WM: Wenn der Bürger zum Fan wird.

Man kennt schon zu Genüge den vor allem bei Weltmeisterschaften wieder hochgespülten medialen Verweis auf den Kommerz und auf gierige Spekulanten, korrupte Politiker und die Fifa-Machenschaften, alles nur, um erst recht so weiterzumachen wie bisher. Den Augenblick zu genießen, an dem aus braven Bürgern Fans werden, die nun ganz offen das Gewinnen um jeden Preis akklamieren, auch wenn der Glamour derjenigen, die da gewinnen sollen, zunehmend fehlt. Rüdiger Suchsland schreibt dazu gestern auf Telepolis:

Diese wiederum wird aber gespiegelt durch Bundestrainer Jogi Löw, dem Autokrat auf dem Trainerstuhl. Er pflegt das Bild der Nationalmannschaft als Schrebergärtchen des Unpolitischen – und damit der Selbstlähmung der Demokraten.

In jedem Turnier spielt die von Löw organisierte Nationalmannschaft langweiliger und liebloser, auch stilloser, weniger offensiv, abwartender, als müsse sie der Müdigkeit und fehlenden Leidenschaft der Demokraten auch noch auf dem Platz ästhetischen Ausdruck verleihen.

Kein multikultureller Tiki-Taka mehr, sondern am ehesten noch der Stil Real Madrids, abgeklärt, abgefuckt, aber ohne Ramos und ohne Ronaldo – “merkelesk”.

So wie im Fall der Kanzlerin bei den letzten Wahlen und den nachfolgenden Koalitionsverhandlungen war auch bei der Nationalmannschaft die Vorbereitung miserabel und kein Stil erkennbar. Stattdessen bietet die DFB-Elf wie die Große Koalition einen Haufen von verunsicherten Egoisten, Selbstdarstellern und Wichtigtuern, die Löw nicht in der Lage ist, zu einer Mannschaft zu formen.

Am deutlichsten wird dies bei Timo Werner, dem Jens Spahn im DFB-Dress: Ohne Plan und Selbstbewusstsein, aber mit großem Ego. Mathias Ginter oder Niklas Süle würde keiner auf der Straße erkennen – so wenig wie die meisten SPD-Minister.“

Neureiche Fußballer, die schon wegen ihres Trainingspensums für eine gewisse Lebensphase  auf Verzicht festgelegt sind, werden in Russland von neureichen Russen gefeiert, deren Leben gewöhnlich eine große Party zwischen Nachtclub und Tabledance-Bar, gepanzerten Limousinen und kokainhaltigen Casinos ist. Solcherlei „Dekadenz“ benötigt ab und zu die Leitfigur des Fußballers, die stellvertretend eine absurde Fitness pflegt, die einem von so einigem entlastet.

Thesen:

1) Fußball, Porno und Pop machen heute die Kulturindustrie aus.

2) Vereine, Spieler und Trainer sind heute hochspekulative Finanzanlagen. Der Neymar-Deal mit einer Ablöse von 222 Millionen erhebt den Weltfußball in eine neue Dimension. Die Zahl will man sich eher nicht vorstellen noch kann man sie im Moment von anderen Zahlen unterscheiden, am ehesten noch als abstrakte Zahl denken, wobei die Variable X ein  abstrahiertes Symbol für eine Zahl darstellt, vielleicht kann man wenigstens eine Entität namens Zahl oder eine Glückszahl denken, die den einen großen Wurf in unzähligen Variationen wiederholen lässt, aber auch das trifft die Phantastik der Zahl nicht. Die Phantastik der Zahlenreihe (die Menge natürlicher Zahlen, reine Quantität, die ein unendlich bildet … )

