Zum Kapitalbegriff bei Peter Streckeisen: Soziologische Kapitaltheorie. Marx, Bourdieu und der ökonomische Imperialismus

Der Schweizer Soziologe Peter Streckeisen will „das Marx’sche Hauptwerk mit soziologischer Brille so neu lesen, dass es zur Inspirationsquelle einer Kritik an den üblichen Kapitalbegriffen sowie der konzeptuellen Schärfung und Weiterentwicklung soziologischer Kapitaltheorie werden kann“. (S. 14)

Nachdem er vier „Elemente einer soziologischen Lektüre des Kapitals“ (von Marx) vorgetragen hat (S. 54 bis 73: 1. Kritik der Naturalisierung, 2. Theorie der Wertformen, 3. Esoterik und Exoterik (Fetischtheorem) und 4. Vulgärökonomie) versucht er sich (S. 73 bis 83) an einer Definition des Marx´schen Kapitalbegriffs mit Hilfe von drei Bestimmungen: Kapital 1. als gesellschaftliches Verhältnis, 2. als soziale Kraft und 3. als objektive Gedankenform. Vielleicht könnte man die Momente, die ihm bei den o.a. vier Elementen wichtig sind, dahingehend weiter systematisieren, daß man – in Anlehnung an Zizek – sagt, daß es hier (was mit dem Versuch, deutlich zwischen Eso- und Exoterik zu unterscheiden) um die ständige Vermischung von zwei Aspekten geht, was man aus der Vulgärökonomie/ Neoklassik kennt: man geht mit Getreidesäcken in die Produktion(sfunktion) und geht am Ende mit Geldsäcken (als „Ertrag“) raus – oder umgekehrt: man geht mit Geldsäcken rein in die Produktion und hat am Ende Autos auf Halde stehen. M.a.W.: es geht um die permanente Verwechslung der beiden Ebenen stofflicher Reichtum vs. monetärer (Geld-)Reichtum. Auf der einen Seite haben wir Fabriken, Maschinen, Rohstoffe und Arbeiter, die konkrete Arbeiten ausführen, mit bestimmten Produkten als Resultat am Ende der Produktionsperiode; auf der anderen Seite haben wir gemäß der bekannten Fetischformel G – G´ Geld(kapital) am Anfang mit einem return on investment am Ende (das vom sog. Kapital zu kommen scheint, wobei die BW- & VWLer nie genau wissen, ob es hier um Sach- oder Geldkapital geht – sie sehen darin letztenendes auch keinen Unterschied; wem Geld bloß ein Schleier ist, dem kann alles nur schleierhaft bleiben).

Wenn wir also noch einmal auf die o.a. vier Elemente blicken, dann ist klar, daß wir hier von den Begriffen Eso- und Exoterik ausgehen, die wir aber präziser mit dem von Zizek eingeführten Begriff der Parallaxe fassen wollen; denn es ist genau diese Parallaxe, die dazu führt, daß der Blick ständig seinen Standpunkt wechselt und man entweder die eine Seite sieht (Exo) oder die andere (Eso), und ständig beides miteinander verwechselt oder für dasselbe hält, sofern diese Parallaxe verschleiert bleibt.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf seien im Folgenden die drei Bestimmungen zur Definition des Kapitalbegriffs rekapituliert.

Zu 1. Kapital als gesellschaftliches Verhältnis

Es „stellt das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis sowohl Menschen als auch Menschen und Dinge (Gegenstände) in Beziehung zueinander.“ Als ein wesentliches Charakteristikum dieses gesellschaftlichen Verhältnisses sieht Streckeisen den Fetischcharakter der Waren, wenn er sogleich hervorhebt, dass „die Beziehungen zwischen den Menschen …als Beziehung zwischen Dingen und Menschen (erscheinen)“ und „der Eindruck einer Diktatur der Sachen über die Menschen“ erzeugt werde. Selbstredend handele es sich allerdings „um Auswirkungen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse“ (S.75), die mit den Produktionsverhältnissen „verwoben“ (S.74) seien. Schließlich ergänzt er: „Dieses kapitalistische Produktions- ist auch ein Klassenverhältnis“. (S.75)

