“Wir sind alle Kinder von Marseille”

„Während die Zuschauer vor den Bildschirmen nur Bilder der Zerstörung sehen, wirkt der Aufstand als kollektive Regeneration: Die bisher atomisierte Menge erlebt sich als eine Macht, die nur sich selbst gehört.“

“Mit unserem Hundeleben

Das genug ist, um Geschichten ohne Ende zu schreiben

Im Rücken die Straße, mehr Wahrheit als die Nachrichten, am Ende nur die eigene Erfahrung

Du kennst den Refrain, wir haben Hunger…”

Fonky Family

Warum sind es immer die anderen, die auf La Plaine mit dem Finger zeigen? In Folge des Aufstands am Samstag, dem 1. Dezember, trat der Präfekt vor die Presse: “Es waren 100 bis 150 Menschen, die sich gegen die Baustelle auf La Plaine stellten, und die diese Vorfälle verursachten”[1]. Als ob ein Aufstand so beginnen könnte, wie auf Befehl… In Wahrheit war es vielmehr so, dass der Protestmarsch gegen unwürdige Wohnungen, sobald er das Rathaus erreichte, von einem Regen aus Gasgranaten begrüßt wurde, was dann wirklich den Aufstand auslöste, auf den alle Welt gehofft hatte. Die Behörden sind völlig besessen von der Vorstellung, dass wir eines Tages ins Rathaus kommen könnten. Aber wir verstehen… In Paris sind es die Elysées, die streng bewacht werden, in Marseille ist es das Rathaus.

Montag, der 3. Dezember, und die Oberschulen von Marseille nehmen ihrerseits am Tanz teil… Etwa dreißig sind im Streik, ungefähr zehn sind blockiert. Die Kinder sind ganz heiß auf die ganze Sache, bei der Schule Victor Hugo, einer Ghetto-Schule hinter dem Bahnhof brennen nicht nur Mülltonnen, sondern auch ein Auto, das herumstand. In der Stadt wird der ganze Tag rhythmisch durch das hin und her der gepanzerten Bullenwagen gebrochen…

Nach diesem schönen Samstag liegt eine besondere Atmosphäre über der Stadt. Die BAC [Brigades anti-criminalité ] beginnen direkt mit Gummigeschossen zu ballern, sie verstecken sich nicht einmal. Von hohen Stellen gab es Anweisungen, und die Brutalität mit der gegen 15-jährige vorgegangen wird, zeigt, dass die Schläge Spuren hinterlassen sollen. Die meisten Lehrer*innen schauen derweil weg … Am Mittwoch interveniert dann eine Gruppe Hafenarbeiter*innen und stellt sich zwischen die Schüler*innen und die Polizei und erfüllt so das Versprechen, dass die Verantwortlichen der CGT am Samstag, dem 1.Dezember, gegeben haben. Mit einer Gruppe Hafenarbeiter*innen auf der Straße konfrontiert bellen die BAC’s zwar noch, beißen aber nicht mehr.

Am Donnerstag, dem 6. Dezember, nehmen dann die Schüler*innen an einem Protestzug teil, der von den CGT- Hafenarbeiter*innen und einigen SNES-Lehrer*innen angeführt wird, der St. Charles erst verlässt und dann wieder zurückkehrt; bei der Ankunft provozieren die Kinder, vielleicht ein bisschen von der recht stillen Demonstration frustriert, einen Zusammenstoß mit den Bullen am Bahnhof. Die Bewegung der Schüler*innen, noch nicht von Repräsentanten eingefangen, ist immer etwas fröhlicher und lebendiger als die Proteste der Gewerkschaften…