Klickt man auf ein Vereinsprofil, so ist die erste ins Auge springende Zahl der Gesamtmarktwert des Clubs. Dies entspricht in etwa der Börsenkapitalisierung eines Unternehmens, obgleich die wenigsten Clubs Aktiengesellschaften sind. Sämtliche Profifußballer besitzen einen ständig flottierenden Marktwert, den ein Konglomerat aus Medien, Spielerberatern, Vereinen, Kommentatoren und letztendlich der Spieler selbst bestimmt, i.e. eine Art kollektiver Rating-Agentur. Der Spieler-Unternehmer ist die fortgeschrittene Form des von Foucault gekennzeichneten neoliberalen Human Capitals. Der Profispieler ist eine Einkommen beziehende maschinelle Kompetenz, und dies innerhalb der Fußballindustrie, die den Spieler als strömenden finanziellen und sportlichen Komplex betrachtet, der für eine befristete Zeit bereit steht, um die Formation der Unternehmenseinheit „Fußballverein“ zu unterstützen. Fußballspieler sind weder lohnabhängige Arbeitskräfte noch hochdotierte Sklaven, sie sind (wie der Verein) auf die Zukunft hin exponierte Finanzanlagen.

Spieler wie Vereine müssen kapitalisiert werden. So gilt es, die zu einem gegebenen Zeitpunkt (ex ante) erwarteten, zukünftigen Gewinne mit den aktuell gewordenen, erst ex post als bekannt geltenden, Gewinnen zu vergleichen, auf die man spekuliert hat. Daraus ergibt sich der diskontierte, gegenwärtige Marktwert. Spekuliert wird wie etwa beim Immobiliengeschäft auch auf eine Ertragslücke: Die Differenz zwischen dem aktuellen Marktwert (die Summe, die vom Verein bezahlt worden ist) und dem zukünftigen Marktwert, der erwartet und ständig neu bestimmt wird. Die immer kurzfristigeren Verträge, die Konzentration der Vereine auf die Jugendarbeit und sämtliche Spekulationen um das Entwicklungspotenzial eines Spielers deuten auf die zukunftsbezogene Verwertung des Spielers als Finanzanlage hin. Entsprechend investieren große Geldgeber in Vereine, deren Spielermaterial, das die Ereignisse inszeniert, gleich der Produktivität des Vereins ist (im Zusammenspiel mit Management, Trainer, Medizin etc.). Dabei ist diese Art der Spekulation dem Kapital immanent, und es gilt jede verkürzende Kritik am Finanzkapital als der Ausgeburt von gierigen Spekulanten zurückzuweisen, eine Kritik, die schnell antisemitisch aufgeladen werden kann.

In besonderer Weise ist der Profifußballspieler ein Derivat. Der Preis des Profifußballspielers Ronaldo wird kontinuierlich durch den Preis einer Vielzahl derivativer, das heißt von ihm abgeleiteter Produkte mitbestimmt, womit  Ronaldos Haar- und/oder Körperdesign symbolisch aufgeladen wird. Der Markterfolg der von Ronaldo beworbenen Waren wird seinen eigenen Preis (als Ware) steigern, während Waren, weil sie seinen Namen und damit ein Image tragen, selbst wiederum zu Derivaten mutieren, wobei beide Sorten von Waren-Derivaten füreinander da sind, unter anderem auch deswegen, weil es Ronaldo geschafft hat, sich selbst zum lebendigen Geld aufzuschwingen. Offensichtlich stützt die Ware Ronaldo die von ihm beworbenen Waren, und umgekehrt -: beide Warenarten steigern ihren Preis in reiner Reziprozität, indem sie sich beiderseits als Derivate in den medialen Gossen der Picture-Industry beglaubigen.

3) Der DFB stellt in Deutschland den institutionellen Rahmen für das florierende Fußballgeschäft. Die Organisation und Vermarktung des Fußballs  inkludiert die  Stimulierung und Steuerung  sog. thymotischer Energien, des Ehrgeizes, Energien, die aber heute, und das vergisst Sloterdijk, in einem See des Wellness-Feelings baden (gegangen sind). Die Funktionäre des DFB, die Sloterdijk die unentbehrlichen Parasiten des Sports nennt, folgen den Organisationsgeheimnissen, wie sie das Olympische Komitee schon lange vorgegeben hat, nämlich so viele Funktionen und Posten zu schaffen wie möglich, um in die Riege der Neureichen und Neuwichtigen (Sloterdijk) aufzusteigen, Vermögen wenn notwendig auch durch Korruption anzusammeln, wofür die Medien, die Television und die Vereine eingespannt werden, letztere die Matrizen der sportlichen Bewegung, umgeben von applaudierenden Fans, die nun langsam doch die Schnauze voll haben.