Wenn Produktionsmittel Kapital sind, „die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold und Silber an sich Geld ist“ (74; MEW 25:822f), dann dürften sie dem Arbeiter in monopolisierter Form/ Privatbesitz sicher als fremde, (ver)selbständigte Mächte erscheinen (Exo). Fragt sich aber gleich: wären vergesellschaftete Produktionsmittel kein Kapital? Ist Kapital bloß eine reine Privatsache? Immerhin gibt es Kapitalgesellschaften, wo das Kapital kaum noch „personifiziert“ ist (75). Die Reduktion auf den Geldbesitzer, der Geld kapitalisiert, ist problematisch. Der MW kann in die Taschen EINER Person (einer Familie) gehen oder in die Taschen VIELER (Aktionäre) – könnte aber auch in die Taschen ALLER gehen; das hat mit Kapital/isierung an sich nichts zu tun. Die Verwertung des Werts könnte auch objektiver (gesellschaftlicher) Zweck sein. Wenn ALLE sich den Reichtum aneignen könn(t)en, funktionier(t)en sie alle als Kapitalisten – dann wäre jede/r „personifiziertes“, mit Willen und Bewußtsein begabtes „Kapital“. Vorausgesetzt man denkt Kapital nicht exoterisch, also weder als Ding noch als Geld (dazu mehr bei 2.). Warum sollte man Kapital mit „privater Aneignung“ (75) identifizieren und auf der Exo-Ebene stehenbleiben müssen?

Zu 2. Kapital als soziale Kraft

„Wir können von einer sozialen Kraft oder Energie sprechen, die durch das gesellschaftlich bestimmte Handeln unzähliger Menschen erzeugt wird und den Dingen eingeschrieben ist …, in denen das Kapital haust.“ (S.77) Kapital erscheint als sich selbst verwertender Wert oder als automatisches Subjekt (Exo-Ebene). Es IST „Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch das Kapital“ – aber es fragt sich: warum? Doch wohl nur deswegen, weil der Mehrwert privat angeeignet wird. Würde ein Verein Freier Mehrarbeit beschließen, damit Kinder, Kranke und Alte nicht zu arbeiten brauchen – würde man dann überhaupt noch von Ausbeutung sprechen können oder wollen? (Bei simulierter Krankheit vermutlich…) Sind nicht auch die Terme tote und lebendige Arbeit in diesem Kontext problematisch? Ist das nicht sehr verdinglichend (reifizierend) gesagt: „Der Tote packt den Lebenden!“ (23:15) Ist das Kapital bloß tote Arbeit? Sind wir hier wieder bei substanzialistischer Denkart? Und falls Arbeit „Energie“ ist (im physikalischen oder übertragenen Sinn?), ist Kapital dann (in problematischer ? Analogie zur Relativitätstheorie) „Masse“? Was für eine: „Wertmasse“?

Müssen die natürlichen und menschlichen Ressourcen nur „für die kapitalistische Produktion zugerichtet werden“ (78)? Müssen sie nicht für jede Art der Produktion „zugerichtet“ werden? Und wer weiß, ob es ohne Wertform geht! Wäre der Dienst am/ fürs Gemeinwohl-Kapital etwa kein Wert in Bewegung durch verschiedene Formen (78; 24:109)? Was hier als Verselbständigung des Wert erscheint (exo), verdankt sich den Besitzverhältnissen (der Wert ist der gesellschaftlichen Kontrolle entzogen). Wäre Kapital Gemeinwohl- oder Sozialkapital, würde ein gewisser Überschuß (für den Fonds; 19:19) reichen; mehr (und Zins) wäre überflüssig (25:405).

Zu 3. Kapital als objektive Gedankenform

Seinen höchsten Ausdruck würde der Fetischismus im zinstragenden Kapital finden (79): G – G´ = die begrifflose Form des Kapitals (25:405/06). Hier ist die Quelle des Profits nicht mehr erkennbar und das Resultat verselbständigt. Streckeisen behauptet, dass „das Kapital in fiktiver Form gewissermaßen zum Vampir wird“. (81). Der Vampirismus (80/81) kommt aber weniger vom (fiktiven oder spekulativen) Kapital als vom Exzessiven des Privatbesitzes an Produktionsmitteln, Eigentums- & Finanztiteln. Natürlich hängt alle Vermehrung letztenendes vom realen Prozeß der Re-/Produktion des Kapitals ab. Wenn Kapital kein magisches Ding ist (81), kommt die Vermehrung nicht vom Kapital als solchem; aber aller Arbeit voraus geht die Idee/ der Gedanke einer Vermehrung (aus irgendetwas etwas anderes und oder mehr zu machen – ein Haus aus Lehm ist mehr als Lehm); dann wäre Kapital auch diese Idee/ Vorstellung. Es stellt sich die Frage, weshalb er schreibt, die Menschen würden „nicht absichtlich in ihren Gedanken fiktives Kapital produzieren“ (81) – wieso nicht? Doch! Sie wollen ja mehr, sie erwarten und beanspruchen mehr – denken/ glauben vielleicht (als Geldbesitzer), daß sie dafür nicht arbeiten müssen; müssen sie ja (als Geldbesitzer) auch nicht: sie lassen (andere für sich) arbeiten! Oder sieht er hier fiktives Kapital analog dem humanen oder dem sozialen Kapital und meint darin eine dem Kapitalfetisch aufsitzende Wahrnehmung zu erkennen?