Und immer der Gestank des Tränengas, der weiterhin über der Stadt schwebt. Da wünschen wir uns doch einen schönen Mistral [Wind aus Nordosten, der alles aufs Meer treibt]. Am Freitag, dem 7. Dezember, gegen Abend, treffen wir uns zu Ehren von Zineb Redouane vor ihrem Haus, Nummer 12 in der Rue des Feuillants. Am Samstag, dem 1. Dezember, bekam die 80-jährige Frau eine Gasgranate, ohne Zweifel in einer Situation der Spannungen abgefeuert, ins Gesicht, als sie die Fensterläden ihrer Wohnung im vierten Stock schloss. In ein Krankenhaus gebracht, starb sie während der Operation. Mit Zineb musste der Bezirk Noailles den Herrschenden nun schon neun Tote als Tribut zollen. Ihre Ermordung wird noch gewalttätiger dadurch, dass sie direkt gegenüber des zukünftigen Luxushotels (im Häuserblock Feuillants-Canebière-Longue des Capucins) wohnte, und es sehr wahrscheinlich ist, dass die tödliche Granate von Polizisten abgefeuert wurde, die das Soleam- Gelände [Société Locale d’Equipement et d’Aménagement de l’Aire Marseillaise] auf der anderen Seite der Canebière [zentrale Strasse des alten Quartiers] schützen wollten. Zwei- bis dreihundert Menschen sind gekommen, um ihr die Ehre zu erweisen, zwei Bewohner*innen des Quartiers ergriffen das Wort, um diese zusätzliche Gewalt gegen die Bewohner von Noailles anzuprangern, dann wird von einigen das Salat al- Janazah gesprochen, das Totengebet. Intensive Emotionen, die erst in den nächsten Tagen voll zum Ausdruck kommen werden.

Am Samstag, den 8. Dezember, gibt es mehrere Aufrufe in der Stadt zu erscheinen. 2000 Gilets Jaunes fließen am späten Morgen in den Alten Hafen und versuchen dann vergeblich zu den Hafenterrassen in La Joliette zu marschieren. Die Rue der la République wird ihnen durch Gasgranatenhagel versperrt. Zeitgleich beginnt die Klima-Demo um 15.00 an selbiger Stelle, marschiert die Canebière hinauf, um dann in den Cours Lieutaud einzubiegen. Viele Gilets Jaunes nehmen an dieser Demonstration teil. Hinter der Brücke [welche die Rue d’Aubagne über den Cours Lieutaud führt] taucht eine von zwei Piratenflaggen angeführte zweite Demonstration auf, vom Cours Julien kommend, die sich unter Applaus mit der Demonstration vereint. Auch Gangs von Jugendlichen aus den Vierteln sind gekommen, einige haben bereits die Woche über vor ihren Schulen mit den Polizei gekämpft.

Es sind also fast zehntausend Menschen, die in dem vielfältigen Zug zum Place Castellane, das “Marseille, steh auf, erhebe dich” direkt neben dem “Marseille, friedlich”, anstimmen, was ein allgemeines Lächeln verursacht, denn alle wissen, wie das enden wird… Ein verstärktes Banner “Friss deine Mauern”, direkt neben Transparenten die Vögel verteidigen , während ein Lied aus dem zweckentfremdeten Stadion ertönt: “Auf zu den Bäumen!!! Wir sind die Marseillianer, und wir werden kämpfen…”

Die Bäume, die in Marseille die ersten Opfer der städtischen Politik wurden, in La Plaine mussten wir für dieses Wissen bezahlen…. In Castellane, am Rand der südlichen Viertel angekommen und nach einer Viertelstunde herumstehen, drehten sich all diese schönen Menschen um und wanderten, der Ankündigung der Auflösung zum Trotz, wieder die Rue de Rome zurück. Als wir die Canebière erreichen, ist die Spitze des Demonstrationszuges nur zweihundert Meter vom Alten Hafen entfernt, den die Bullen an diesem Tag ganz sicher nicht verlassen wollen… Zwei Panzerwagen der Gendarmerie warten hier. Die Allee wurde vorsichtshalber aufgeräumt: Die Baustellen, die am vorherigen Samstag die Barrikaden mit Material versorgten sind weggeräumt worden. Ein Elektroauto und Mülltonnen dienen als brennende Barrikade.

Für eine gute Stunde lang hielt die Menge die Kreuzung Belsunce-Canebière. Einige Jugendliche versuchen die Schaufenster des OM-Ladens mit Vauban- Barrieren [Hamburger Gitter] einzuschlagen, doch sie halten Stand, andere werfen sich mit vollem Gewicht gegen die Rolladen aus Metall – der Präfekt wird von “professionellen Randalierern” sprechen, doch sind wir weit davon entfernt; die Burschen haben offensichtlich keine Werkzeuge mitgebracht, nicht einmal ein oder zwei Brechstangen, um sich Eintritt zu erzwingen. Es ist nur ihre reine Energie … Die erste Abteilung der Bullen, die CSI (Compagnies de sécurisation et d’intervention) und die GM (Mobile Gendarmerie) manövrieren … In den benachbarten Straßen wird es heller, die Panzerwagen kommen voran, aber sie werden den ganzen Abend nur die Canebière auf- und abfahren, in den Gassen von Noailles und Belsunce können sie nicht manövrieren.

