ZU Robert meisters neuem Buch “Justice is an Option” (1) – Eine Umwertung der Finanzmärkte

Robert Meister Buch Justice is an Option ist ein äußerst wichtiger Versuch, die Theorie der aktuellen Finance mit linken politischen Optionen in Verbindung zu bringen, die unter anderem auf eine Theorie der Gerechtigkeit unter Einbeziehung der Finance abzielen. Meister will das Konzept der Liquidität der Finanzmärkte als eine vorausgesetzte Bedingung in ein Objekt des politischen Streits verwandeln. Die Instrumente, mit denen Kapitalmärkte Liquidität materialisieren, auspreisen und shorten, können als Signifikant dafür dienen, dass historische Ungerechtigkeiten, die Auswirkung einer „bösen“ Vergangenheit auf heutige Ungerechtigkeiten waren, sichtbar und interpretierbar gemacht werden. Der kapitalistische Realismus muss heute weitgehend als die Passage von der Industrialisierung hin zur Epoche der globalisierten Finance betrachtet werden, aber was ist denn der finanzielle turn tatsächlich, fragt sich Meister. Es ist für ihn die politische Dominanz des finanziellen Sektors über andere Sektoren des Kapitals, die der Stagnation und den globalen Turbulenzen der 1970er Jahre folgte.

Karl Heinz Brodbeck hat diesen Übergang vom Gewinn zur Rendite in ökonomischen Kategorien dargestellt. Der Profit wird im Shareholder-Value-Konzept aus einer Differenzgröße (Gewinn ist gleich dem Ertrag, der die Kosten übersteigt) in eine reine Verhältnisgröße transformiert, die man als sog. Return on Investment bezeichnet und die den an der Börse in kurzen Intervallen bewerteten Wertzuwachs zwischen dem Zeitpunkt t0 und Zeitpunkt t1 angibt. Mit der sog. Sharpe Ratio setzt man den Wertzuwachs eines Unternehmens in ein Verhältnis zum Risiko, eine Definition, mit der man die Rendite einer Geldanlage bestimmt, soweit sie den risikofreien Zinssatz übersteigt. Rendite erscheint hier in Abhängigkeit vom Risiko, wobei das Risiko, das ein Investor zu tragen hat, als Kostenfaktor gilt. Als Maß für das Risiko gilt wiederum die Volatilität der Rendite: Man dividiert den erwarteten Gewinn eines Portfolios (abzüglich einer risikofreien Zinsrate) durch dessen sog. Standardabweichung. Und somit dienen rein auf die Zukunft gerichtete Orientierungsgrößen wie Return on Investment oder Sharpe Ratio als jetziger Bezugspunkt für die Entscheidungen des Managements, womit eindeutig die infinitesimale temporale Maximierung von Verhältnisgrößen ins Zentrum der Unternehmensplanung rückt, was zugleich einen Prozess der Beschleunigung in Gang setzt, sodass seitens des Managements heute immer diejenigen Entscheidungen bevorzugt werden, die an der Erzielung kurzfristiger Renditen orientiert sind. Und abgepaust wird damit eine spezifische Börsenlogik, welche die Wertsteigerung eines Unternehmens wie die eines Portfolios beurteilt, d. h., in einem Intervall zwischen t0 und t1 müssen Gewinne realisiert werden, und diese evaluiert man eben mit Methoden und Modellen, die ähnlich der Diversifikationsstrategien eines Portfolios funktionieren sollen.