Hier erscheinen also zwei Aspekte problematisch, zum einen, wenn es heißt: „Die fiktive Ökonomie vermag … die reale Ökonomie … wie ein Vampir auszusaugen“ (Fn. S. 81). Obwohl er mit Bichler & Nitzan den zentralen Stellenwert des Finanzkapitals und der Finanzialisierung ausführlich beschreibt, spricht er hier davon, dass „fiktives Kapital … nur Wert abschöpfen“ würde. (S.80)

Zum anderen heißt es auf S. 276 „Die Verdoppelung des Kapitals ist nur ein Schein, eine Illusion.“ Und obwohl er die „Verdoppelung“ auf S. 278 angemessen beschreibt, fügt er bei der Charakterisierung der Eigentumstitel dann ein „als ob“ ein, „als ob sie (die Eigentumstitel) selbst Kapital wären“. Dagegen hat bereits Marx „das doppelte Dasein derselben Geldsumme als Kapital für zwei Personen“ beschrieben. (MEW 25; 366), vgl. Lohoff/Trenkle S. 130. Also: „Marx bezeichnet dieses verselbständigte Spiegelbild als fiktives Kapital.“ (130). Der Begriff der „Kapital-Mimesis“ trifft diesen Sachverhalt nicht.

Insgesamt lässt sich sagen: zu viel Exo, zu wenig Eso. So auch in der Zus.fassung (82/83): der Blick müßte stärker von Exo zu Eso konvertieren! Kapital als Ding, übergreifendes Subjekt, magisch Gewinn abwerfend – das ist alles exo – und dann auch noch verwässert: „Die Verausgabung menschlichen Arbeitsvermögens in Wertform, nicht das Kapital, ist die Quelle des Reichtums und jedes ökonomischen Profits.“ (82)

Die Frage ist nicht, ob Arbeit in Wertform verausgabt werden muß, um abstrakten (Geld-)Reichtum zu bilden, sondern ob die Wertform vermeidbar ist, wenn es nur noch stofflichen Reichtum geben soll? Wenn man beim Reichtum zwischen stofflichem und monetärem Reichtum unterscheiden kann (stofflich: GW… Mehrprodukt vs. Abstrakt: TW … Mehrwert), warum dann nicht auch beim Kapital diese beiden Seiten deutlich unterscheiden:

– Kapital eso: stofflich, geldlos, konkret und qualitativ: div. Arbeit/en und ihre Produkt/e
– Kapital exo: unstofflich, monetär, abstrakt und quantitativ: Geld für Mehrgeld (G – G´)
Exo macht Eso unsichtbar. „Kapital einsetzen, um einen Gewinn zu machen“ (82 unten) heißt: mit Exo (G) Eso (Produktion, Arbeit, Ressourcen) in Bewegung setzen (für G´). „Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie“ ist die Exo-Ebene bzw. die ständige Vermischung der Exo- mit der Eso-Ebene. M.a.W.: Bei Streckeisens „Konversion des Blicks“ mangelt es am Blick auf die Parallaxe…
Orientiert sich Marx´ Kapitalbegriff an der Reduktion des Kapitals auf Geldkapital? Warum sollte es in einer geldlosen Wirtschaft kein Kapital geben? Muss man Kapital auf Geldkapital reduzieren?

Vermutlich muss bei diesen Fragestellungen konsequent zwischen Kapitalismus und potentiellen postkapitalistischen Gesellschaftsformationen unterschieden werden. Der Kapitalbegriff ist an das Privateigentum von Produktionsmitteln (PM) gebunden. Vergesellschaftete Produktionsmittel wären dann kein Kapital, da Produktionsziel damit nicht mehr die Herstellung abstrakten Reichtums (abstrakte Reichtumsproduktion als Selbstzweck) wäre und auch der Gegensatz von Lohnarbeit und ihr quasi gegenüberstehenden ‚fremden‘ Produktionsmitteln entfiele. Der Arbeiter hätte sowohl Einfluss auf den Produktionsprozess, damit auch auf die Produktionsmittel sowie Art und Umfang der herzustellenden Güter.