Nach und nach erlangt die Menge die Kontrolle über die Kreuzung zurück, und die Jugendlichen können das beenden, was sie begonnen haben, nämlich den OM-Laden zu öffnen, und von seinem Inhalt zu reinigen. Die BAC versucht die letzten Plünderer aufzuhalten, aber ein Vorstoß schlägt sie in die Flucht … Auf einer Parallelstraße der Canebière verfolgt eine Gruppe von Jugendlichen jeden Panzerwagen, nachdem sie auf dem Cours Belsunce mit Steinen beschmissen wurden.Sechs Polizist*innen auf Motorrädern kommen in hoher Geschwindigkeit angeprescht und der Erste überholt, um ihnen kurz vor der Rue Longue des Capucins den Weg abzuschneiden, aber „la Bonne mère“ [die Basilika Notre-Dame-de-la-Garde] wacht über ihre Kinder…. In der Tat, der zweite Motorradfahrer rammt den Ersten mit voller Kraft, von einem weiteren gefolgt, die drei rappeln sich auf, während die Jugendlichen es schaffen die Rue Longue zu verlassen … Die, welche die Szene von der anderen Straßenseite aus beobachten, tanzen vor Freude. Andere arbeiten gewissenhaft an einer öffentlichen Aufgabe, direkt gegenüber dem OM-Laden: Alle Fenster und Schaukästen des Soleam einzuschlagen, dann die des Rathauses des 1. und 7. Arrondissements, das direkt nebenan liegt, während die begeisterte Menge daran erinnert: “Die ganze Welt hasst das Soleam”. In dieser Nachbarschaft dürfen auch Banken und Händler nicht vergessen werden; das Western Union auf der Canebière, welche bereits am vorherigen Samstag verwüstet wurde, erhält eine bevorzugte Behandlung, und auch die Sparkasse auf dem Boulevard Longchamp, wo sich Vandalen Zugriff zum Gebäude verschaffen…

Die Polizeiautos vor der Polizeiwache Noailles werden präventiv weggefahren, und die Kreuzung Canebière-Garibaldi wird schnell zum Zentrum der polizeilichen Besetzung. Die Aufständischen zünden keine Autos an, die Menschen die um Canebière herum wohnen, gehören nicht zur Klasse der Bourgeoisie im 8. Arrondissement von Paris … Wagen, die in unseren Vierteln geparkt sind, sind sehr alte Karren, die schwerlich über den TÜV kommen, aber die Müllcontainer tun es auch, und es brennt überall … in Noailles, zur Plaine hin, in Belsunce, der Boulevard Longchamp … Für mehrere Stunden werden die mobilen Gruppen der Bullen auf beiden Seiten des Canèbe bedrängt …

Mindestens acht Geschäfte werden geplündert, sorgfältig ausgewählt: Neben dem Laden von OM sind speziell zwei Juweliere in der Rue d’Aix erwähnenswert. Auf dem Boulevard Longchamp nehmen sich mehrere Dutzend Aufständische der Gitter der Filiale von Saint-Honoré Paris (SHP) an, einer unauffälligen Adresse für Luxusmarken wie Dior, Zadig & Voltaire und Hermés.

“Es gab eine ‘Flatrate’ für alle. Sogar die Menschen von der Terrasse nebenan kamen um sich zu bedienen! (…) Sie begannen zu plündern und zerschlugen die Ladeneinrichtung. Die Wände haben gewackelt, man konnte sie von oben hören.”, berichtet der Manager, der Schäden durch Vandalismus und Plünderungen in Höhe von 1.6 Millionen Euro zu beklagen hat.

Aus unseren Reihen kann keine Bilanz gezogen werden… Es gab viele Verletzte, vor allem aber durch die Schlägern der BAC. Eine Notärztin aus Timone, ehemals gewähltes Mitglied der regierenden Stadtratsfraktion, Vertraute von Gérard Chenoz, kündigte in einem Tweet an, die Verwundeten dieser Nacht zu denunzieren. Diese kommunale Clique lässt keine Chance aus ihre Ablehnung zu zeigen. Darüber hinaus wurden etwa 40 Personen in Gewahrsam genommen, etwa 20 wurden angeklagt. Und bekanntermaßen finden die Verhandlungen seit dem ersten Schwung am 3. Dezember unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. In der speziell eine Person, der vorgeworfen wurde an der Plünderung eines Geschäftes von Orange [Mobilfunkanbieter] teilgenommen zu haben, zwei Jahre Haft bekam. Was diesen zweiten Tag der Unruhen betrifft, so werden die Strafmaße die gleichen sein und eine Person wird für den Besitz einer Rauchfackel 6 Monate bekommen..

