“Wann marschieren wir endlich alle gemeinsam zu den Orten der Macht?“ Ein Interview zu den Arbeitskämpfen in Frankreich

Die Krise, in der sich die Bewegung gegen die Pläne zur „Rentenreform“ in Frankreich befindet, wird immer offensichtlicher. Wochenlang lag die Hauptlast der Arbeitsniederlegungen bei den Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe und den Angestellten der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF. Mittlerweile haben dort fast alle wieder die Arbeit aufgenommen und auch wenn es immer wieder zu spektakulären Aktionen wie den Prügeleien der Feuerwehrleute mit den Pariser Bullen kommt, ist derzeit die Luft aus der ganzen Angelegenheit raus. Die regelmäßigen Gewerkschaftsdemonstrationen unter der Woche sind zu routinierten Prozessionen geworden, die weder einen sozialen noch eine ganz praktischen Sprengstoff in sich tragen. Über die ganze Malaise, aber auch über die konkreten Erfahrungen an der Basis berichtet ein Interview, dass die Gefährt*innen von ‘acta zone’ mit Torya, einer Angestellten der SNCF geführt haben. Torya, die auch bei den Gilets Jaunes aktiv ist, reflektiert die Erfahrungen der letzten Monate, die Begrenzungen des Kampfes, aber auch die Dynamiken, denen diese Phase des Klassenkampfes unterworfen ist. Das Interview(*) erschien am 6. Februar 2020 und wurde von mir sinngemäß übersetzt.

Nach einem ersten Treffen Mitte Dezember trafen wir uns erneut mit Torya, einer Eisenbahnerin und gelben Weste, um eine Bilanz des laufenden Kampfes gegen die Rentenreform der Regierung von Macron zu ziehen. Wie können wir die Bewegung weiterführen, wenn die Beschäftigten der RATP und der SNCF gezwungen sind, ihren am 5. Dezember begonnenen, verlängerbaren (1) Streik zu beenden? Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen der wachsenden Radikalität von spontanen Aktionen und der Befriedung der Straßendemonstrationen erklären? Und während sich viele andere Sektoren dem Kampf anschließen (Schüler, Studenten, aber auch die Müllwerker), welche Perspektiven können nun für die kommende Phase formuliert werden?
Dies sind einige der Fragen, auf die wir mit Torya einige Antworten geben wollen. (ACTA Magazine)


ACTA: Um dieses neue Interview zu beginnen, sollten wir vielleicht eine Bestandsaufnahme der Situation in Eurem Sektor machen. Kannst du versuchen, eine Topologie des aktuellen Streiks bei der SNCF zu entwerfen?

Torya: Der Streik bei der SNCF ist in seiner Erneuerbarkeit (1) und in Bezug auf den Prozentsatz der Streikenden nicht mehr so ausgeprägt wie noch Anfang Dezember. Die Weihnachtsfeiertage haben der Mobilisierung in der Tat einen tödlichen Schlag versetzt. Trotz des Versuchs, keinen „Burgfrieden“ über die Feiertage auszurufen, wie es viele Regierungsstellen forderten, war dies de facto aber gegeben. Darüber hinaus war die (Wieder-)Mobilisierung der Kräfte vor Ort sehr schwierig, da sich viele Arbeitnehmervertreter in dieser Zeit im Urlaub befanden. Wie ich es auch schon in meinen verschiedenen Reden oft gesagt habe, ist es auch eine Tatsache, dass die Streikposten bei der SNCF fast nicht vorhanden waren.

