Vom Zwang des Logos und seiner Befreiung.

Die Magie eines Essays entsteht, wenn Menschen von Zwängen des Logos entlassen werden. (Leon Tsvasman)

Leon Tsvasman ist mit seinem Buch „Infosomatische Wende“ ein wichtiges Plädoyer für den vertikalen Essay, den ich zum aphoristischen Denken zähle, das Selbstdenken, die Gelassenheit und das kritische Widerstandsdenken gelungen – dabei ist der erste Teil der Wende in Form eines Essays gestaltet, das heißt mit Montaigne auch in der Gattung des Selbstgesprächs und der zweite Teil als Interview-Zwiegespräch mit Frage und Antwort im Sinne eines Buberschen Dialogs.

Dabei sind die Gesprächs-Auseinandersetzungen ein gelungenes Pamphlet gegen unseren unterkomplexen, plakativen, hysterischen Zeitgeist im Aktualitätsrausch, wie wir ihn justament anhand der Corona-Krise wieder konstatieren können. Hier an dieser Stelle der Diagnose des Zeitgeistes hat der Essay große Stärken, wenn er das überspezialisierte Fachidiotentum im heutigen Wissenschaftsbetrieb mit seinen vermeintlichen Experten, die im Medienbetrieb immer wieder unkritisch gespiegelt werden, redundant zu Wort kommen und der Angstindustrie den Vortritt lassen, aufs Korn nimmt. Die Reduzierung auf vermeintliche Faktenwirklichkeiten und Faktenwissen verschließen sich pluralistischen und komplementären Erkenntnisformen, die ein Mitdenken des mündigen Lesers und Rezipienten einfordern. Anders als der Gedankenkonsument, der Befehlssprache mit einfachen Losungen und Lösungen, der vermeintlichen Klarheit der Parataxe in schlichten Hauptsätzen und konfektioniertes Wikipedia-Halbwissen bevorzugt, geht es dem mündigen Leser um die Vieldeutigkeit des Gesagten, wie es in der dichterischen Sprache mit der Metapher und im aphoristischen Denken mit dem Paradoxon und allen seinen Zwischenwelten sich offenbart, und einen einseitigen Logozentrismus rational sprengt.

Adorno schreibt dazu: „Der Aphorismus verwendet Sprache und Wissensprinzipien nicht so, wie sie sich von sich aus meinen: er macht sie uneigentlich und sich selber fremd. Es ist das entfaltete Nichtwissen, das die äußerste Reflexion des Wissens voraussetzt. Dabei nimmt er regelhaft die Form der Ausnahme an, an der Regel und begriffliche Systematik scheitern. Die Ausnahme fungiert als Korrektiv: der Aphorismus “nimmt etwas aus dem Horizont des Bewusstseins heraus”, setzt die eingeschliffene und auch nützliche Ansicht vom Sachverhalt in Frage. Er möchte etwas von der Deformation wieder gut machen, welche der herrschaftliche Geist dem Gedachten antut. Er zielt auf die Negation abschlusshaften Denkens; er terminiert nicht im Urteil, sondern ist die konkrete Gestalt, in der die Bewegung des Begriffs sich darstellt, der des Systems sich entschlug.“

In dieser Tradition des aus der Mode gekommenen kritischen Denkens und Möglichkeitsdenkens wird das Denken dadurch emanzipiert, dass es sich seiner Ohnmacht, die in der ständigen Ablenkung durch Beruf, Alltagsgeschäfte, den hierarchischen Gewalteinwirkungen und dem unterkomplexen Aktualitätsrausch, bewusst wird und Potentialfelder eröffnet, wo sich laut Tsvasman eine infosomatische Intersubjektivität entwickeln kann. Dafür braucht es aber den denkerischen Mut, die Medialität zu entzerren: und hier kommt die Künstliche Intelligenz ins Spiel, sie wird als Therapie und Hilfsmittel für die Emanzipation und Befreiung aus der ökonomisierten Selbstkasteiung – auch der der Geisteswissenschaften – erhofft, kybernetische Lösungsoptionen werden hier zur Utopie des ästhetischen Schöpfens erhoben. Und hier bei der Therapie der Malaise bin ich nicht ganz so optimistisch – Heiner Müller formuliert einmal, dass Optimismus ein Mangel an Informationen sei.

Das Glück und die Gesundheit als Früchte von Big Data zu begreifen, das ist sehr viel: andererseits kann man sich an dieser Lesart abarbeiten und in einen fruchtbaren, offenen Dialog mit dem Autor treten, um Gemeinsamkeiten auch wieder vor Unterschieden zu profilieren.

Alles in allem also ein sehr lesenswertes Buch, das auf den gebildeten Leser setzt und sich damit leidenschaftlich gegen einen depravierten Zeitgeist, einen unbeweglichen Buch-und Medienapparat und einen deformierten Wissenschaftsbetrieb stellt – ein Buch, das nicht weniger als eine Bildungs-Revolution einfordert, ein dringender Einspruch gegen einen einseitigen Logik-Begriff, der immer zu kurz greifen muss, wenn er dem pulsierenden Leben entgegnet und begegnet – ein Buch mit einer anspruchsvollen Prosa, die sich zu erlesen und zu erarbeiten unbedingt rentiert und zu genießen ist. Auch wenn Begriffe aus dem Marketing und der Unternehmensberatung wie nicht-chimärische Ökonomie oder AI-Thinking etwas affirmativ in der Lösungsperspektive erscheinen mögen – eine Sapiokratie, eine Herrschaft der Weisheit, die die Probleme selbst reguliert, erscheint wie ein notwendiges Prinzip Hoffnung in der Vision des versierten Autors wider die Dystopien, die die Künstliche Intelligenz als pejorativ besetzter Kampfbegriff gerne auslöst.

Foto: Sylvia John

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