Bei vergesellschafteten PM sollte nicht mehr von MW sondern lediglich von einem Mehrprodukt die Rede sein; denn Ziel ist nicht mehr die MW-Produktion. Damit bekommt auch das Geld eine andere Funktion (sofern das überhaupt möglich ist oder Geld noch notwendig ist). Kapitalismus scheint ohne Geld nicht vorstellbar, ist Kapitalismus doch gerade abstrakte Reichtumsproduktion. Sinnvollerweise scheint daher bei der Analyse des Kapitalismus immer vom Geldkapital auszugehen (Szep.), gleichgültig ob in der Hand eines einzigen oder von Aktionären o.ä. – allerdings bei vergesellschafteten PM scheint dieser Ausgangspunkt nicht mehr sinnvoll, da Geld allenfalls noch als Zirkulationsmittel dient.

Es scheint, daß Streckeisen bei seinem (berechtigten) Interesse an den gesellschaftlichen Formen übersieht, daß bei der kapitalistischen Produktionsweise nicht nur die Wertform (Gleichheit und Ungleichheit) das Problem ist (was außerdem im Kapitalismus, der auf Ungleichheit aus, welche von formaler Gleichheit garantiert wird, nicht wirklich ein Problem ist), sondern vor allem die Eigentumsverhältnisse (die dem Kapitalismus natürlich so, wie sie sind, auch kein Problem sind, weil sie doch die Bedingung der Möglichkeit für Ausbeutung sind). Anders gesagt: Wenn sich die Frage nach der Abschaffung/ Aufhebung des Kapitalismus stellt/ stellen sollte, dann wird es sicher nicht bloß um die Wertform gehen (ja vielleicht sogar um die gerade nicht, wer weiß!), sondern vor allem um die Eigentumsverhältnisse: wem gehören die Fabriken und die Produktionsmittel? Wem gehören Grund und Boden und die darin enthaltenen Rohstoffe? Gehört in einer arbeitsteiligen Gesellschaft „mein“ Anteil an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit (noch) mir? Gehört er nicht von vorn herein den anderen, wie ein entsprechender (der „aliquote“) Anteil (Wertform!) von dem, was die anderen produzieren, (schon) mir gehört?

Ob wir dieses Vergleichen für immer und ewig zwanghaft auf Äquivalenz reduzieren müssen, wird man sehen… Alles hängt an der Frage, ob es gelingt, im entscheidenden Fall (bei gesellschaftlich notwendiger Arbeit) endlich Äquivalenz und Konsens und Verteilungsgerechtigkeit herzustellen…

Streckeisen behauptet z.B. (143), in vorkapitalistischen Gesellschaften sei nie die Rede von sozialer Ungleichheit gewesen, weil sie auch nicht durch das moderne Verständnis einer universalen Gleichheit aller Menschen geprägt und nicht von den für das Kapital charakteristischen Formen der Realabstraktion durchzogen waren, die Menschen erst systematisch vergleichbar und ungleich machen. Das dürfte eine sehr steile These sein – der zufolge die Wertform rein kapitalistisch ist! Fakt ist, daß es Ungleichheit mehr oder weniger immer und überall gegeben hat, allerdings sicher in recht unterschiedlichen Formen (die raffinierte kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft via Lohnarbeit ist neueren Datums, aber nicht die Ausbeutung an sich, vgl. Sklaverei und Fronarbeit). Was sollen dann die für das Kapital charakteristischen Formen der Realabstraktion sein? Daß mit Wertform hier eben nicht Äquivalenz gemeint ist, sondern Differenz? Oder der Sachverhalt, dass qualitativ Verschiedenes gleichgesetzt wird und somit in gewisser Hinsicht als gleich erscheint?

Daß die Ware die Elementarform des Reichtums derjenigen Gesellschaften ist, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht (23:49), heißt ja nicht, daß es davor überhaupt noch keine Waren gab, sondern reinen Gütertausch. Und es heißt auch nicht, daß vorkapitalistische Gesellschaften noch keinen Begriff von äquivalentem Tausch gehabt haben können. Dann haben sie aber auch die Wertform gehabt, wenn auch vielleicht nicht genau wie wir. (Lt. Sutterlütti&Meretz hat es vorm Kapitalismus, also z.B. im Feudalismus noch keinen allgemeinen Äquivalententausch gegeben, sondern sog. variablen (uneinheitlichen) Tausch; 207 – mit Verweis auf E.M. Wood 2015, S. 113ff.)