Es ist sehr schwer, eine sektorale Mobilisierung ohne die sichtbare Umsetzung des Terrains, dass die Streikposten darstellen, zu realisieren. Für mich ist dies ein grundlegender Punkt: Was gibt es außer diesen Streikposten noch für Orte, um sich zu treffen, sich zu organisieren, über Strategien, Aktionen, (Re)Mobilisierungen zu sprechen? Die täglichen Vollversammlungen in den Depots konnten eine Rolle als „Klebstoff“ zwischen den streikenden Eisenbahnern spielen, und für einige Vollversammlungen, die auch anderen Berufsgruppen offen stehen, wie der unsrige in Vaires, haben die während der Vollversammlungen geschaffenen Verbindungen über die Zeit des Streiks hinaus Bestand.
Leider reichen die Vollversammlungen allein jedoch nicht aus. Und dies spiegelt sich in der Landschaft des Kampfes wider. In der Pariser Region sind der Leute der RATP (2) viel stärker mobilisiert und entschlossener als wir Eisenbahner. Wir werden uns nicht anlügen oder uns Geschichten erzählen, es waren die Kollegen der RATP, die das Datum des 5. Dezember (3) festgelegt haben. Sie bereiteten diesen Termin mehrere Monate im Voraus vor, wie mir Adel, ein Mitarbeiter der Eisenbahngesellschaft RATP, sagte. Ein verlängerbarer Streik erfordert eine mehrmonatige finanzielle Vorbereitung, um die Zeit nach dem Beginn des Streiks finanziell auszugleichen (4). Bei der SNCF hat diese Vorbereitung nicht stattgefunden, wir haben uns ohne jegliche Vorbereitung dem Streik angeschlossen, wir haben sofort in jedem Depot Streikfonds eingerichtet, die wir dann in den Regionalfonds eingezahlt haben. In Paris-Ost haben wir diese Option für eine bessere und transparente Verteilung gewählt, die von einem Ausschuss verwaltet wird, der sich aus zwei Personen aus jeder Gewerkschaft und zwei Nichtgewerkschaftsmitgliedern zusammensetzt. Dies wurde dank der solidarischen Vereinbarung zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen von Paris-Ost möglich. Das bedeutet, dass es die Dinge viel einfacher macht, wenn die Losung und die Streikmethode gleich sind. Im Jahr 2018 (5) hatten die Generalversammlungen diesen übereinstimmenden Inhalt überhaupt nicht.

ACTA: Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für Dich aus der ersten Etappe der Bewegung? Wir haben ein wenig das Gefühl, dass es einen Versuch gab (unterschiedlich formuliert, aber im Grunde genommen in allen Sektoren und politischen Räumen geteilt), uns zu sagen: “Es gab den cortège de tête, die gelben Westen, aber dies ist eine klassische soziale Bewegung, auf die altmodische Art und Weise, und es sind der Streik und die strategischen Sektoren, die dort Erfolg haben werden, wo sich alle die Zähne ausbeißen”. Nur dass dies uns trotz der Kühnheit und Entschlossenheit der Kollegen von SNCF und RATP unzureichend erscheint.

Torya: Natürlich, und alle politischen Strömungen, die auf den Streik schwören, haben schnell gesagt, dass wir endlich „auf die harte Tour kommen“, dass die Arbeiter verstanden haben, dass man nur durch Streiks gewinnen kann, usw., sie gehen sogar so weit zu argumentieren, dass es die Begrenzung der Gilets Jaunes Bewegung sei, nicht streiken zu können.

