Wir machen das Unerhörte und sagen: Respekt, Corona.

Vorbemerkung: Der Text richtet sich allen voran an jene, die derzeit in gezwungener oder freiwilliger (Halb-)Quarantäne sitzen – und daran verzweifeln. Es soll weder die sonstigen globalen Probleme und die darin involvierten Menschen (z.B. an den europäischen Außengrenzen), noch die tollen Versuche selbstorganisierter Nachbarschaftssolidarität, relativieren. Und selbstverständlich auch nicht den Ernst der Lage um die Pandemie selbst verharmlosen. Im Gegenteil: diejenigen, die die Quarantäne ernst nehmen, aber allmählich an diesen Einschränkungen des Lebens verzweifeln, sollen sich hier angesprochen und inspiriert fühlen. Wir wünschen außerdem allen Betroffenen, Infizierten, Angehörigen von Verstorbenen des Corona-Virus nur das Beste und drücken unser Mitgefühl und Solidarität aus.

Du hast geschafft, was keiner sozialen Bewegung, Revolution oder erhofften technologischen Errungenschaft, die trotz aller Versprechungen nie eingetroffen ist, in den letzten Jahrzehnten gelungen ist: Du bist die von Walter Benjamin geprägte herbeigesehnte Notbremse im auf den Abgrund der Geschichte rasenden Zug, angetrieben von Profit, Fortschritt, Verwertbarkeit – oder, in anderen Worten, vom kapitalistischen Imperativ von harder, better, faster, stronger. Einer Ordnung also, in der „alles, was nicht ausschließlich Gier nach dem Golde ist, einer grenzenlosen Lächerlichkeit anheimfällt“ (Baudelaire).

Der Laden steht still. Und siehe da – CO2-Emissionen sinken, es fließt klareres Wasser, Börsen und damit das Heiligtum des Marktes crashen, Militärmanöver werden abgesagt aber vor allem: die bei Normalbetrieb Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen, Verächtlichen dieser Welt (Marx) bleiben zu Hause und finden sich mit etwas wieder, das das totalitäre Regime der Lohnarbeit nahezu ausgelöscht hat: Entschleunigung und Freizeit, und zwar mehr, viel mehr als die Happen an reproduktiver und regenerativer Zeit, die einem zugestanden werden, um sich buchstäblich nicht zu Tode zu arbeiten.

Es schmerzt natürlich, dass die pandemisch erzwungene Ausnahmesituation ein großes soziales Zusammenkommen erschwert oder sogar in einigen Ländern verunmöglicht, denn Teilen ist am Schönsten. Viele sprechen daher von asozialer Isolation, Jeder für sich selbst, das Gegenteil von progressiven und fortschrittlichem Lebensstil, einem Albtraum, der Barbarei. Aber ist in einer von Hektik und Hetze geprägten Welt der Zustand „jeder für sich selbst“ per se falsch und abzulehnen? Denn wir erleben doch gerade eine erzwungene Renaissance dessen, was der Neoliberalismus in seinem Feldzug gegen sowohl die Idee der Gesellschaft als auch die Tradition des westlich-modernen, cartesianischen Subjekts (Ich DENKE, also bin ich) seit jeher unterdrückt: die Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Umgebung.

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die übliche Wochenendfreizeitgestaltung für Viele – Netflix, Sport machen, ein wenig Lesen, Zeit verschwenden auf Social Media, Gartenarbeit, Computerspielen… – dermaßen ausgeschöpft ist, dass man sich fragt: „Und was mache ich jetzt?“. Es ist einerseits so traurig, dass allein diese Frage in unserer Welt und unseren Köpfen wiederum Stress auslösen kann. Andererseits ermöglicht sie Gedanken und Aktivitäten, die in der normalisierten und gewaltvoll erhaltenen „Seelenlandschaft voller Langeweile, Überdruß, Trägheit, Angst, Erkalten und Versteinern […] des Subjekts“ (Baudelaire) selten in Erwägung gezogen werden. Da bietet es sich an, im schmalen Korridor von frühlingshaftem Wetter und (noch) nicht ganz Ausgangsperre raus zu kommen, sein Viertel, seinen Bezirk, seine Stadt zu erkunden und zu entdecken.