Am Montag, den 10. Dezember, gab es einen Aufruf, in dem das ‘Kollektiv des 5. November’ aufrief, sich anlässlich der letzten Stadtratssitzung des Jahres vor dem Rathaus zu treffen. Jedoch erfahren wir Sonntag abends, dass Gaudin angesichts der Ereignisse des Vortages beschlossen hat, diesen Ratstermin auf später zu verschieben! Eine gute Idee, Gaudin! Der Aufstand terrorisiere das Rathaus, das dann von einer Staffel des CRS [Compagnies républicaines de sécurité] geschützt wird. Doch der Aufruf bleibt bestehen und wir sind fünfhundert, die an diesem kühlen Wintermorgen den verschiedenen Redner*innen zuhören, aus Noailles, von La Plaine und aus den nördlichen Stadtteilen. Per Telefon wird gemeldet, dass gerade Gaudin in den Räumen des Rathauses des 1. und 7. Arrondissements gesichtet wurde. Derjenige, der sich nicht zu einem Besuch der Rue d’Aubagne herabgelassen hat, während das ‘Kollektiv des 5. November’ für ein paar zerbrochene Fenster bei ihm vorbeikam. Wir fahren sofort Richtung Canebière, aber bei unserer Ankunft ist der traurige Herr schon wieder weg… Darauf beschränkt durch seine eigene Stadt zu schleichen, was für ein Ende seiner Herrschaft!

sNach diesen beiden rastlosen Samstagen kam bei den Aktionen am 15. Dezember der Eindruck eines Machtverlustes auf – weniger Demonstrierende und am Abend nur wenige Zusammenstöße oben auf der Canebière… Auch in Paris scheinen die Tage des 1. und 8. den Höhepunkt zu markieren. Bemerkenswert war in diesen drei Wochen, das mit dem Aufruhr der Gilets Jaunes in Paris sich die Beschränkungen der Demonstrationen endgültig auflöste, so dass die Unruhen des 1. und 8. Dezember möglich wurden. Das einzige Mal, dass die bourgeoisen Stadtviertel von Paris wirklich die soziale Wut der Massen spürten, die ohne definierte Routen, in viele Gruppen zersplittert, agierten und so die Kontrolle der Polizei über dieses Gebiet in Frage stellten. In ganz anderem Kontext verliefen die Tage in Marseille ähnlich für die Behörden, die die Massen zu verwalten haben und dafür sorgen sollen, dass die Ordnung der Demonstrationen wirklich zu ihrer Kontrolle wird: Die Polizei erklärte, dass die Bewegung erneut viele Formen angenommen habe: „’Gelbe Westen’, der Klimamarsch, die Protestierer aus der rue d’Aubagne’, die ‘Randalierer’ und ‘Plünderer’. Trotz eines Polizeiapparats. der den spontanen Bewegung der Demonstranten folgend verschoben wurde, sei es schwierig geblieben, die Ausschreitungen dieser Bewegung mit ihren vielfältigen Komponenten einzudämmen.“ [2]

Der Aufstand ist immer eine Überraschung… Sein Charakter als unerwartetes Ereignis ist wesentlich, er kann nach einer Demonstration, einem Konzert, einer simplen Polizeikontrolle in der Nachbarschaft ausbrechen, das ist nicht wichtig, aber er ist immer spontan – auch wenn einige Teilnehmer*innen so etwas erwartet und sich ausgerüstet haben, so liegt es nicht in ihrer Macht dies zu entscheiden. Einen Aufstand kann man nicht anordnen. Und während die Zuschauer vor den Bildschirmen nur Bilder der Zerstörung sehen, wirkt der Aufstand als kollektive Regeneration: Die bisher atomisierte Menge erlebt sich als eine Macht, die nur sich selbst gehört. Aber wie wird die so wiederbelebte politische Energie verwendet? Wie können wir auf andere Formen zurückgreifen, die auch improvisiert und auch überraschend sind? Die Seite, die sich wiederholt, unterzeichnet das Todesurteil, das der Bewegung bevorsteht. Und in diesem Sinne war der Tag des 15. Dezembers, sowohl in Paris als auch in Marseille, eine Warnung.