Bei diesen Gruppierungen, und das ist mein persönlicher Standpunkt, haben diejenigen, die das denken, entweder eine voreingenommene Sichtweise, wie die Streiks bis 1995 sich gestalteten, oder sie haben nichts von dem verstanden, was heute passiert. Lasst mich das erklären. Die Gilets Jaunes haben, ob es uns gefällt oder nicht, Radikalität und Ungehorsam in die immer gleichen, bei der Präfektur angemeldeten Umzüge auf der Route Bastille/Nationale gebracht, sie haben den Demonstrationen auf der Straße wieder Leben eingehaucht. Man sieht nicht, wie sich die GJs hinter einem goldgelben Lastwagen aufstellen und dann andere sich wiederum hinter einem fluoreszierend gelben Lastwagen sammeln, usw.. Es gibt keine Lastwagen und Ballons auf den Demos der GJ, und sie können mir sagen, dass ich von dieser Geschichte von Ballons und Lastwagen (6) besessen bin, aber für mich zählt, was sie widerspiegelt: die Nicht-Kohärenz zwischen den Streikenden und den Demonstranten. Wir werden es vorziehen, zu kämpfen. Sie verteidigen lieber ihre Lkw als ihre Kollegen, die nur ein anderes Emblem tragen. Für die Konsistenz und das Bild, das es vermittelt, ist es ein Killer- Message. Wie bei der letzten Demonstration, bei der wir alle zusammen in die U-Bahn gingen und als wir am Place d’Italie ankamen, trennten sich die Menschen und gingen vernünftig, wie sie sind, brav zu „ihrem Ballon“.

Darüber hinaus sind die Gewerkschaftsdemonstrationen, auch wenn der cortège de tête kämpferisch auftritt und mit vielen super- schönen Transparenten versehen ist, immer noch Folklore. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Demonstrationen den Zorn der Demonstranten widerspiegeln müssen. Und so war es auch bei den Feuerwehrleuten, alle waren überrascht, einen solchen Radikalismus zu sehen, zu sehen, wie sie die Absperrungen der Bullen niederreißen und auf die Wasserwerfer klettern. Dies zeigt eine extreme Wut, die völlig gerechtfertigt ist, da sie seit 6 Monaten „sanft“ gestreikt haben und völlig ignoriert wurden. In den Jahren 1995, 1986 und bei den anderen siegreichen Streiks waren Demonstrationen eines der Elemente des Protests, es gab auch Sabotage, Blockaden und massive Beteiligung an den Streikposten. Es ist also völlig utopisch zu glauben, dass wir das Ziel erreichen werden, nur weil wir zahlreich sind.

Wir befinden uns nicht mehr in der gleichen gesellschaftlichen Konfiguration; das zahlenmäßige Übergewicht der Arbeitenden in der Privatwirtschaft erschwert jeden Streikversuch. Die GJ’s haben das verstanden, aber die ewigen „Profis des Kampfes“ noch immer nicht. Genau wie die Besetzung der Kreisverkehre durch die GJ’s, die nicht mehr und nicht weniger sind als die zeitgenössische Übersetzung der Streikposten. Dieser Aspekt und was er der Bewegung gebracht hat, ist nicht verstanden worden. Der mögliche Erfolg ist das Ergebnis einer Summe verschiedener Faktoren, kontrollierbar oder nicht, aber auf jeden Fall nicht zu übergehen. Wir werden auf den Slogan zurückkommen: “Streik+Blockade+Manif Sauvage=Macron, das Spiel ist aus“.

ACTA: Wie siehst Du die Tatsache, dass der Streik nicht wirklich über die RATP und die SNCF hinausging? Es scheint, dass ihr von den anderen Sektoren ein wenig im Stich gelassen wurdet, und das zeigt sich auch in der nachvollziehbaren Reaktion einer gewissen Bitterkeit. Gleichzeitig ist dies angesichts des Ausmaßes der Verachtung von Macron und der breiten Ablehnung der Reform doch auch besorgniserregend im Hinblick auf die Organisationsfähigkeit der Gewerkschaften einerseits und der Arbeitnehmer im Allgemeinen andererseits.

Torya: Es gibt eine Art Abwartehaltung, die schon seit einigen Jahren besteht, bei der man abwartet, was passiert, bevor man entscheidet, ob man sich bewegt oder nicht, ganz zu schweigen von denen, die sagen: “Wir unterstützen Euch, gebt nicht auf”. Das ist zwar irgendwie sehr rührend, aber der Stellvertreterstreik hat nie funktioniert. Und bei den wenigen Fälle, in denen es funktioniert hat, kam es dann nur zu sektoralen Verhandlungen.