Und überhaupt: wieso soll „die Ware die Elementarform des Reichtums“ sein? Warum hatte Marx hier denn wohl „erscheint“ gesagt? Kommt die Idee der Vermehrung von der Warenform? Kommt sie von der Wertform? Wenn beide auf Äquivalenz aus sind, kann die Vermehrungsidee doch nur vom Kapitalbegriff kommen! Das sog. Kapital wendet die Warenform auf die Arbeit an und zerlegt sie nach der GW-Seite einerseits und der TW-Seite andrerseits, um die Mehrwert schaffende Differenz möglich zu machen, die allerdings keine Erfindung kapitalistischer Produktionsweise ist, und auch nichts mit Güter- oder Warenproduktion als solcher zu tun hat: nicht erst Kapitalisten haben andere für sich arbeiten lassen und ausgebeutet. Hier fehlt bei Streckeisens Analyse des Kapitalbegriffs die Berücksichtigung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse (vgl. oben zu 1.).

Zu den Abschnitten über Sombart, Weber und Simmel

Sombart hätte das Kapitalverhältnis nicht für die treibende Kraft gehalten, er hätte im Kapital kein Ding gesehen, keine soziale Kraft, aber auch nichts Relationales, kein Verhältnis, sondern wohl nur die nach Gewinn strebenden Unternehmen. Sombart hätte „das Fetischtheorem“ (101) ignoriert, die Arbeitswertlehre auf Werttheorie reduziert und die Wertformen unterschätzt. Vorwürfe dieser Art wird man noch öfter hören, ohne daß Streckeisen vorführt, wie er denn die Schlüsselbegriffe der Marx´schen Kritik für die Kapitalismusanalyse konkret fruchtbar machen würde.

Auch Weber hätte „kaum etwas von der Kritik der Politischen Ökonomie im eigentlichen Sinne des Wortes aufgegriffen“ (113) – auch hier bleibt der „eigentliche Sinn“ dieses Vorwurfs im Dunkeln. Immerhin sieht Weber (im Unterschied zu Streckeisen), daß für die „Differenzialschätzung“ (sprich: Ausbeutung) „primär die ökonomische Machtlage maßgebend“ ist (114) – und nicht „die Wertform“ oder „das Fetischtheorem“.

Simmel hätte immerhin gesehen, daß die Geldwirtschaft auf realer Abstraktion beruht (130; lt. H. Reichelt (2008) hätte er als erster diesen Begriff geprägt – 118). Aber auch bei Simmel würde nur die Entzauberung beklagt, und nicht die neuartige Verzauberung „durch die verrückten Kategorien der bürgerlichen Ökonomie“ begrüßt (130/131). Über den Verlust vermeintlicher Fülle und über die entsprechende Sehnsucht nach jener ursprünglichen Fülle hatte Marx schon gesagt: Über diesen Gegensatz ist „die bürgerliche Ökonomie nie herausgekommen“ und er wird sie „bis an ihr seliges Ende begleiten“ (42:96).

Das Erbe des Marxismus

Auch hier wird bejammert, daß „die Schlüsselkonzepte der Marx´schen Kapitalismusanalyse – Wertform, Kapital, Fetischismus – ungenannt bleiben“ (137). Die Wertform sei „sehr inhaltslos und einfach“. Für die bürgerliche Gesellschaft ist die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform bzw. Elementarform (138; 23:11-12 und 23:49).
Die Behauptung der Koinzidenz von logischer und historischer Entwicklung stamme von Engels (25:903f.) und stehe im Kontrast zu Marx 42:34-42. Engels behauptet: das Wertgesetz hätte 5-7 Jahrtausende gegolten (wo die Waren äquivalent/ zu ihrem Wert getauscht worden wären); im Kapitalismus sei das Wertgesetz „modifiziert“ (141) worden, weil die Werte in Produktionspreise verwandelt werden und eine Durchschnittsprofitrate entsteht.

Marx dagegen: das Kapital sei Ausgangs- und Endpunkt der Analyse (42:41). Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung (142f.), wie Ausbeutung und gleicher Tausch ineinandergreifen – eine Form des Sozialen, wo das spezifische Zusammenspiel von Ungleichheit und Gleichheit das Typische der Vergesellschaftung sind (also die Differenz). Ungleichheit ist aber nichts Neues – nur diese Form.) Streckeisen: da die vorkapitalistischen Gesellschaften keinen Begriff von universaler/ sozialer Gleichheit hatten/ kannten, war dort auch nie die Rede von sozialer Ungleichheit. Vergleichbarkeit erst via „Formen der Realabstraktion“ (143).