Nein, nicht im üblichen sonntäglichen Spaziergang, mit dem Zweck, regenerativ ein bis zwei Stunden ein wenig Sonne zu tanken, sondern in der zufälligen, ziellosen, intrinsisch wert- und erkenntnisvollen Flanerie. Was soll das sein? „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben. Um richtig flanieren zu gehen darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben.“ (Hessel). Get lost in the city, ohne die durch den Alltagszwang begrenzte Aufmerksamkeitsspanne, ohne Fremdführung (Guides, Reisführer, Google-Maps-Empfehlungen), ohne den raschen, funktionalen Gang, wenn man von A nach B geht, um etwas zu erledigen. Sondern dem Zufall überlassen, mit dem Blick fürs Banale, fürs Eigenartige, für alles, was sonst in der Aufmerksamkeitsökonomie keinen Platz findet, was wiederum selbst viele Geschichten und eine ganz eigene Dynamik entfalten kann: „Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der Bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens.“ (Benjamin). Die größten Flaneure waren dabei nie komplett alleine unterwegs – sie entdeckten gemeinsam, wahlweise mit ihrem Lieblingshaustier, der an der Leine geführten Schildkröte, die Straßen und führten Debatten in den Kreuzungen einer wachsenden Metropole. In der kompletten Isolation der Ausgangssperre ist das sogar vom Balkon aus, ruhend, möglich. Welche (Selbst-)Erkenntnis, aber auch welche „neue“ Formen der Kommunikation dadurch entstehen können, wenn auch andere auf dem Balkon abhängen – sich anschauen und zuwinken (liken im realem Raum), singen, Bingo spielen und sich über die Herausforderungen der Zeit der Pest auszutauschen.

Auf diese Weise entdeckt man nicht nur seine räumliche Umgebung neu, sondern sich selbst in dialektischem Verhältnis zu jenem Raum, variierend als Beobachterin von außen und als organisch werdender Teil dessen. Keine Angst, viele kennen diesen Zustand, ist er doch das, was man als schön, faszinierend und inspirierend vom Drogenrausch beschreibt. Nur hier braucht ihr keine (giftigen) Substanzen, sondern nur eure Umgebung, eurer Herz und das richtige Mindset. Dann kann eine x-beliebige Straßenecke im Kiez zum Erlebnis werden und man findet sich einem ganz anders wahrgenommenen Verhältnis zur Umgebung: „Die Figur des Flaneurs. Er gleicht dem Haschischesser, nimmt den Raum in sich auf wie dieser. Im Haschischrausch beginnt der Raum uns anzublinzeln: ’Nun, was mag denn in mir sich alles zugetragen haben?’ Und mit der gleichen Frage macht der Raum an den Flanierenden sich heran. “. (Benjamin)

Dabei macht sich nicht nur der Raum an den Flanierenden heran, sondern auch die Zeit. Das kann, gerade in den sich rasant entwickelnden Metropolen, neben neuen Erkenntnissen eine Art langfristigen Halt in und Verbundenheit mit der Stadt geben, die einen so oft kalt und unwillkommen heißt, selbst wenn man gerade einige Jahre dort lebt. VOR ALLEM, wenn man gerade (erst) einige Jahre dort lebt: Benjamin beschrieb Flanieren unter anderem als „Memorieren“ und Erinnern, und als (Mit-)Rekonstruktion seiner eigenen Kindheit, quasi als autobiographische Aufarbeitung des Selbst, als Spurensuche. Dazu zählt allerdings auch das sich Erinnern an die Stadt in ihrer Vergangenheit, also auch eine Art autobiographischer Aufarbeitung, eine Spurensuche der Stadt, in der man lebt. Daran lassen sich wunderbar Gedanken zur Frage anschließen , wohin sich die Stadt auch in Zukunft entwickeln mag. Denn Städte, Metropolen sind nicht, sie werden. Flanerie transzendiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nimmt Dich mit auf eine multidimensionalen Zeitreise.