Neben SNCF-RATP, die eine offensichtliche Macht zur Blockade des öffentlichen Lebens haben. können wahrscheinlich auch andere Sektoren das Land blockieren, wie z.B. die Müllwerker, die Beschäftigte in den Raffinerien und die Hafenarbeiter, die Beschäftigten in der Energieversorgung, die Grundschullehrer, Lkw-Fahrer und viele andere. Wir müssen auch noch darüber reden, dass dieser Streik sehr an der Berichterstattung in den Medien gekoppelt war. Dies ist eine Tatsache, die beispielsweise für die Arbeiter im Kraftwerk Gravelines oder die Hafenarbeiter, die auch seit dem 5. Dezember gestreikt haben, wichtig ist, denn niemand spricht darüber. Das zeigt, wie wichtig die Medien sind, und wenn sie nicht kommen, müssen wir uns auch wie die GJs verhalten, uns selbst filmen und die Videos in die Netze stellen, so können wir auf mehr Sichtbarkeit hoffen.

Durch diese Form der Berichterstattung ist die Wiederaufnahme des Transportverkehrs zum ausschließlichen Indikator für das Nachlassen der Mobilisierung geworden. Aber wir können sehen, dass trotz des Abbröckelns in diesem Sektor die Mobilisierung in anderen Formen und in anderen Sektoren wie bei den Studenten, Gymnasiasten, Lehrern, Anwälte und Sekundarschullehrer weitergeht.

Es gibt viele Sektoren, die ebenfalls umfassend kämpfen, aber nicht so viel mediale Sichtbarkeit erhalten, und dies ist schade, denn letztendlich ist es auch ein Kommunikationskrieg, der sich abspielt. Einige Leute haben das sehr gut verstanden, wie die Beschäftigen der Pariser Oper mit den öffentlichen Aufführungen, aber auch die Anwälte, die öffentlich ihre Roben abgelegt haben, oder die Lehrer, die im Blitzlicht der Medien ihre Lehrbücher auf einen Haufen geschmissen haben…

An Kreativität mangelt es den Streikenden nicht. Aber wir sind immer mit den gleichen sektoralen Barrieren konfrontiert und/oder stehen bei den Demonstrationen hinter unserem Ballon. Wann werden wir die Peripherie stürmen und gemeinsam zu den Orten der Macht marschieren? Streikende, nicht Streikende, GJ, nicht GJ, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, aber vereint, wie in Barcelona oder Chile.

ACTA: Es gibt ein sehr auffälliges Element, und ich möchte, dass Du ein wenig darauf zurückkommst, es ist das Auftauchen oder der Eintritt einer neuen Generation in die Kämpfe, insbesondere bei der RATP. Es handelt sich um eine neue Generation, die nicht unbedingt den vorherigen ähnelt, die insbesondere in ‘La Base’ oder in der ‘RS’ (Rassemblement Syndical) aktiv ist, die ebenfalls aus nicht gewerkschaftlich organisierten Mitgliedern besteht und die eine sehr wichtige Rolle bei der von uns beobachteten Radikalität spielt.

Torya: Ich glaube nicht, dass dies allein die RATP betrifft: Es ist eine ganze Generation, die Generation der über 30-Jährigen, die allmählich aufwacht und versteht, dass ihre Zukunft durch all diese Regierungsreformen in Gefahr ist.

Das ist ziemlich überraschend, denn im Allgemeinen gibt es viele Menschen in den Fünfzigern und dann auch sehr junge Menschen, die bei Demonstrationen „zu den Waffen greifen“, aber gewöhnlicherweise nicht die über Dreißigjährigen, die sich nicht betroffen fühlen, weil sie weit entfernt von sozialen Belangen sind und sich eher auf ihre Karriere und vor allem auf ihre persönliche Entwicklung konzentrieren.