Nur wenige (z.B. Korsch) hätten das Fetischtheorem ins Zentrum und die Bedeutung der Wertformen hervorgehoben (162). Für Mandel (164f.) sei die Werttheorie eine Arbeitswertlehre und Das Kapital habe für ihn die Unausweichlichkeit der Revolution zu beweisen; die Wertformen und das Fetischtheorem würde er ausblenden. Mandel folge den historizistischen Vorgaben von Engels (Einheit von logischer und historischer Entwicklung): die kapitalistische Produktion als verallgemeinerte Warenproduktion – den grundlegenden Unterschied zwischen einfacher und verallgemeinerter würde er übersehen (165). Daher rühre es vermutlich, daß er glaubt, die Warenproduktion werde überleben (165/66). Das revolutionäre Subjekt sei kein Thema bei ihm (168)
Althussers „symptomale oder symptomatische Lektüre“ (die sich für das interessiert, worüber der Text schweigt; 168/69) habe zwei Errungenschaften: 1. Ablehnung jeder Anthropologie des Subjekts und 2. die Ökonomie als tiefen und komplexen Raum mit einer übergeordneten (quasi spinozistischen) Struktur (170). Die Struktur ist ihren Wirkungen immanent, sie ist eine ihren Wirkungen immanente Ursache; ihre ganze Existenz besteht in ihren Wirkungen – außerhalb davon ist sie ein Nichts. Den psa. Begriff Überdetermination hätte es damals noch nicht gegeben. Am passendsten bei Marx seien Formulierungen wie Kapitalismus als Mechanismus, Triebwerk oder Zusammenhang gesellschaftlichen Stoffwechsels (strukturale Kausalität). Beim Fetischismus irritiere das Hin & Her zwischen falschem Bewußtsein (was falsch sei) und objektiven Erscheinungsformen. Das Ganze sei eine Art Theater ohne Autor (170/71). Auch das Begriffspaar Erscheinung–Wesen sei eher unklar (170/71). Die Analyse der Formen würde hinter den Begriffen Produktionsweise, Produktivkräfte und gesellschaftliche Reproduktion verschwinden. Für Althusser seien im Kapitalismus keine Subjekte unterwegs – eine Geschichte ohne Subjekte (173). Die sog. menschliche Natur (der Frühschriften) sei Fiktion – „den Menschen“ gebe es nicht… Für Althusser ginge es um „die spezifische Beziehung zwischen Gegenstand und Darstellungsweise“ – es sei unklar, was der Gegenstand „der Ökonomie“ sei (er sei nicht einfach „gegeben“; 174/75).

Der sog. Kritischen Theorie hält Streckeisen vor, daß ihr Ausgangspunkt nicht das Kapital sei, sondern die Ware (179). „Das Warenproblem“ sei das „zentrale strukturelle Problem“, denn „in der Struktur des Warenverhältnisses“ könne „das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen“ und aller Formen der Subjektivität aufgefunden werden (179). Mit der Fokussierung auf die Warenförmigkeit würde die Verdinglichung die zentrale Form kapitalistischer Entfremdung – was Streckeisen aber nicht gefällt, weil das nur „passive, kontemplative und pathologische Formen von Subjektivität“ zur Folge hätte und keine autonomen Subjekte, die „sich als Unternehmer ihrer selbst begreifen und in ihr Humankapital zu investieren versuchen“! (180) Erst Backhaus und Reichelt hätten sich wieder für die Kritik der Politischen Ökonomie interessiert…

Mit der Arbeitssoziologie à la Korsch stünde bei Marx nicht das Kapital im Zentrum, sondern die Arbeit/ die kapitalistische Produktionsweise, also die beiden MW-Produktionen – und damit die Wertform, Geld als Kapital, die Kapitalkreisläufe und Fetische, also die Analyse des Kapitals als gesellschaftliche Kraft und Form. Festigt jede neue Technologie (anstatt befreiend zu wirken) die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit? (Die Digitalisierung jedenfalls ist wie eine unabwendbare Naturkatastrophe über uns hereingebrochen…)

Naville (Surrealist und Trotzkist) dagegen wird bescheinigt, sich wenig für die formtheoretischen Ausführungen oder das Fetischtheorem, aber doch für „eine industrielle Semiotik des Verhältnisses zwischen Menschen und Maschinen“ interessiert zu haben, für eine harmonische Parallele „von technischer und menschlicher Gesellschaft“ (186). Jedenfalls habe er den Begriff der abstrakten Arbeit ins Zentrum gestellt, „dieses Andere des Kapitals bzw. diese fürs Kapital in Form gebrachte Arbeit“ (188).