Zurück zu Robert Meister. Für ihn muss die Finanzialisierung seit den 1970er Jahren auch als die Generalisierung und Erweiterung der finanziellen Denkformen betrachtet werden, die auf alle Sektoren der kapitalistischen Ökonomie übergreift, sowie als ein Set von Technologien, um diese Sektoren eben zu finanzialisieren. Mit Randy Martin geht Meister davon aus, dass zum Ende des 20. Jahrhunderts der finanzielle Sektor die Kontrolle über die sog. Realwirtschaft übernommen hat, die durch die Kommodifizierung charakterisiert war. Dabei wurde die Theorie des Humankapitals, die vom Neoliberalismus propagiert wurde, durch ein Konzept des Selbst überlagert, einer Strategie zur Kreation und zum Hedgen von Optionen in einer Welt des immer sich verändernden Risikos. Ein voll finanzialisiertes Selbst ist ein Portfolio von Assets, in dem die Risiken sich ständig verändern und zugleich neue Möglichkeiten auftauchen, die über die ganze Lebenszeit permanent geregelt werden müssen, und zwar als Antwort auf unsichere zukünftige Bedingungen. In diesem Zusammenhang könne dann auch Gerechtigkeit fruchtbar gemacht werden, nämlich als neue soziale und politische Möglichkeit des Herstellens und des Auspreisens von Optionen. Dabei gilt es hier mit Brodbeck darauf hinzuweisen, dass dem Risiko keine kausale Bedeutung zukommt, denn das Risiko erzeugt an sich keine höhere Rendite, es steht aber im Zusammenhang mit ihr.

Meister weist darauf hin, dass bei Marx das Konzept des Werts den monetären Austausch von Waren inkludiert, während die Präferenz des Haltens von Geld, was Keynes als Liquiditätspräferenz beschreibt, auf der Vorstellung beruht, dass jenes an sich wünschenswert ist, da es ein Moment der Optionalität enthält, was als „Optionsform“ beschrieben werden kann, insofern auch jedes Asset, das noch kein Geld ist, in Geld umgewandelt werden muss, um dann wieder die Option zu haben, es wieder in ein anderes Asset zu konvertieren. Die Optionalität, die in der Geldform gespeichert ist, seine Liquidität, ist intrinsisch gewünscht.

Der Geldbesitz ist ja für ein Unternehmen lebensnotwendig, ist gegenüber unsicheren Realisierungen eine Art Versicherung, weshalb für Keynes der Zins als ein rein monetäres Phänomen der Preis ist, den ein Geldbesitzer dafür verlangt, dass er auf Liquidität verzichtet und damit das Risiko eines Scheiterns der Marktteilnahme erhöht. Wenn man den Fokus auf die Liquidität legt, dann sieht man sofort die Vulnerabilität der Finanzmärkte.

Für Meister kann die Finanzialisierung neue Möglichkeiten schaffen, um die historischen Ungerechtigkeiten umzukehren, weil der sozial hergestellte Reichtum, der heute in Form finanzieller Instrumente gehalten wird, leicht transferierbar ist, insofern er liquider ist als das in Maschinen und Fabriken akkumulierte Kapital. Marx zeigt, dass die Extraktion des Mehrwerts Investmentmöglichkeiten benötigt, mit denen der Surplus bewahrt und zugleich akkumuliert werden kann. Es sind für Marx zuallerest die Investitionen in Produktionsmittel, die dies erlauben, aber sie könnten auch die Möglichkeiten des Kapitals unterminieren, die Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung nach Produkten zu befriedigen, und damit könnten sie die Armut und Ungleichheit ansteigen lassen. Heute sind es aber zuerst die finanziellen Produkte, die die Kapitalakkumulation forcieren, insofern die finanziellen Assets „Wert“ besitzen, weil Optionen in ihnen gespeichert sind, wobei die Bewertung der Optionen von der Fähigkeit abhängt, den Reichtum zu bewahren und zu vermehren. Jedes Instrument der Kapitalakkumulation inklusive der Produktionsmittel muss ein Element der Optionalität enthalten, um als solches zu funktionieren. Deshalb kann das finanziell akkumulierte Kapital nicht als rein fiktiv beschrieben werden, insofern die Optionen in ihrer Kapazität Wert zu bewahren und zu erweitern bewertet werden können. Weil der akkumulierte Reichtum heute weitgehend in finanziellen Optionen besteht, die einen aktuellen Wert besitzen, kann die Theoretisierung der historischen Gerechtigkeit auch als eine Option betrachtet werden, die einen aktuellen Wert besitzt.