Ich sage das deshalb, weil es die Mehrheit der Menschen ist, die ich getroffen habe, aber ich bin kein Soziologe, um dieses Phänomen vollständig zu verstehen. Ich werde daher nicht sagen, dass es die Generation des “Club Dorothée” und des “Mini-Keums” ist, die gerade aufwacht, obwohl ich versucht bin, dies zu tun. Es ist ein Erwachen des Bewusstseins in diesem Segment, und wie Ihr sehen könnt, gehören sie zu den Entschlossensten in ihren Aktionen und Demonstrationen.

Dann muss man nur noch die Gesichter bei den Gewerkschaftsdemos der Beschäftigten von RATP-SNCF sehen, um zu verstehen, was vor sich geht. Genauso wie die Entstehung der unabhängigen Gruppen „La Base“ und „RS“, die nur das Scheitern der historischen Gewerkschaftsorganisationen widerspiegeln, die keinen Raum für Initiative und Intelligenz seitens der Angestellten, der Männer und Frauen aus den Arbeitervierteln oder den Vorstädten ließen. Es handelt sich um eine Form der Selbstorganisation von RATP- Mitarbeitern, die sich nicht vom Instrument der Gewerkschaft trennen wollen, die sich aber auch nicht in den traditionellen Gewerkschaftsorganisationen wiederfinden.

ACTA: Letztes Mal sagtest Du, dass es an Radikalismus mangelt, und wir haben ein wenig das Gefühl, dass dies nun der Wendepunkt ist, der sich jetzt vollzieht. Wir treten in eine Art „Stellungskrieg“ ein, in dem demonstrative und offensive Aktionen an die Stelle eines Streiks treten, der sich nicht ausbreiten konnte, die aber auch die Öffnung neuer Fronten signalisieren und eine Art permanente Spannung aufbauen. Wir sehen es bei Wahlveranstaltungen der gewählten Volksvertreter, die Störung von Macrons Besuch im Theater, usw.. Gleichzeitig bleiben die Demonstrationen sehr friedlich, natürlich auch wegen der Polizei, aber es scheint auch, dass die „Praktiken der Grenzüberschreitung“ der GJs und des “historischen” cortège de tête

im Moment nicht sehr verbreitet sind, vor allem unter der neuen Generation von Streikenden. Wie siehst Du diese Dinge?

Torya: Die Radikalität kam spät – aber besser spät als nie – und in einer eher eigentümlichen Form, wie z.B. ins Theater zu gehen, wo Macron ist, oder die öffentlichen Auftritte der verschiedenen Abgeordneten und gewählten LREM (7) -Mitglieder zu sabotieren, wo immer es möglich ist. Es ist eine Möglichkeit, die Wut auf die Regierung sichtbar zu machen und zu zeigen, dass die Mobilisierung nicht ausgelöscht ist. Um auf die Passivität und den Pazifismus der Demonstrationen zurückzukommen: Bei der letzten Demonstration war es unglaublich. Die Polizeibeamten waren so gelassen, dass sie mit dem Rücken zu den Demonstranten gingen, während sie uns normalerweise gegenüber stehen, so kam es, dass sie in der ersten Reihe des Frontblocks standen und man denken konnte, es sei eine CRS- Demonstration! Dort haben wir wirklich die letzte Stufe der Demonstration erreicht, die nicht einmal mehr einen Sinn hat.

Was die Tatsache betrifft, dass sich die neue Generation von Streikenden noch immer in pazifistischen Automatismen befindet, so glaube ich, dass wir, ehrlich gesagt, noch nicht das Niveau der Wut der Feuerwehrleute erreicht haben, das können wir auf der Straße sehen. Außerdem erlaubt uns der Aufenthalt im berühmten Zwischenstadium des Prozesses der Organisierung noch nicht, andere, neue Visionen und Analysen zu haben, wir folgen denen, die wir für Profis halten, und wir versagen, zu sehen, dass es andere Wege gibt zu demonstrieren. Außerdem hat jeder seine eigene Vorstellung von einer Manifestation, aber dieses „Disneyland marschiert, singt, tanzt“ – bedeutet mir persönlich sehr wenig. Außerdem ging es bei den Demonstrationen vor allem auch um die Streikfonds, und es ist schwierig, praktisch in die Offensive zu gehen, wenn man versucht, die Fonds aufzufüllen. Was auch legitim ist, das ist nicht das Thema.