In Marseille greifen die Märsche ineinander (eine Kundgebung ist am Donnerstagmorgen um 8 Uhr vor dem Rathaus geplant, wo der Stadtrat endlich tagen wird). Aber es ist nicht klar, wie die Aussichten sind, und so wie auch auf dem “Niveau hexagonal” [auf Gesamt-Frankreich bezogen] viele Gilets Jaunes jetzt vom RIC [référendum d’initiative citoyenne, Volksabstimmung] begeistert sind, fordern hier einige, dass der Staat die Kontrolle über die Stadt übernimmt, mit dem Argument, dass wir Gaudin um jeden Preis loswerden müssen – es wäre ganz wundervoll, jetzt von einem Macron’schen Präfekten regiert zu werden, bestimmt! Unsere Stadt hat im letzten Jahrhundert erlebt was eine staatliche Aufsicht bedeutet, mit den tragischen Folgen die wir 1943 gesehen haben, aber historisches Bewusstsein und Demagogie vermischen sich nicht sehr gut. [3]

,Es ist wahr, wir alle haben auf jedem Marsch seit dem 5. November “Gaudin démission” [Gaudin Rücktritt] gerufen. Und zu sehen wie diese alte verächtliche Person ihre Karriere mit einem schandhaften Rücktritt unter Zwang beenden muss, würde uns große Freude bereiten. Wir würden dies auch würdig feiern. Aber die Katerstimmung danach wäre wohl schlimm, wenn am nächsten Tag an seiner Stelle eine Martine Vassal [Stellvertretende Bürgermeisterin von Marseille] oder ein anderer Politiker der gleichen Art stünde, mit demselben kommunalen Apparat und der intakten FO- Mafia, mit den Gewohnheiten der Klientelpolitik, die schon so lange die Unterwerfung der Marseiller sichert… wenn uns nicht sogar einen Kolonialgouverneur, so wie 1939, aufgezwungen würde.

Mit anderen Worten: Die Forderung nach einem Rücktritt ist nicht genug. Und wir haben keine Lust eine Menschenansammlung abzugeben, die vor dem Tor drängelt, um in die Wählerlisten 2020 aufgenommen zu werden. Es ist höchste Zeit unsere eigenen politischen Formen zu reflektieren. Und deshalb können wir uns nur der Erklärung des “Syndicat des Quartiers Populaires” vom 2. Dezember anschliessen. Die Genossen aus den nördlichen Vierteln haben nach ihrer Forderung des geschlossenen Rücktritts des Stadtrats das i-Tüpfelchen gesetzt: “Wir wenden uns an die Menschen von Marseille, die Kollektive, die Gewerkschaften, die Verbände, um erneut das Schicksal dieser zersplitterten Stadt in die Hand zu nehmen, die von Verachtung und Jahrzehnten notdürftiger und klar unfähiger Kommunalpolitik erschüttert ist. Es gilt eine SELBSTORGANISIERTE Gemeindeordnung zu schaffen, die fähig ist relevante Arbeitsbereiche zu definieren und Lösungen für die Gesamtheit der Menschen in Marseille zu entwickeln!“

Diese Perspektive mag beängstigend wirken, aber sie verbindet sich mit der glorreichen Geschichte unserer Stadt; es sollte genügen an die Charta der Republik Marseille von 1214 zu erinnern, um zu verstehen, dass die für unsere kommunale DNA entscheidend ist.”

Nach der Katastrophe vom 5. November (4) kümmerten sich Kollektive und Verbände in den populären Vierteln um die, die alles in ihren geräumten Häusern zurückgelassen hatten (bisher 1596 Menschen). Das gewöhnliche Volk von Marseille kann so großzügig sein, es gab Solidaritätskonzerte in verschiedenen Cafés in La Plaine und in Noailles, die gut besucht waren und bei denen man Geld einsammelte. Aber dann? Solch humanitäre Hilfe für die Verdrängten wird vom Zeitdruck bestimmt; das hindert uns aber nicht darüber hinaus zu denken. Es ist an der Zeit über Besetzungen nachzudenken, ein Begriff der sowohl als Inbesitznahme als auch als eine langfristige Tätigkeit verstanden werden sollte.