Zusammengefaßt: Marxismus und Soziologie hätten beide den Kapitalbegriff vernachlässigt (und die Kritik der Politischen Ökonomie). Die soziologische Kapitaltheorie müsse sich vom Marxismus befreien, wenn sie etwas Sinnvolles mit Marx anfangen wolle! (189)

Humankapital

Arbeitskraft als Kapital zu betrachten hätte Marx als „gedankenlose Vorstellung“ abgetan (25:483) – vielleicht deswegen, daß die Theorie des Humankapitals in der Neoklassik triumphiert? Für G. Becker jedenfalls ist alles Kapital, wovon es ein Einkommen zu geben scheint: der Boden ist die Quelle der Pacht, die Arbeit ist Quelle des Lohns wie das Geld die Quelle von mehr Geld zu sein scheint (vgl. die Trinitarische Formel von Marx). Es war Foucault, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität aufgezeigt hat, daß dieser Unsinn durchaus Methode hat: Mit dem Humankapital hat der Neoliberalismus die traditionellen Formen der Ökonomiekritik ins Leere laufen lassen (204; vgl. Biopolitik 308ff.). Die Abstraktion der Arbeit (Marx´ abstrakte Arbeit als Kritik an Ricardo) kommt nicht aus den Wirtschaftsprozessen, sondern aus der Theorie über sie (die Lücke in der Klassik). Es sei falsch, sagen die Neoliberalen, den Gegenstand der Ökonomie als Prozeß des Kapitals, der Investition, der Maschinen und Produkte aufzufassen. Sie wollen alles auf Knappheit reduzieren, d.h. auf die Frage, wie knappe Ressourcen auf konkurrierende Zwecke verteilt werden (Becker; vgl. Foucault, Die Geburt der Biopolitik, S. 309f. & 327). Ziel ist es, das Ökonomische zur Kontrolle des Regierungshandelns und der Politik einzusetzen, alles aufs Spiel von Angebot und Nachfrage zu reduzieren, um Kosten und Nutzen zu überprüfen (205; Foucault 340-42). Becker ersetzt die Realabstraktion durch den Investor, d.h. eine gedankliche Abstraktion durch eine andere (204). Bei Foucault wird klar, daß der Neoliberalismus einen Paradigmenwechsel beim Kapitalbegriff und bei der Arbeit will: der Arbeiter als Unternehmer seiner selbst mit der Arbeitskraft als Kapital, in die zu investieren ist.

Die Fortsetzung dieser Ideologie stammt von Coleman und Putnam: Mit dem Rational-Choice-Theorem die autonom und bewußt handelnden Menschen zu konstruieren, die ihre eigenen Interessen verfolgen (und ihren sog. Nutzen maximieren), wofür sie allerdings Netzwerke brauchen. Da es aus irgendwelchen („natürlich“ unbekannten oder von Natur aus gegebenen) Gründen die Guten und die Bösen gibt, ist auch alles schön im Gleichgewicht: legaler Klüngel oder illegale Mafia – alle haben ihre Netzwerke und diese sind ihr Sozialkapital, das weder verkauft noch gehandelt (als Besitz oder Eigentumstitel angeeignet) werden kann. Der Begriff „Sozialkapital“ ist Teil der neoliberalen Sprachpolitik, deren Wirkungsmacht sich niemand entziehen könne. Es geht darum, die Aufmerksamkeit vom Kapitalismus abzulenken und auf angebliche Kulturfragen und a/soziale Netzwerke auszurichten (212; Beispiele zur sog. „effektiven“ Anwendung in der Bildungs- und Entwicklungspolitik siehe S. 212-217. Hilfreich dabei ist auch die sog. Produktionsfunktion mit ihrer Substituierbarkeit von Inputs (lieber Software als Lehrer) und das Grenznutzentheorem; 216).

Am Analytischen Marxismus von Elster und Roemer (217ff.) kritisiert Streckeisen, daß er auch auf der Rational Choice Theorie basiert (nach dem Motto: Jeder wählt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse!), findet ihn aber besser als die Kritische Theorie mit ihren passiven Opfern und verdummten Subjekten (vgl. 180). Schließlich würde es dem Marxismus an einer Theorie des Handelns der Lohnabhängigen mangeln, die lediglich aufs Unmittelbare ausgerichtet seien: mehr Einkommen, weniger Arbeit (218) Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Theorie nicht gerade mit der Formulierung des Fetischcharakters der Ware (Arbeitskraft) vorliegt?

