Seit Oktober 2019 halten heftige Unruhen Chile in Atem. Die Proteste richten sich gegen das neoliberale System, welches unter dem Pinochet Regime vor mehr als 30 Jahren eingeführt wurde. Wir hatten die Gelegenheit, mit Paulo aus Santiago de Chile zu reden, welcher sich als Teil der Bewegung sieht, und mehr über die Proteste zu erfahren. Das volle Interview auf Englisch findet ihr unten in den Referenzen.
Die Ausschreitungen starteten als die Preise für den öffentlichen Nahverkehr erhöht wurden. Scheinbar eine kleine Sache, jedoch war die Preiserhöhung eher der Tropfen, der das ziemlich volle Fass zum überlaufen brachte. Die Situation weist interessanterweise damit Parallelen zu Frankreich und den Gilets Jaunes auf, welche in Erscheinung traten, als die Benzinkosten erhöht wurden.
Jedoch gehen die Gemeinsamkeiten weit über Oberflächlichkeiten hinaus: Das Auflehnen gegen den Neoliberalismus, das komplette Ablehnen von Sprecher*innen, Führungsfiguren und Parteien, die Kompromisslosigkeit, Wut und Entschlossenheit mit der gegen das System gekämpft wird. All dies eint die Menschen, welche auf komplett verschiedenen Seiten der Erde für etwas Besseres kämpfen.
Diese komplett verschiedenen und doch so ähnlichen Situationen zeigen uns, wohin das Paradigma des Neoliberalismus führt: Ungleichheit, Armut, Vereinzelung, Verdrängung. Sie zeigen uns jedoch auch, dass es Hoffnung gibt. Hoffnung auf etwas besseres als Staat und Kapitalismus.
Lasst uns aus diesen Protesten lernen, vor allem aus den Abwehrkämpfen gegen die radikale Rechte. Selbst im angeblich stabilen und krisenfesten Deutschland, könnte es in den nächsten Jahren zu einer ähnlichen Ausgangslage kommen [1]. Angesichts der deutschen Zustände – Rechtsterroristische Netzwerke in Bundeswehr, Polizei und Inlandsgeheimdienst – sollten wir soviel wie möglich von den Kämpfen gegen rechte Einflussnahme in anderen Bewegungen mitnehmen.
Interview mit Paulo
BPA: Die Proteste haben mit einer Preiserhöhung des öffentliches Nahverkehrs angefangen, richtig?
Paulo: Ja, als das passiert ist, haben wir gesagt
“Stop! Wir haben kaum Geld und ihr wollt, dass wir noch mehr ausgeben.
Wir wollen das nicht mehr akzeptieren! Es ist zuviel.”
Wenn du den
Lebendsstandard in Chile mit dem von Deutschland oder anderen Ländern in
Europa vergleichst, kostet Essen und der Nahverkehr ähnlich viel wie in
Berlin, aber das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt nur etwa
bei 500€. Bildung und Krankenversicherung sind auch sehr teuer. Wir
haben kein Geld aber müssen überall viel ausgeben. Wir leben wie
Sklaven. Das ist der Grund. Unser komplettes Leben haben wir in diesem
scheiß System verbracht und wir wollen das nicht mehr akzeptieren.
BPA: Du meinst Neoliberalismus?
Paulo: Genau. Es hat angefangen unter dem
faschistischen Regime von Pinochet, mit einigen
Wirtschaftswissenschaftler*innen, welche die Chicago Boys genannt
wurden. Die und andere Faschist*innen haben dieses System in Chile
eingeführt, wie eine Art Experiment. Die Diktatur ist jetzt vorbei, das
System aber bleibt bestehen. Und da wir dieses System bekämpfen wollen,
wird die Polizei eingesetzt und fängt an uns zu töten.
Du kannst
Videos von der Polizei finden, wie sie Kokain nehmen [2] um danach die
Riots zu zerschlagen. Sie haben auch angefangen Schusswaffen zu
benutzen. Mehrere hundert Menschen haben deswegen ein Auge verloren,
zwei Betroffene sind jetzt komplett blind. Einige Leute sind
verschwunden, einige wurden ausgeraubt und viele Frauen haben sexuelle
Übergriffe erleben müssen. Die Polizei hier ist komplett verrückt. Der
Staat macht nichts dagegen.
BPA: Wie positioniert sich die chilenische Protestbewegung zum Staat und zu den Parteien im Allgemeinen?