Wenn eine große Masse die Straße einnimmt, wird es möglich, in ein leeres Gebäude einzudringen, es zu übernehmen, um darin Verdrängte unterzubringen. Und wir wissen alle, wo sich in Marseille leere Gebäude in gutem Zustand zu finden sind. Die einzige Übernahme, die bisher stattgefunden hat, war die des ehemaligen städtischen Kulturbüros, an der Kreuzung Canebière- Belsunce auf der südlichen Spitze von Noailles, mit nur wenigen Menschen und sie hielt auch keine 24 Stunden.

Und das ist schade, denn eine dauernde Besetzung an diesem Ort, direkt vor dem Soleam und nur 20m vom Haus von Zineb Redouane entfernt, hätte selbst den Wert eines Manifestes! Und am Ende eines Marsches von mehreren tausend Menschen durch Marseille, von denen es bestimmt ein Dutzend gab, wäre eine Besetzung, die von Anfang an bekannt und anerkannt wäre, in einer Situation des Kräftegleichgewicht möglicherweise durchgesetzt worden.

Die Frage stellt sich vor allem, da die Ausquartierten oft so weit wie möglich von ihren Häusern entfernt untergebracht werden. Im gegenwärtigen Kontext wären Hausbesetzungen in den Augen vieler Menschen völlig legitim und würden die Fähigkeit eröffnen, zur Verteidigung des Ortes zu mobilisieren. Und auch an diesem Montag, dem 17. Dezember, wurden im Viertel Corot die 96 Wohnungen des Gebäude A geräumt, nur 21 Familien wurden nach den Plänen des Rathauses umgesiedelt, was alle anderen Bewohner ohne Perspektiven auf der Straße zurückließ. Es sollte auch bemerkt werden, dass nach der Mamba- Episode [5] jede Besetzung in Marseille unmöglich wurde – jeder Versuch hielt nicht länger als ein paar Stunden, die BAC greift sofort mit extremer Gewalt ein, um einzuschüchtern. Hier wäre nun eine Gelegenheit die Zeit der Mobilisierung zu nutzen, um den Trend umzukehren – bevor der Legalismus wieder arbeitet und sich so Energien zerstreuen.

Versammlung am Donnerstagmorgen um 8:00 Uhr vor dem Rathaus. Das Wetter wird kühl aber sonnig. Die Clique von Gaudin aber wird nie wieder das Tageslicht erblicken.

Alèssi DELL’UMBRIA

[1] Vgl. “Marseille, debout, soulève-toi!” LundiMatin, 3. Dezember 2018.

[2] La Provence, 10. Dezember 2018.

[3] Vgl. “Une ville coloniale”, Histoire Universelle de Marseille, 2006

(4) Drei baufällige Häuser in der Altstadt von Marseille stürzen ein und und begraben mehrere Menschen unter sich. Nach den Todesfällen gibt es wochenlang wütende Proteste und Ausschreitungen, die sich gegen eine unfähige Bürokratie richten. Zahlreiche weitere baufällige Häuser in der Innenstadt mussten von ihren Bewohner*innen verlassen werden.

[5] Mamba war ein Gebäude unterhalb von La Plaine, das im Winter 2015 von Genossen besetzt wurde, um mehrere Dutzend Geflüchtete, darunter Sudanesen, aufzunehmen. Der Ort wurde im Laufe des Jahres 2016 geräumt, aber das Kollektiv ist weiterhin im Bezirk aktiv.

Anmerkungen:

Dieser Text erschien am 19. Dezember auf Lundi Matin:

http://lundi.am/NOUS-SOMMES-TOUS-DES-ENFANTS-DE-MARSEILLE

Alèssi Dell’Umbria schreibt regelmäßig auf Lundi Matin, außerdem hat er intensiv zur widerständigen Geschichte von Marseille geforscht und veröffentlicht. In diesem Jahr erschien sein hierzulande bisher kaum beachtetes Buch „Wut und Revolte“über die Unruhen in den französischen Vororten 2005 auf deutsch. Ich habe dazu eine kurze Rezension verfasst:

“Der Dialog ist endgültig abgebrochen, erwägt nicht länger uns einzuschläfern”

Ich erhielt die Übersetzung dieses Artikels von einem Genossen, der die Mühe der Übersetzung auf sich genommen hat. Ich habe den Text lediglich redigiert.

Sebastian Lotzer, 23.12.2018

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