Die damit im unmittelbaren Zusammenhang stehende Entschleunigung bewirkt dabei noch etwas viel fundamentaleres als das Spiel mit Raum und Zeit: sie deckt alles Unsichtbare und alle Unsichtbaren, in der Hektik und Hetze unsichtbar bleibend, ohne dass es jemand merkt, auf. Damit ist die Situation völlig offen. Das heißt schließlich auch: die kritische Haltung nicht vergessen und darüber nachdenken, was um einen herum geschieht und wovon wir auch selbst Teil sind – und wovon nicht. Wer kann überhaupt Flanieren gehen oder sich auf dem Balkon einen gemütlichen Beobachtungsposten einrichten? Sicherlich nicht die alleinerziehende Mutter, die keine besondere Unterstützung vom Staat oder anderen Institutionen genießt. Sicherlich auch nicht diejenigen, die um die Zahlung der nächsten Miete bangen – diesmal noch extremer als die Monate davor. Und die Angst, die bereits vorher da war, löst sich sicherlich nicht in Luft auf – die Angst vor dem gewaltbereiten Ehemann oder die Angst vor der nächsten gezwungenen Übernachtung im Freien. Was machen die Leute, die weiterhin auf der Suche nach dem nächsten Schuss sind um ihre Abhängigkeit zu befriedigen? Und wer kümmert sich um diese Leute weiterhin? Wer wird denn schon der Care-Workerin oder Mutter sagen: Geh mal flanieren, wir haben Zeit, wir sind nicht so gefährdet, wir machen das schon? Deswegen gehört das Herumschweifen, ob draussen oder auf dem Balkon, wenn der Lockdown gilt, auch wenn es bei den großen Flanerie-Autoren als Soloakt konzipiert ist, aus unserer derzeitigen Erfahrung heraus kollektiviert, sozial und solidarisch gedacht.

Wie sehr sich der Ausnahmezustand noch anhält und wie lange, kann derzeit niemand sagen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Apologeten von Staat und Kapital, von Profit, Verwertbarkeit, Markt, (Selbst-)Optimierung diesen Zustand, die tatsächliche Angst, Verwirrung, Infektion und das Sterben von vielen Millionen Menschen als schöpferische Zerstörung (Schumpeter) nutzen, um einige Schräubchen zu drehen. Um danach wieder „weiter so“ zu machen und die Corona-Krise als mahnenden Finger gegen alles, was sich nicht anpassen möchte, was Veränderung möchte, was VERBESSERUNG möchte, zu erheben und den Status quo, der die letzten 12 Jahre in seiner eigenen Krisenhaftigkeit vorgeführt wurde, endlich wieder als unangefochtenes Heiligtum zu erklären und repressiv zu verteidigen.

Was dann bleibt, wenn der Virus dann hoffentlich besiegt und nicht mehr Millionen Menschenleben gefährdet oder tatsächlich ausgelöscht sind, ist ein anderer Blick auf sich selbst und seine Umgebung. Eine süße Melancholie über die Zeit, in der man sich mit sich selbst und seiner Umgebung beschäftigen musste, beschäftigten durfte. Auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit blickt man morgens, zurück im Alltagsgrau, auf eine Straßenbaustelle oder an einen kleinen Riss in einer Häuserfassade, die immer völlig bedeutungslos war, und schmunzelt in Erinnerung schwelgend über die rauschhafte Gedankenkette während der Flanerie just an dieser Stelle. Dann denkt man an die Zeit der Entschleunigung durch die Quarantäne, über die verdammt viele Zeit des Nachdenkens und In-Sich-Gehens und über die inneren Ausführungen und Überlegungen hinsichtlich der Vergangenheit und Gegenwart, aber auch Zukunft und der Frage nach dem Leben, was man eigentlich leben möchte: Mensch, das Betätigen der Notbremse war irgendwie seltsam gut, lasst uns doch nicht einfach weitermachen wie vorher. Ähnlich wie der letzte Aufstand hat es einen Blick fürs Wesentliche, aber auch das Furchtbare offenbart, das Mögliche und das Offene. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet diese Situation dem ambivalenten, von Benjamin beschriebenen Messias so verdammt nahe kommt? Wir nicht.

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