Letztendlich ist dieser Pazifismus auch auf eine Kombination von politischen Haltungen, polizeilichen Absperrungen und leicht zu kontrollierenden Routen zurückzuführen, und es ist sehr kompliziert, all diese Begrenzungen zu durchbrechen. Die Koordination RATP-SNCF selbst versuchte, am 2. Januar eine eigenständige Demonstration durchzuführen. 3.000 Demonstranten sind eine gute Anzahl an Beteiligten, aber warum hat man sie bei der Präfektur angemeldet und warum dieser Lastwagen samt Ballon von der SUD (8) ? Man mag es für nicht relevant halten, aber es ist ein Beweis dafür, dass wir es noch nicht geschafft haben, uns vom Joch der Bürokratien zu befreien, die diese Gewerkschaftsdemonstrationen kontrollieren.

ACTA: Außerdem habe ich den Eindruck, wenn eine andere Praxis wenig verbreitet ist, dann hängt das auch mit dem fehlenden Austausch zwischen den Sektoren zusammen. In Paris gibt es immer noch keinen wirklich breiten Organisationsansatz, der diesen Namen verdient, aber es gibt einige mehr oder weniger offene Koordinierungsrahmen, von denen der aktivste die Koordination zwischen RATP und SNCF ist, die auf Initiative des CCR (eine Tendenz der NPA (9), die die Zeitung Révolution Permanente betreibt) zustande gekommen ist. Wie erklärst Du das Fehlen eines einheitlichen Handlungsrahmens?

Torya: Es ist eine große, lange und heikle Debatte. Ich werde trotzdem meine Meinung zur Situation äußern. Es ist die Undurchlässigkeit zwischen den Sektoren, die ein Problem darstellt, aber auch die Tatsache, dass die politisierten Aktivisten den nicht politisierten Streikenden nicht die Freiheit lassen, ihre eigenen Experimente zu machen, und dass sie alles kontrollieren wollen. Das verärgert viele Streikende, vor allem wenn es zu einem Krieg „der richtigen Linie“ wird. Um es ganz offen zu sagen: Die Koordinierung zwischen der RATP und der SNCF ist noch nicht am Ende ihres Selbstorganisationsprozesses angelangt. Bei den ersten Treffen vor dem Streik kamen auch Lehrer, GJs, sie waren begeistert, und dann landeten sie auf einmal in einem ideologischen Minenfeld. Wir müssen aufhören, uns etwas vorzumachen, die Koordination wurde von den EisenbahnerInnen ignoriert, es ist eine Beobachtung aus der Praxis.

Viele der RATP- Streikenden haben ihre ersten Erfahrungen mit einem „harten Streik“ gemacht, so dass sie bisher nicht all die Erfahrungen dieser Auf-und- Abs in der „kämpferischen Welt“ haben machen können. Die Eisenbahner ihrerseits hatten die „Intergare“ erlebt, die 2018 entstand, aber für diesen Streik nicht reaktiviert werden konnte. Die Frage ist, warum? Wenn die „Intergare“ und die Koordination wirklich zusammengelegt worden wären, wäre es sicherlich eine andere Geschichte gewesen.

