Weißer Terrorismus

Der antisemitische und rassistische Terroranschlag in Hallei vom 9.10.2019 ist Ausdruck eines neuen transnationalen, weißen Terrorismus von Norwegen (Oslo), USA (Isla Vista) und Neuseeland (Christchurch) bis Deutschland. Er kann auf der subjektiven Seite heuristisch als Incel-Faschismus (1) verstanden werden, der Ausdruck einer reaktionären Antwort auf die objektive Reproduktionskrise (2) im spätkapitalistischen Westen ist. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft versucht, wie bei weißen Terroristen üblich, das Narrativ des „Einzeltäters“ durchzusetzen und systemischen Rassismus zu verschleiern (3). Gegenüber dieser hegemonialen Deutung gilt es die Tätergruppe als weiß, den westlichen Rechtsterrorismus als weißen Terrorismus zu benennen (4).

1. Der Incel-Faschismus erscheint auf der subjektiven Seite als eine eklektische Synthetisierung von klassischem Faschismus (Ideologie), sogenannten school shootings (Form) und toxischer Männlichkeit (soziale Basis)

Incel-Faschismus ist zwar kein klassischer Faschismus/Rechtsterrorismus wie z.B. der NSU, baut allerdings auf dessen zentralen ideologischen Grundlagen (Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus) auf. So bildet sich ein klassisch faschistisches Weltbild, dessen Kern der weiße Krieg gegen die rassifiziert Anderen ist.

In seiner Form ist der Incel-Faschismus eine Weiterentwicklung des school shooting, des inszenierten, abrechnenden Massenmordes im Modus eines Ego Shooters (z.T. mit live-Streaming der Tat, Ego Perspektive mit GoPro Kamera, umfassenderer Waffenausstattung). Er vereint Elemente des politischen Terrorismus mit denen eines wahllosen Massenmordes („Amoklauf“) mit absolutem (Selbst-)Vernichtungswillen.

Im Unterschied zum school shooting ist der Hass beim Incel-Faschismus ideologisch projeziert, auf die „Anderen“, Jüd_innen, Migrant_innen, PoC, Frauen, Linke. Der Incel-Faschismus ist damit auch Teil des sogenannten „stochastic terrorism“, der „Minderheiten“ dämonisiert und einen Anschlag allgemein wahrscheinlicher macht, ohne dass dessen spezifisches Ziel genauer vorausgesagt werden könnte.

Die soziale Basis des Incel-Faschismus ist eher die Eintrainierung einer spezifischen toxischen Männlichkeit in virtuellen Räumen der transnationalen Incel-Community als die klassische rechten Kaderbildung und faschistischen Untergrundarbeit. Incel, ein Kofferwort aus Involuntary (unfreiwillig) und celibacy (Zölibat), ist eine antifeministische Internetbewegung, die hegemoniale Männlichkeit anstrebt, aber nicht realisieren kann.


2. Der Incel-Faschismus ist ein (post-)modernes Phänomen des kapitalistischen Westens und reaktionärer Ausdruck der objektiven gesellschaftlichen Reproduktionskrise

Der Incel-Terrorist versucht durch den Anschlag die Anerkennung einer transnationalen, faschistischen Gemeinschaft und Öffentlichkeit zu erlangen. Sein Anschlag ist notwendig ein medialisierter. Es ist deswegen wichtig, den einzelnen Incel-Terroristen in der medialen Berichterstattung nicht zu fokussieren, da gerade dies eine intendierte Folge seines Anschlags ist. Dennoch muss allgemein die soziale Basis des Incel-Terrorismus analysiert werden.

Incel-Faschisten rekrutieren sich aus jungen, weißen, heterosexuellen Männer der Mittelklasse. Incel stehen eher selten in klassischen Lohnarbeitsverhältnissen, sind prospektiv Teil der sogenannten Surplus-Bevölkerung, d.h. überflüssig für den Produktionsprozess. Sie können zum Teil nur kaum für ihre Reproduktion sorgen, suizidieren sich, leben noch bei ihren Eltern, sind sozial isoliert.

Die Reproduktionsarbeit, die im Patriarchat des 20. Jahrhunderts noch fest reguliert schien, ist im kapitalistischen Westen instabil geworden. Während sich sowohl cisheteronormative Familien- als auch andere Sozialverhältnisse auflösen, müssen die hyperverantwortlichen Individuen ihr Leben im neoliberalen Spätkapitalismus unter verschärften Konkurrenzbedingungen verstärkt alleine organisieren.

Incel scheitern an diesen Aufgaben und im Aufbauen von solidarischen Beziehungen. Sie beantworten die unfreiwillige Isolation mit projektivem Hass auf Frauen, die ihnen vermeintlich Sex und Reproduktionsarbeit vorenthalten. Sie glauben sozusagen an die neoliberale Ideologie, dass es so etwas wie „Gesellschaft“ und andere (Re)-Produktionsverhältnisse nicht gebe oder geben kann, und sehen sich selbst als Versager.

Ihre gesellschaftlichen Privilegien als weiße Männer erlauben ihnen allerdings mit faschistischer Ideologie den Hass auf Andere zu externalisieren. Ihr Glaube ist: Während im klassischen Patriarchat des Kapitalismus sie über Frauen hätten verfügen können, sind sie nun ihres fiktiven Besitzes beraubt. Wahlweise sind Migrant_innen daran Schuld oder die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Ihre Antwort auf die objektive kapitalistische (Re-)Produktionskrise sind Frauenhass, Rassismus und Antisemitismus und stehen in Kontinuität mit rechten Hegemonieprojekten und der Faschisierung der Gesellschaft.