Für Meister ist die Liquidität eine abstrakte Form der Macht, die mit dem globalen finanziellen Kapital korreliert, und dies in derselben Art und Weise wie die Souveränität die abstrakte Form der Macht war, die mit den nationalen Modi der kapitalistischen Produktionsweise korrelierte. Die Liquidität ist mehr als nur eine Metapher für die monetäre Fluidität des Marktes, vielmehr betrifft sie die Kapazität der Ökonomie, Kapital zirkulieren zu lassen, i.e. die frei flottierende Zirkulation von Geldkapital ist eine notwendige Bedingung für die Existenz der Ökonomie im 21. Jahrhundert. Konstitutiv für diese Ökonomie ist heute also die Zirkulation des spekulativen Kapitals, zudem der Gebrauch der neuen Informationstechnologien, um die Kapitalströme zu gestalten und zu beschleunigen und schließlich die technologisch unterstützte Produktion des Wissens voranzubringen, welche die Marktteilnehmer bei ihren Entscheidungen spekulativ und global zu handeln, rund um die Uhr informieren. Die Liquidität wird häufig als ein Synonym für die sozialen Relationen gebraucht, die es den Agenten erlauben, das kollektive Unternehmen zu konstruieren, das der Markt ist: Ein Markt, der für einen Vertragspartner immer den Gegenpart bereithält, ein Markt, der homogen ist und permanent die Volatilität zur Verfügung stellt, welche erst die Rekalibrationen ermöglicht, die für die Fortführung des Marktes notwendig sind. Es gibt einen notwendige Verbindung zwischen den kontingenten und oft unvorhersehbaren finanziellen Ereignissen und der Konstruktion des Marktes als Totalität. Die Derivatmärkte sind unbedingt abhängig von der Liquidität.

Geld als Vermögensspeicher bewahrt nominal seinen Wert und kann damit als Zahlungsmittel bzw. Liquidität dienen. Wer nach Keynes auf Liquidität verzichtet, verlangt eben einen Zins, der reale Effekte auf Investitionen besitzt. Als Vermögensspeicher dient das Geld aber auch der Spekulation, wobei große Geldbeträge heute in Sekundenschnelle dorthin transferiert werden können, wo große Spekulationsgewinne erwartet werden. Meister erwähnt an dieser Stelle die Arbeiten von Bichler/Nitzan und Tim de Muzio, die auch die Zusammenhänge von Liquidität, Schulden und Klassenmacht bearbeiten würden.

Er erwähnt weiter den französischen Theoretiker Michel Aglietta, der aufgrund der Tatsache, dass im Kapitalismus jede letzte Zahlung in Geld erfolgen muss, das vom Staat ausgegebene Geld als die Externalität einer unterliegenden Einheit begreift, dem sozialen Band zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern. Ein Geld gebender Staat besitzt die Fähigkeit seine eigenen Schulden zu monetarisieren, indem er die Unterscheidung zwischen der Ausgabe und dem Leihen von Geld aufhebt. Der sozial akzeptierte Gebrauch des staatlichen Geldes, um privat kreierte Schulden, die im Finanzsystem zirkulieren, zu regeln, gibt dem Geld eine absolute Liquidität. Hier erscheint dann die relative Liquidität der Finanzmärkte immer als das Produkt politischer Entscheidungen. Durch das Auspreisen finanzieller Derivate gegen die Unsicherheiten wird heute aber die Relation zwischen öffentlich kreierter und privater, marktbasierter Liquidität ständig behandelt und bewirtschaftet. Die Derivate signifizieren zudem noch eine andere Relation als jene, nämlich die Optionalität, die auf einer ultimativen Kontingenz dessen basiert, was als nächstes am Markt passiert, das die Liquidität stören könnte. Eine weitere Bedeutung der Liquidität des Staats besteht darin, dass der Staat die Option besitzt, die Bewertungen der Asstes am Kapitalmarkt zu unterstützen, und darin hält er das politisches Risiko, dass diese Option nicht verschwindet, indem eben die Nicht-Akkumulation von Kapital verhindert werden soll. Die Unterstützung der Bewertung von Assets und die der Währung sind zwei unterschiedene, aber zugleich zusammenhängende Formen einer durch den Staat kreierten Liquidität für Kapitalmärkte.