4) Der Fußball ist eine gigantische globale Eventmaschinerie, die rund um die Uhr Fußballspiele im TV sendet. Nirgends ist der Sieg der konstruktivistischen Medientheorie, die besagt, dass die Medien das Ereignis erzeugen und nicht umgekehrt, besser realisiert als im Fußball. Empirisch zeigt sich dies darin, dass die großen Vereine hohe Teile ihrer Umsätze über weltweit vergebene Senderechte generieren. Permanent werden die Anstoßzeiten der Spiele der nachfrage der übertragenden TV-Sender angepasst, die Namensrechte der Stadien werden gnadenlos vermarktet, Stehkurven weichen Sitzplätzen, die VIP-Logen sind für die Marketing-Unternehmen reserviert, große Clubs werden zum Luxusspielzeug und zur Finanzanlage von kaufkräftigen Investoren and so on.

Das Verlangen nach Überbelohnung stachelt der Profifußball an. Anders als im modernen Theater, wo von Anfang an nur Verlierer auftreten, die über ihre Probleme reden und sich dabei immer weiter verknoten, geht es in der modernen Fußballarena um die Lust an der Unterscheidung: Sieg oder Niederlage. Die Inszenierung des Ungewissen tritt mit dem Versprechen auf, dass es am Ende zumindest für eine der Parteien zu einer befriedigenden Lösung gekommen sein wird, wobei die Taktik für beide Seiten notwendig ist, um diese befriedigende Lösung im Spielverlauf selbst herzustellen, indem (virtuelle) Abläufe in molekulare Module und Wege zerlegt und aktualisiert werden, die jederzeit durch blitzschnelle Entscheidungen, Kalküle und Taktikwechsel quasi maschinell rekombiniert werden können. Das Neue ist im massenmedialen Spektakel immer ein Mittel, um Spannungen auf- und abzubauen oder um einen permanenten Spannungsbogen zu halten, wobei gerade soviel Neuigkeit als Abweichung zugelassen, dass der Effekt des Wiedererkennens der alten Schemata nicht gestört wird. Das Neue soll allein unbedrohliche Ungewissheiten ins Spiel bringen, ohne dass aber die Frische eines Befremdlichen aufscheinen könnte.

5) Das Fußballstadion ist sowohl Spektakel als auch Panopticon. Über umfassende Videoüberwachung des Zuschauerbereichs (Sitzplätze sind besser als Stehplätze zu überwachen) besitzt die Polizei, die sowohl über eigene Einsatzräume als auch über Stadionwachen verfügt, heute Kontrolle über das Stadion. Ihr steht ein analytischer Apparat zur Seite, der die Fußballfans in drei Kategorien einteilt: Kategorie A = normaler Fan; Kategorie B = bedingt gewaltbereit; Kategorie C = gewaltbereit, sie suchen Auseinandersetzungen. Dieser Macht-Wissen-Komplex erzeugt spezifische Machtbeziehungen in und außerhalb der Stadien. Im Zuge der Umgestaltung der Stadien zu einem hauptsächlich kommerziell verwertbaren Raum ist bspw. auch die Pyrotechnik illegalisiert worden.

6) Der neoliberale Spieler steht für die Anforderungen eines flexiblen Arbeitsmarktes. Das Human Capital soll Ausdauer, Flexibilität und autonome Leistungsbereitschaft besitzen, die Räume besetzen, Spielsituationen antizipieren, mannschaftsdienlich spielen und doch kreativ sein. Die Zauberformel heißt Team. Performance-Potenziale werden im Team realisiert, aber gleichzeitig gilt es die eigene Eleganz durchzusetzen, und dies macht den Star aus. Die Fußballindustrie ist heute immer auch Casting-Industrie.