3. Die hegemoniale Darstellung des Anschlags in Halle thematisiert Antisemitismus, jedoch fast überhaupt nicht Rassismus

Nachdem der Anschlag auf die Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kipurii scheiterte – nicht weil die Polizei rechtzeitig auf den Anruf reagiert hätte, sondern schlicht, weil die Tür standhielt beziehungsweise die Waffen versagten – fuhr der Incel-Terrorist in Halle zielgerichtet zu einem Döner-Imbiss, um Muslim_innen und von antimuslimischen Rassismus betroffene Personen zu erschießen.

Diese Tatsache wird in der hegemonialen Deutung oft nur als Randnotiz wahrgenommen, oder als zufällig betrachtet; den Opfern des rassistischen Anschlags und ihren Communities wird z.B. von Außenminister Heiko Maas kein Beileid ausgesprochen. Viel eher müssen sie sich in einem zweiten Twitterstatement (https://twitter.com/HeikoMaas/status/1182174594452611072 ) als „Fremde“ bezeichnen lassen.

Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer SE und Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, nutze den Terroranschlag gleich um rassistische Propaganda und Verschwörungstheorien zu streuen (https://www.welt.de/debatte/kommentare/article201718856/Terror-in-Halle-Nie-wieder-nie-wieder.html). Antifeminismus und Rassismus kommen in seiner Beschreibung überhaupt nicht mehr vor.

Stattdessen propagiert er rechte Mythen, dass in Medien nicht offen über Islam, Zuwanderung, Bakery Jatta oder die Silvesternacht in Köln gesprochen würde. Schuld am Rechtsterrorismus seien schließlich „Migration“, Medien und linke „Gutmenschen“. Alles nur nicht das rechte Hegemonieprojekt und die gesellschaftliche und staatliche Faschisierung.

Dieser krude Rassismus würde bei jedem AfD-Mitglied und Campact-Artikel zu Recht nur als ein Ausdruck des rechten Hasses wahrgenommen. So zeigt sich allerdings, dass die sogenannten oder selbst ernannten Liberalen sogar in Texten, die sich gegen rechten Terrorismus richten sollen, selbst rechte Propaganda verbreiten.

All das ist nicht zufällig, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das insbesondere antimuslimischen Rassismus systematisch verschleiert, reproduziert und schließlich auch dann propagiert, wenn antimuslimischer Rassismus zu weißem Terrorismus und realen Toten führt.

4. Der Begriff des Rechtsterrorismus sollte durch den Begriff des “weißen Terrorismus” ergänzt werden

Während bei einem nicht-weiß aussehenden Täter keine Sekunde gezögert würde von Islamismus zu sprechen, gibt es bei einem weißen Terroristen noch nicht einmal einen äquivalenten Begriff. Es ist Ausdruck des hegemonialen Diskurses der rassistischen Mehrheitsgesellschaft, dass die Täter je nach angenommener Herkunft ethnisiert oder pathologisiert werden.

Nie würde bei einem weißen Terroristen von „Christianismus“ gesprochen, nie würden christliche Verbände und Einzelpersonen aufgefordert sich von diesem weißen Terrorismus und Tätern zu distanzieren. Nie würden apologetische Verlautbarungen erscheinen, dass der weiße Terrorist das Christentum nur missbrauche, die Mehrheit des Christentums friedlich sei.

Der weiße Terrorist ist hingegen eher „krank“, „läuft Amok“, er ist nie zuerst weiß, Christ, Faschist. Er soll etwas ganz anderes sein als die Mehrheitsgesellschaft. „Weiß-Sein“ ist „Normalität“ und unsichtbar. Die weiße Mehrheit will sich nicht mit dem eigenen Rassismus auseinandersetzen müssen. Nicht mit ihrem eigenen, nicht mit dem der Faschisten, nicht mit dem polit-ökonomischen und staatlich-strukturellen. „Menschen ertrinken im Mittelmeer“, nicht: „postkoloniale Ausbeutungsverhältnisse und weiße Abschottungspolitik stoßen rassifizierte Andere systematisch in den Tod“.

Noch schlimmer als das Schweigen über antimuslimischen Rassismus ist, dass selbst linke Akademiker_innen und sogenannte Rassismus-„Forscher“ angesichts des weißen Terrorismus und faschistischen Antisemitismus vergleichend von „islamischem

[sic!]

Antisemitismus“ sprechen (https://twitter.com/Matthias_Quent/status/1181962762563530755). Als ob jemals bei islamistischen Anschlag gesagt würde: „ja, aber der christliche Antisemitismus ist auch eine Gefahr“. Selbst im Reden darüber, dass es nicht nur importierten Antisemitismus gibt, muss bei Deutschen das Außen des „islamischen Antisemitismus“ konstitutiv mit angeführt werden.

Demgegenüber gelang es insbesondere jüdischen und migrantischen Communities Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zu benennen. Hoffnung besteht hier, dass gegenseitige Solidarisierung von Menschen, die tagtäglich Antisemitismus und Rassismus erfahren, zu einer gemeinsamen politischen Perspektive wachsen, gegen Rassismus, Antisemitismus und weißen Faschismus zu kämpfen.

Natürlich ist es wichtig und richtig weiterhin von Rechtsterrorismus zu sprechen. Dennoch sollte bei rassistischen Morden zusätzlich von weißem Terrorismus gesprochen werden, um die Tätergruppe sichtbar zu machen und einen Zusammenhang zum gesellschaftlichen Rassismus herzustellen und somit auch die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht aus der Verantwortung zu lassen.

i https://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=855

ii https://de.wikipedia.org/wiki/Jom_Kippur

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