Zum Buch “Kapital und Macht im 21. Jahrhundert”

Nach den umfangreichen Werken Kapitalisierung I und II und Non-Marxismus legt Achim Szepanski im Hamburger Laika Verlag nun sein bislang zugänglichstes Werk vor, Kapital und Macht im 21. Jahrhundert. Das als Einführung in die hier finanzielles Kapital genannte Thematik konzipierte Buch ist mit 335 Seiten dafür fast etwas lang geraten, eignet sich aber dennoch sowohl als Einführung als auch als Überblick.

Der Autor beginnt mit der Darstellung des Kapitals im Zusammenhang mit Geld und Ware, dessen finanzielle Seite er in drei Formen unterteilt: zinstragendes, spekulatives, und fiktives Kapital. Dabei geht er von der Annahme aus, dass das finanzielle Kapital historisch die kapitalistische Produktionsweise von Anfang an begleitet habe, da die Produktion von Unternehmen prinzipiell vorfinanziert werden müsse. Damit sei diese schon schuldenbasiert, wobei die Schulden mit den zukünftig zu produzierenden Waren versichert und mit deren Realisierung abgeglichen werden würden. Diesen Vorgrifff aus zukünftig zu erarbeitenden Reichtum nennt Szepanski finanzialisierte Kapitalproduktion. Damit widerspricht er dezidiert Annahmen, das finanzielle Kapital sei ein neuartiges Phänomen und etwas dem normalen Kapitalkreislauf äußerliches, ihn störendes oder dysfunktionales.

Nachdem Kredit und Zins behandelt werden, erläutert er die beiden anderen Kapital-Formen. Darin sind vor allem die Beschreibungen von Anlagen, Aktien und Derivaten sowie deren allgemeine Funktionsweise interessant. Derivate und alle weiteren Finanzinstrumente, welche der Autor einerseits als Machttechnologien andererseits als neue spekulative Kapitalformen, mit denen monetäre Gewinne gemacht werden, begreift, seien heute eine notwendige Bedingung für den ständig stattfindenden Eingriff in alle ökonomischen Beziehungen. Nebenbei erfährt der Leser Interessantes über High-Frequency-Trading. Anschließend kommen die Institutionen an die Reihe, die den Kapitalkreislauf regulieren, Banken, Ratingagenturen und Investmentfonds, und ihre jeweilige Bedeutung für kapitalistisches Wirtschaften. Anschließend geht der Autor noch auf die Funktion der Zentralbanken ein und stellt den Staat im Allgemeinen sowie als wirtschaftlichen und interventionistischen Akteur dar. Zuletzt behandelt er den internationalen Rahmen, supranationale Institutionen und den Weltmarkt sowie weitere globale Aspekte wie Imperialismus und weltweites Proletariat. Das „Risikosubjekt“ Mensch im finanzgetriebenen Kapitalismus bildet den Abschluss des Buchs, wobei vor allem moderne Mechanismen der Quantifizierung zu nennen sind, die auf Datenextraktion beruhen und tief in das Leben der Menschen eingreifen.

Die Herangehensweise des Autors fußt methodisch auf den Kategorien der Marschen Kritik der politischen Ökonomie, wenngleich er einigen traditionellen und weitverbreiteten Annahmen widerspricht. Er hat zudem eine Fülle von Material nicht marxistischer Provenienz herangezogen und auch Literatur aus dem angloamerikanischen Raum ausgewertet, die teilweise noch ihrer Übersetzung ins Deutsche harrt.

Seiner Position entgegen stehen unterschiedliche, teilweise bis auf Ricardo zurückreichende Theorieansätze, die sich auf Veblen, Hilferding. und teilweise auch auf Keynes beziehen, bis hin zu den heute heterodox genannten Positionen des Postkeynesianismus und des Postmarxismus. Der Profit des Kapitals erscheint in diesen Ansätzen zum Teil als eine Rente in einer Art Finanzfeudalismus oder Neofeudalismus. Der Autor unterscheidet sich aber auch von orthodoxen Marxismus-Leninismus, in denen meist schematische Auslegungen von Lenin dominant sind, die etwa die Funktion der Kapitalisierung und Finanzialisierung nicht genügend würdigen, indem sie etwa annehmen, der Finanzsektor speise sich in erster Linie aus bereits erarbeitetem Mehrwert der Vergangenheit. Das diese Annahme nicht stimmen kann, besagen schon die empirischen Kennziffern, die der Autor anführt.

Damit grenzt sich der Autor implizit bereits ab von sozialdemokratischen Verkürzungen, die das finanzielles Kapitals von der Realwirtschaft trennen und dessen Schädlichkeit behaupteten, die es reformistisch zu beseitige gelte, und beleuchtet gerade ihren gemeinsamen Zusammenhang. Darüber hinaus sind solche Theorien anschlussfähig für das Zerrbild eines idealen Produktionskapitalismus und damit für regressive Formen der Kapitalismuskritik, die „schaffendes“, gutes vom „raffenden“ bösen trennen und damit potentiell antisemitische Stereotype bedienen.