7) Die Ultras sind sowohl ein Resultat der staatlichen produzierten Delinquenz als auch ein Politikum. Sie sind Fans, die keine konventionellen Fans sein wollen und es doch sind. Jede Form des von Fans und Konsumenten so gepriesenen Lokalpatriotismus ist wie der Fußballverein selbst Teil eines Rankings, das die Städte als Kapitalstandorte im internationalen Konkurrenzkampf gegeneinander organisieren. Die Verklärung des eigenen Vereins – eine tolle Form des Provinzialismus -, von authentischer Beschaulichkeit und Einfachheit eines vom Kommerz befreiten Fußballs ist Teil der Suche nach dem Ursprünglichen und Unverfremdeten, in der die eine Sehnsucht nach Zuständen wiederkehrt, die man nicht wollen kann.

8) Fußball huldigt dem Erfolg, der gleichbedeutend mit Glück und positivem Denken ist. Dem entspricht das permanente Life-Logging des Spielers, eine sorgfältige Beobachtung des Körpers, die zu höherer Leistung führen soll. Die Kontrolle wird gasförmig, sie erregt und ist heimtückisch zugleich. Der Spieler ist ein perfekter Selbstquantifizierer, allerdings einer, der immer nur dem Team hilft.

9) Eine Vision: Es gibt das intime Zwiegespräch des Fußballsubjekts mit dem Ball als Quasi-Subjekt, wobei es ausschließlich und allein der Ball zu sein scheint, der ständig über die Stränge schlägt und seine eigenen Bahnen und Wege auswählt, sodass allein der Ball die Positionen, Laufwege und Plätze zu besetzen scheint, sie in jeder Sekunde des Spiels verschiebt, womit das Kontinuum der Unendlichkeiten möglicher Wege und Begegnungen, Berührungen und Relationen, die eben der Ball bahnt, dem Fußballsubjekt unsäglich fremd wird, dieser Chaosmos der Unendlichkeiten, nur mühsam begrenzt von Strategien, Taktiken, Fähigkeiten und Fertigkeiten – Spieler, Schiedsrichter, Fernsehkameras, Geräuschkulissen und euklidische Geometrie, ja, und selbst das Stadion spielt mit, die Zuschauer mit ihren kollektiven Wahrnehmungen zwischen Event und Ereignis oszillierend – (das Stadion-Panorama erzeugt die Umlaufbahn einer Übersteigerung kollektiver Affekte).

10) Eine Position: „Es ist die Tatsache, daß die Montagszeitung stets die unlesbarste ist, weil der aggressive Sportteil mit seiner Gülle aus Fußballfront­bericht­erstattung, Spielerhalbnacktfotos und Pfennigweisheiten den kümmerlichen Rest in seinen Krallen hält. Fußballkommentare sind keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Es ist die Verwegenheit von der Stange, die sich aus der täglichen Müllabfuhr von Feuilleton, KiKa und H & M kostümiert und im Fußball das »Aben­teuer Ich« und sogar das »Abenteuer Leben« hallu­ziniert…

Es sind die umnachteten Mietvisagen der akzeptierenden Medienarbeit, die granatendämlichen Zombies aus Politik, Kirche und Wirtschaft, die sich beim Fußball anbiedern, um irgendwie auch Pop oder cool oder beides zu sein. Denn wer nicht schön- und mittut, der wird nicht gewählt, dessen Quoten sinken, dessen Stuhl wackelt und dessen Produkte kauft kein Schwein. Noch nie war das Bekenntnis zum Mittelmaß so überzeugend.Es ist die Affirmationsblase des polytropen Spaßspießertums, das eben deswegen das schlimmste ist, weil ihm nicht im Traum einfällt, daß es das moderne Spießertum ist.”

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