Der Zusammenhang von Staat, Liquidität und Optionalität wurde zuerst von Keynes entwickelt. Der Wert der Optionalität, den das Geld herstellt, liegt in den verschiedenen Möglichkeiten es zu übertragen, um einen Gewinn zu erzielen oder einen Verlust zu vermeiden, und dies unter der Annahme, dass die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird. Keynes isoliert das Element der Optionalität, die im Geld liegt, wobei der „Wert“ hier in den variierenden Schwierigkeiten liegt, einen Kauf zu finanzieren, bei dem eine Ware als Sicherheit versprochen wird. Die moderne Finanztheorie generalisiert die Möglichkeit, Optionen unabhängig von den Marktpreisen der unterliegenden Waren auszupreisen, damit beginnend, dass Liquiditätszuschläge, die aus irgendeinem Asset herrühren, als distinkte Assetklasse gesplittet und bewertet werden können. Sie essenzialisiert die Unsicherheit (das Faktum, dass Finanzmärkte im Moment nicht zwischen Information und Noise unterscheiden können), damit die Optionalität als solche einen vermarktbaren Wert besitzen kann, und zwar als Maß des Einflusses neuer Information über die Liquidität. Wenn es einen Future gibt, um zu einem Preis, der im voraus gewusst wird, kaufen oder zu verkaufen, und dies als Antwort auf eine Information, die nicht im Voraus gewusst werden kann, dann beinhaltet er ein bewertbares Recht, für das erwartetet werden kann, dass man einen Betrag bezahlt, der über der Liquiditätsprämie liegt, die besteht, wenn man Cash hält.

Wie viel soll man dann für die zusätzliche Optionalität bezahlen? Wenn man eine Option besitzt, etwas für 100 Euro zu kaufen, das einen aktuellen Preis von 110 Euro hat, dann kostet das heute 10 Euro (intrinsischer Wert), während die Option etwas zu kaufen für 110 Euro, das gegenwärtigen einen Preis von 100 Euro hat, eine Zeitwert besitzt. Dieser kann kalkuliert werden, wenn man sich auf den Grad einer erwarteten Varianz des Preises fokussiert, der über oder unter 100 Euro liegt (erwartete Volatilität), und zwar relativ zur Zeit, bis die Option ausläuft. Hier sieht Meister die Bedeutung der Black/Scholes Formel. Ein Investment ist ein Tausch einer fixierten Quantität von Mitteln für etwas, das weniger liquid ist, bspw. eine Aktie, die im Preis variiert. Indem er die Liquidität aufgibt, hält der Käufer einer Aktie die finanzielle Gefahr von zukünftigen Bewegungen der Preise, er gewinnt, wenn er steigt und verliert, wenn er fällt. Eine Call-Option zu kaufen, enthält das Recht, einen Gewinn aus der Schätzung des Aktienwerts zu erzielen. Ob die Option ein Put oder Call ist oder der Call oder der Put selbst gekauft oder verkauft wurden, das ist eine wichtige Unterscheidung. Der Käufer eine Option, egal ob sie ein Call oder ein Put ist, nimmt eine Long Position auf sein Investment ein, der Verkäufer eine Short-Position,

Optionen sind Derivatverträge, die das Recht beinhalten, Underlyings bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (Fälligkeit) und zu einem festgelegten Preis zu kaufen (call) oder zu verkaufen (put), ohne dass man die Option auszuführen braucht. Der Preis einer Call-Option, mit der man eine Ware oder eine Sicherheit zu einem bestimmten zukünftigen Preis kaufen kann, aber nicht muss, variiert von Null bis hin hin zu einer unendlichen Zahl. Der Einsatz von Optionen dient vor allem dem Hedging. Im Gegensatz zu den Forward- und Future-Verträgen fallen beim Erwerb der Option Kosten an. Es gibt zwei grundlegende Typen von Optionen: Das Recht etwas zu einem festgelegten Preis in der Zukunft zu kaufen nennt man Call-Option (Call), das Recht zu verkaufen wird Put-Option (Put) genannt. Wenn man verkauft, dann nimmt man die Short Position ein, und wenn man kauft, dann nimmt man die Long Position ein.