Dieser Hang zur Selbstdarstellung, das Sektierertum und der Krieg zwischen den Egos sind Gift für die Mobilisierung. Dasselbe gilt für die interfraktionellen Versammlungen einer anderen NPA- Strömung. Wir werden niemals gewinnen, wenn wir uns aufblasen und jeder mit breiter Brust beansprucht, den besten Eindruck auf der Demo gemacht zu haben. Wer will das schon hören? Vor allem, wenn wir sehen, wie wenig Platz für Frauen bleibt, sei es in den Medien, auf diesen Vollversammlungen oder bei den Demonstrationen. Ideen, Aktionen und Strategien sind überall und bei jedem zu Hause, aber wir müssen uns trotzdem ein wenig Demut bewahren.

Im Übrigen war die RATP- Bus bei dieser Koordinierung sehr aktiv, sie ist sogar der wichtigste Kern, und die rotierenden Streikposten, die aufgestellt wurden, waren eine sehr gute Strategie, die sich ausgezahlt hat, denn das ist es, was die Reihen der Koordinierung stärkte.

ATCA: Wie siehst die Zukunft, sowohl für die Bewegung als Ganzes als auch für Deinen Sektor?

Torya: Die Phase des verlängerbaren Streiks ist vorbei, in meinem Sektor haben alle wieder angefangen zu arbeiten. Die Gewerkschaftsdemonstrationen gehen einmal pro Woche weiter, und es gibt erste Aktionen zur Unterstützung der Müllwerker, wie die #GarbageChallenge und die Blockaden der Müllsortierzentren, nicht zu schweigen von den GJ- Demonstrationen am Samstag, die weitergehen, aber all dies ist immer noch zersplittert und offensichtlich unzureichend im Vergleich zu der Zerstörungsmaschine, die wir vor uns haben. Also ja, jede Maßnahme ist gut, wie die von der Koordination vorgeschlagene Tournee in Universitäten und Hochschule für die Blockade bei den E3C’s (10) , die sich bei der Schaffung von Verbindungen zu diesem Sektor als effektiv erwiesen hat.

Die Angriffe sind zahlreich und in allen Bereichen. Aber angesichts des Dilettantismus der Regierung und der Position des Staatsrates zur Rentenreform, die sich in unsere Richtung bewegt, besteht noch Hoffnung. Und wenn die Regierung die Rentenreform mit einer 49,3 (11) in Kraft treten lassen will, könnte dies ein Glücksfall für einen möglichen Aufstand sein.

Fussnoten

(*) https://acta.zone/quand-est-ce-quon-marche-vers-les-lieux-de-pouvoir-tous-ensemble/

(1) Besonderheit des französischen Arbeitskampfes: Es gibt von vornherein zeitlich begrenzte Arbeitsniederlegungen, oder eben zeitlich begrenzte, die dann aber nach einer Versammlung der Streikenden erneuert, also verlängert werden

(2) Pariser Verkehrsbetriebe

(3) Beginn der landesweiten Arbeitsniederlegungen

(4) Die französischen Gewerkschaften kennen im Gegensatz zu hier keine prall gefüllten Streikkassen, was längere Streiks schwierig macht. International wird deshalb für die französischen Kolleg*innen gesammelt, eine Übersicht hier: https://www.labournet.de/interventionen/solidaritaet/die-solidaritaet-mit-der-streikbewegung-gegen-die-rentenreform-in-frankreich-waechst-nicht-beim-europaeischen-gewerkschaftsbund/

(5) Seit 2018 sind die Pläne zur Umstrukturierung der SNCF nach Vorbild der Deutschen Bahn bekannt, die bisherigen Kämpfe dagegen waren nicht besonders erfolgreich

(6) Traditionell führen alle verschiedenen Gewerkschaften (soweit sie eine gewisse Größe haben) auf ihren Demonstrationen Lastwagen mit großen aufblasbaren Ballons mit sich, die das Emblem der jeweiligen Gewerkschaft tragen.

(7) Macrons Regierungspartei

(8) Unabhängiger, linksgerichteter Gewerkschaftsverband

(9) Trotzkistische Organisation

(10) Abiturprüfungen

(11) per Dekret, wurde z.B. auch beim loi travail 2016 so gemacht.

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