzt; die Marxsche ist an diesem Risiko gescheitert, und genau dieses Scheitern macht ihre Grösse aus. Als Wissenschaftler ist Marx gescheitert, als Revolutionär hat er ebenso recht behalten wie Thomas Münzer oder Fidel Castro, die beide nichts von der politischen Ökonomie verstanden. Gescheitert ist aber mit der Marxschen Theorie die vernünftige Begründung der Revolution, und an dieser vernünftigen Begründung muss man trotz ihres Scheiterns festhalten, wenn die Menschheit sich in der Revolution tatsächlich zum Subjekt konstituieren soll, welches mit Willen und Bewusstsein seine Geschichte macht. Das Scheitern der Theorie ist der Grund, weshalb man stets wieder auf die Marxsche zurückgreifen muss. Nach ihr gab es keine mehr.
Wenn man dies tut, muss man aber sich über die Merkwürdigkeit dieses Verfahrens Rechenschaft ablegen: Die Vernunft ist so obsolet geworden, dass man sie nur in Archiven und Bibliotheken findet. Sie ist nicht die herrschende. Und wenn sich auf einem Verlagsprospekt der “Marxistischen Blätter” der Slogan findet: “Der Marxismus – eine geistige Grossmacht unserer Zeit”, so ist dies nicht nur geschmacklos, sondern Wahn.
* Als Indiz dafür ist der Umstand zu werten, dass der politische Gesetzesbegriff dem naturwissenschaftlichen historisch voranging.
Editorische Anmerkungen:
Der Text wurde in der Newsgruppe de.soc.politik veröffentlicht und ist von dort gespiegelt.
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