Paulo: Die Bewegung will weder mit dem Staat noch
mit Parteien etwas zu tun haben. Wir einfachen Leute haben angefangen
zusammenzustehen, Graffiti in den Straßen zu malen, Konzerte mit Antifa
Gruppen zu organisieren und Geld für Nichtregierungsorganisationen zu
sammeln, zum Beispiel für das Cruz Roja [3].
Es beginnt sich ein
neues solidarischeres Miteinander und Füreinandner aufzubauen. Früher
wussten wir Leute nichts über Selbstorganisation oder übers
Demonstrieren. Aber mit der Zeit ist zu sehen, das der einzige Weg ist,
alles niederzubrennen. Wir haben keine andere Wahl. Wer den
pazifistischen Weg geht, wird von irgendeinem Cop niedergeschossen. Also
ist es wichtig die eigene Integrität und Rechte zu verteidigen. Der
einzige Weg das zu tun, ist mit direkter Aktion.
Es ist wirklich
schön die Macht der Menschen zu sehen, weil sie wirklich an sich selber
glauben und wissen, der einzige Weg etwas zu ändern, ist zu kämpfen. Sie
haben keine andere Wahl, sie spüren keine Furcht mehr.
BPA: Arbeitet die Bewegung mit Sozialist*innen, Anarchist*innen oder Kommunist*innen zusammen? Wie passt die radikale Linke in die Bewegung?
Paulo: Ich würde sagen, die Bewegung ist anarchistisch. Nicht wie die linke Seite im Staat, sondern normale Menschen ohne Geld, die sich selbst organisieren. Als die Bewegung angefangen hat, wollte niemand etwas mit Politik zu tun haben, weder links noch rechts. Am Anfang war es nur die Bewegung des Volkes. Aber wir Menschen in der Bewegung haben uns nach links entwickelt. Als die politische Rechte aufgekreuzt ist, haben wir sie aus der Bewegung gedrängt. Dasselbe ist mit den Kommunist*innen passiert. Wir haben angefangen zu sagen: “Hey, wir wollen dich hier nicht mit deiner Flagge.”
BPA: Du hast die politische Rechte erwähnt. Gab es da Gruppen welche versucht haben die Bewegung zu beeinflussen?
Paulo: Ja, manchmal. Rechte haben angefangen faschistische Truppen zu formen, welche größtenteils aus reicheren Leuten bestehen, um die Demonstrierenden zu verprügeln. Aber die Leute sagen, wir wollen eure faschistische Scheiße hier nicht mehr und sind komplett gegen den Faschismus.
BPA: Wenn die Faschist*innen größtenteils reiche Leute sind, wer sind die Demonstrierenden?
Paulo: Die Bewegung besteht aus sehr vielen
Menschen. Normale Leute, Frauen, Hooligans aus den großen Fußball-Clubs,
auch die Armen und Verbrecher*innen, wir nennen die “Flaite” [4]. Die
Armen sind immer in den Protesten. Die sind es hauptsächlich, keine
Reichen. Auch haben wir keine Anführer oder Gewerkschaften, nur
Selbstorganisation.
Für diese Organisation nutzen wir hauptsächlich
soziale Medien wie Instagram oder Facebook. Es ist sehr einfach so
Wissen zu teilen. Zum Beispiel haben wir einige Techniken aus Hong Kong
übernommen.
Etwa, wenn die Polizei einen mit Tränengas beschießt,
tust du Wasser über die Granate und dann einen Behälter darüber um sie
zu löschen. In der Vergangenheit wussten wir das nicht. Aber jetzt gibt
es Bilder, Diskussionen und Videos in den sozialen Medien, und die
Menschen fangen an das nachzumachen.
Auch sind die Antifaschist*innen
eine wirklich wichtige Bewegung in Chile geworden. Früher wussten viele
Leute nicht viel über Anarchist*innen oder Widerstand. Aber wir
beginnen zu lernen. Anarchistische Solidarität ist zusammenzustehen.
Kämpfe gegen den Staat, unterstütze den Feminismus, unterstütze Gays,
unterstütze einen anderen Weg zu leben.
Referenzen und Fußnoten
Interview auf EnglischDownload
[1] https://arrested.me/2019/07/30/winter-is-coming
[2] https://www.youtube.com/watch?v=yWSG9YQ_W9o
[3] Eine Art ehrenamtliches Rotes Kreuz
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Flaite
taken from here