Für Szepanski sind all diese Ansätze dem Marxismus diametral entgegengesetzte Positionen. Er nimmt für die Finanzmärkte stattdessen eine „produktive“ Funktion an, da sie einerseits die ökonomischen Akteure (Unternehmen, Staaten und Haushalte) mittels statistischer Machttechnologien messen und bewerten, und anderseits als eine funktionale Instanz der Kapitalisierung von zukünftigen Zahlungsversprechen fungieren. Während die Bilanzierung im »Realsektor« lange Zeit vergangenheitsorientiert vonstatten ging, sei ab den 1970er Jahren die an der Zukunft ausgerichtete Kapitalisierung, das heißt die Kalkulation zukünftig erwarteter Zahlungsversprechen, zur wichtigsten Methode des kapitalistischen Finanzsystems geworden.

Die Zunahme des fiktiven und spekulativen Kapitals im Verhältnis zum Reichtum einer Gesamtökonomie zeige sich daher auch in einem immer höheren Anteil der finanziellen Profite innerhalb des Gesamtprofits der Unternehmen an. Diese Profite (Dividenden, Zinsen und die Realisierung der Finanztitel in Geld) haben zwar keinen direkten Bezug zur industriellen Produktion und zur Zirkulation von stofflichen Waren, besitzen aber dennoch ganz konkrete Wirkungen auf die „Realwirtschaft“. Dabei seien die aus den Derivaten resultierenden Gewinne nicht in einem konventionellen Sinn als fiktiv anzusehen, denn die Derivate, in Geld realisiert, besitzen alle Merkmale der Kapitalmacht, und dienen damit dem Zugriff auf den abstrakten Reichtum, der in einer Ökonomie produziert wird.

Heute ist der Kapitalismus ein System, dessen akkumulierter realer Reichtum auch von der Bereitstellung und Organisation der Liquidität durch das Finanzsystem abhängig ist. Finanzprodukte, die an den seinen Finanzmärkten gehandelt werden, funktionieren mittlerweile in gewisser Unabhängigkeit von der Herstellung von Gebrauchsgütern und können weit über deren Wachstumsraten hinaus steigen, die selbst aber, anders als die Schulden, dadurch nicht wachsen.

Dabei verschärft das finanzielle Kapital auch die Konkurrenz zwischen den Unternehmen, deren Kennzahlen es als Investmentoption bemisst, vergleicht und bewertet. Diese sind daher veranlasst, stärkeren Druck auf die Beschäftigungsverhältnisse auszuüben. Hinsichtlich solcher Faktoren kam es in den letzten Jahrzehnten in Finanzsystem und Weltmarkt zu einem wichtigen Wandel. Folglich wird im vorliegenden Buch Finanzialisierung als neoliberale Strategie aufgefasst, durch die das spekulative Kapital in die industrielle Produktion ebenso wie in den Alltag der Menschen eingreift und diese verändert und sich entsprechend eine ökonomische Machtposition gesichert hat, die die aller vorangegangenen Perioden bei Weitem übersteigt. Das ist auch von großer politischer Bedeutung, weil sich diese demokratischer Legitimation, Aushandlungsprozessen und Kontrollmöglichkeiten immer weiter entzieht.

Folgt man Szepanski, hat die Analyse des finanziellen Systems aber nicht als eine eines total verselbständigten Sektors oder eines spezifischen Typus von Institutionalisierung zu erfolgen, sondern als eine Verallgemeinerung im unternehmerischen Handeln überhaupt. Die Integration des finanziellen Kapitals in die allgemeine Ökonomie werde auch dadurch deutlich, dass heute alle großen kapitalistischen Unternehmen wichtige finanzielle Operationen durchführen.

Im internationalen Rahmen besitze Finanzsystem zudem die Funktion, die Dominanz der großen Unternehmen und imperialistischen Staaten im Weltsystem zu stabilisieren und zu stärken. Dabei ist ein Mechanismus, Märkte für ausländisches Kapital zu öffnen und den Wettbewerb zu internationalisieren. Eine Stärke des Buchs besteht auch darin, Imperialismus als Begriff im Zusammenhang mit dem beschriebenen politikökonomischen Kontext zu verwenden, denn auch dieser ist oft starken Verzerrungen unterworfen. Hier nennt er im Anschluß an Norfield Kriterien für die Machtposition eines Staates auf dem Weltmarkt.

Die Themen finanzielles Kapital sowie die Funktion der Finanzmärkte sind in linken Debatten leider noch etwas unterbelichtet, was ihrer Position im momentanen kapitalistischen Regime alles andere als gerecht wird. Denn bereits bei oberflächlicher Betrachtung lassen sich große Verschiebungen im ökonomischen System ausmachen, welche eine Ausweitung des finanziellen Sektors beinhalten, deren Auswirkungen spätestens mit der Finanzkrise des Jahres 2008 allgemein bekannt geworden sind. Was die Entstehung und den Verlauf ökonomischer Krisen angeht, die nur rudimentär behandelt werden, hätte man sich im hier vorliegenden Werk etwas mehr Ausführlichkeit gewünscht, schließlich berührt dieser Punkt, zusammen mit der Entwicklung der Klassenkämpfe, die Zukunft von System und Menschheit.

Achim Szepanski hat sich ansonsten mit seinem Buch als einer der Wenigen die Arbeit gemacht, die gegenwärtigen Verhältnisse zu analysieren und als Ergebnis hier eine verdienstvolle Arbeit vorgelegt. Als kleiner Kritikpunkt in einem Werk, dem eine breite Rezeption und Diskussion zu wünschen ist, könnten Argumentationslinien an manchen Stellen noch deutlicher strukturiert werden. Ein Sach und Namensregister wären für eine Neuauflage hilfreich.

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