Die Put-Call-Parität besagt, dass es zwischen Put und Call Optionen eine feste Beziehung gibt. Dabei müssen Put und Call sich auf den selben Basiswert beziehen, den selben Strike-Preis und eine identische Laufzeit haben. Jemand, der die Call Option hält, eine Aktie zum Strike-Preis kaufen zu können, muss das nötige Geld besitzen, um die Aktie, sollte er die Option ausüben, auch kaufen zu können. Auf der Seite des Inhabers der Put Option hält derjenige, der den Put hat, a schon die Aktie, auf die sich der Put bezieht. Der Preis der Call Option samt dem nötigen Cash, um die Aktie dann auch kaufen zu können, muss identisch sein mit dem Wert des Puts plus dem Aktienkurs. Die Put-Call-Parität misst, ob es ein Ungleichgewicht der Marktpreise für Optionen gibt. Ist die Put-Call-Parität nicht erfüllt, dann gibt es eine Arbitragemöglichkeit, das heißt risikolos einen Gewinn machen zu können.

Diese Parität ist aber bloß eine Identität des Accounting, die es erlaubt die Preise des Call, Put oder der Aktie festzustellen, wenn man den risikofreien Zinssatz und all die anderen Elemente kennt. Die Frage ist, ob Put und Calls ausgepreist werden können, wenn sie nur eine Zeitwert besitzen, wenn ihre zukünftigen pay offs nicht vom aktuellen Marktpreis der Aktie realisiert werden können, sondern vom immer sich verändernden Preisen abhängen, die die Aktie noch nicht erreicht hat. Für Meister besteht die Leistung von Black/Scholes darin, finanzielle Assets in noch grundlegendere Komponenten von Optionen und risikofreien Schulden heruntergebrochen zu haben, zumindest was Calls angeht. Wenn man den Betrag für eine Option zahlt, damit ein Haus in der Zukunft gekauft werden kann, und zwar zu einem Preis, den man heute festlegt, kann man potenziell von einem zukünftigen Anstieg der Häuserpreise profitieren, indem man die Option mit einem Profit verkauft, während man den potenziellen Verlust im Verhältnis zum ursprünglichen Betrag, den man bezahlt hat, limitiert, und zwar im Fall dessen, dass die Häuserpreis fallen. In der Black-Scholes Formel wird der Preis einer Option durch eine Differenzialgleichung kalkuliert, die fünf Variablen enthält: Strike Price, Fälligkeit der Option, risikofreie Zinsrate und der Preis und die Volatilität des unterliegenden Basiswerts. Die einzige Unbekannte in der Gleichung ist die Volatilität des Basiswerts, die aber durch historische Daten oder durch die Kalkulation der impliziten Volatilität zumindest geschätzt werden kann.

Die erwartete Volatilität des Basiswerts der Option und deren zukünftige Veränderungen während der Lebenszeit der Option sind laut Black/Scholes der Schlüssel für das Auspreisen der Optionen, und die Volatilität ist der einzige Parameter, der einem exponentiellen Effekt besitzt. Was hier nicht beachtet wird, ist, das auch der Wert der Option selbst variieren kann und einen entscheidenden Einfluss auf die Preise ausübt. Zudem erwähnt Meister, wenn er die Black/Scholes Formel affirmiert, nicht, dass eine ganze Reihe restriktiver Bedingungen in die Formel eingehen. Das Vertrauen auf die Regel für den Kauf von Optionen hat die Finanzmärkte immer auch wieder destabilisiert. Wir haben das in Kapital und Macht im 21. Jahrhundert eingehender behandelt.

Finanzielle Institutionen könnten nun Optionen in jeder Quantität herstellen, die nachgefragt wird, wenn man sich dem Marktrisiko stellt, und Käufer und Verkäufer von Optionen könnten nun diese handeln, um Veränderungen am Markt zu hedgen oder zu hebeln, und von der Volatilität des Marktes profitieren, egal in welche Richtung sich der Markt bewegt. Die Finanzmärkte können aber auch Entwicklungen übersetzen, die die kapitalistische Stabilität beeinträchtigen, wie etwa den Klimawandel oder die steigende Ungleichheit, und zwar in Treiber einer kurzfristigen Volatilität. Wenn finanzielle Instrumente geschaffen werden, um die eigene Zukunft des Kapitals zu shorten, dann kann es politisch noch stärker resilient werden als etwa Herausforderer, die auf der Beschleunigung gegenwärtiger Trends bestehen. Weil eben die Investoren an den Finanzmärkten Wege finden, von jeder Veränderung der Volatilität zu profitieren, unabhängig in welche Richtung die Geschichte sich bewegt. Dies hat potenziell negative Wirkungen auf antikapitalistische Bewegungen, wenn man das neue Paradigma nicht begreift, das noch Möglichkeiten erzeugt, finanziellen Profit von jeder Turbulenz zu erzielen, die aus dem Erfolg solcher Bewegungen resultiert. Solch Produkte sind attraktiv für diejenigen, die glauben, dass die Geschichte nicht auf ihrer Seite ist und die ihren Weg nach unten abmildern wollen, in dem sie einen Geldbetrag zahlen, um gerade das zu bewahren, was sie erwarten, dass sie es in Zukunft verlieren. Die Unsicherheit des Kapitals über die eigene Zukunft wird hier eine Ressource, aus der Wert extrahiert werden kann, und eben nicht bloß ein Grund für Crashs an den Finanzmärkten.

Für Meister stellt sich nicht die Frage, ob der akkumulierte Reichtum illusorisch ist, sondern ob das staatliche Engagement die Liquidität des akkumulierten Reichtums zu erhalten ein Punkt ist, an dem die staatliche Macht herausgefordert werden kann. Der Verlust des Vertrauens in die eigene zukünftige Liquidität ist das, was die Kapitalmärkte bedroht, wenn sie etwa Forderungen nach der Umkehr von kumulativen Effekten vergangener Ungerechtigkeiten bezwingen wollen. Die politische Frage ist, wer die Liquiditätsprämien heute erhält. Sind es die finanziellen Institutionen, die davon bedroht sind, sich selbst in die Luft zu jagen, noch bevor Vertrauen sich wieder herstellt? Oder sind es die nach Gerechtigkeit hungernden Subjekte und die nach Gerechtigkeit suchenden Bewegungen, die ihre Forderungen vorwegnehmen? Für Meister ist die politische Demokratie heute am besten durch ein Projekt realisiert, das den gegenwärtigen Wert der historischen Gerechtigkeit als eine Option versteht, selbst wenn noch kein revolutionäres Potenzial zur Umsetzung dieser Forderungen vorhanden ist. Indem die Regierungen die Kapitalmärkte vor dem Kollaps bewahren, verlängern sie die unlösbare Aufgabe, die Märkte nicht illiquide werden zu lassen, wobei Illiquidität ja bedeuten würde, dass der aktuelle Wert vergangenen Reichtums nicht weiter akkumuliert werden kann.

Für Meister hat die Umkehr der historischen Ungerechtigkeit, die sich auf die Kapitalakkumulation bezieht, im dreifachen Sinne den logischen Charakter einer Option: Zuerst als automatischer Effekt einer kapitalistischen Nicht-Akkumulation als Revolution, zum zweiten, dass dies sich nicht ereignet, weil die Revolution durch demokratische Reformen abgebogen werden kann, und zum dritten, dass eine demokratische Politik den gegenwärtigen Wert einer revolutionären Option der kapitalistischen Nicht-Akkumulation extrahieren kann.

Das finanzielle System hat schon lange erkannt, dass die Liquidität der Kapitalmärkte ein Produkt der kontingenten Relationen von Staaten und Märkten ist. Für Meister besteht der „Wert“ der Finanztheorie darin, dass sie es ermöglicht, Optionen auszupreisen, wobei dies durch Texte geschieht, oft genug standardisierte Verträge, die bestimmte Sequenzen von finanziellen Ereignissen und Punkte der Parität zwischen diesen co-refenzieren. Solch ein Punkt der Parität kann ein Spread zwischen den Preisen von zwei Waren zu einem bestimmten Zeitpunkt sein. Es kann aber auch eine Parität zwischen nicht vergleichbaren Einheiten wie ein durchschnittlicher Preis und der Messung einer durchschnittlichen Temperatur sein. Dieses Moment der Co-Referentialität, das sich in den Derivatverträgen befindet, wird ausgepreist und an Märkten gehandelt. Die Sekundärmärkte der Derivate inkludieren die Art und Weise der Ökonomie sich selbst zu reflektieren, sie enthalten eine Meta-Ökonomie.

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