Vulgärökonomie und Humankapitaltheorie

Angesichts der Trinitarischen Formel von Marx (25: 822-839) fragt sich: Wie kommt es zu dieser scheinbar „natürlichen“, aber verkehrten Sicht der Dinge? Man denkt, es kommt von dem, was einem gehört (25:830). Was zu erklären ist, wird zum Prinzip der Erklärung gemacht (221). Reichtum erscheint nicht als Resultat von Arbeit unter bestimmten (historischen) Bedingungen und Produktionsverhältnissen, sondern als Ergebnis von Dingen als Produktionsfaktoren. Die Trinitarische Formel mit ihrer Mystifikation kapitalistischer Produktionsweise ist als Religion des Alltagslebens die Basis der Vulgärökonomie, die den ganzen inneren Zusammenhang auslöscht. Das völlig Inkommensurable ist dem Vulgärökonom das Rationale (25:826). Wissenschaftstheoretisch gesehen handelt es sich hier (bei der Produktionsfaktorentheorie) um eine fallacy of misplaced concreteness (Whitehead), um eine Fehlplatzierung von direkter Erfahrung in Abstraktion. Die Humankapitaltheorie betont den monotheistischen Kern der kapitalistischen Religion: Nur ein Gott = das Kapital (mit Arbeit und Boden/ Erde im Hintergrund; 222). Gemäß der Theologie des Kapital-Gotts ist Kapital überall am Werk – und das zinstragende Kapital ist nun mal „die Mutter aller verrückten Formen“ (25:483) und befördert die Kapitalvorstellung, alles Mögliche sei Kapital und werfe Gewinn ab oder: alles, was scheinbar Gewinn abwerfe, sei Kapital: „Subjektivierung als Kapital-Mimesis oder Selbstunternehmertum ist eine Folge davon“ (222). Aber damit sei die sog. Ökonomische „Theorie“ bzw. Ideologie weitaus näher an die Alltagsrealitäten der Menschen herangerückt als die klassische Ökonomie. Darum könne G. Becker die commonsense idea oder instinctive economics „normaler Menschen“ als den Ausgangspunkt ökonomischer Theoriebildung nennen (vgl. die Ehe als Zugewinngemeinschaft). Der homo oeconomicus als anthropologisches Monster ist lt. Bourdieu eine scholastic fallacy: man unterstellt denjenigen, die man untersucht, die Eigenschaften, die sie im Kapitalismus benötigen, als quasi natürliche oder transhistorische Eigenschaften (wissenschaftstheoretisch gesehen eine petitio principii). Und ganz „natürlich“ finden die Subjekte im Kapitalismus „natürlich“ bzw. kultürlich auch den Kapitalismus – weswegen es für den Vulgärökonomen auch gar keine fallacy geben KANN (223).

Das Kapital bei Pierre Bourdieu

Bei Bourdieu überzeugt oder scheint zunächst seine Kritik an der ökonomischen Orthodoxie/ Neoklassik zu überzeugen: am Gleichgewichtstheorem und an der rational choice Theorie, am Markt und an Beckers Humankapital, an der Geschichtslosigkeit und Naturalisierung ökonomischer Kategorien, am methodologischen Individualismus und an der interaktionistischen Sichtweise usw.

Aber wenn man dann von (quasi natur-)„gegebener Verteilungsstruktur“ (231) liest sowie davon, daß „es keine ´Kritik´ an den Voraussetzungen oder Unzulänglichkeiten“ der ökonomischen Wissenschaft (oder Politischen Ökonomie) gibt, „die sie nicht selbst schon geäußert hätte“ (Der Einzige und sein Eigenheim (EE), S. 185), wird man stutzig – und fragt sich schließlich, was den von ihm so vehement kritisierten Markt eigentlich von seinem „ökonomischen Feld“ unterscheidet, was das „vollkommen Andere“ (219) seines Begriffs von Interesse (interest) ist und ob sowas wie „vernünftige Antizipation“ (EE 220) sich wirklich grundsätzlich von rationaler Wahl unterscheidet – ja sogar, ob homo oeconomicus und ökonomischer Habitus (EE 213ff.) nicht doch identisch sind?! Weswegen auch Streckeisen konkludiert: „Je nachdem, wie er gelesen wird, kann Pierre Bourdieu als Kritiker der ökonomischen Orthodoxie oder als Träger des ökonomischen Imperialismus interpretiert werden. Das liegt daran, daß er zwar einen Grundpfeiler des amerikanischen Neoliberalismus – die Theorie des rationalen Agenten – getroffen, aber die Naturalisierung der Kapitalform nicht thematisiert hat.“ (261) Ganz im Gegensatz zu Foucault, der die politische Bedeutung der Humankapitaltheorie nicht unterschätzt und „den Vorstoß der Ökonomie auf die Felder der Sozialwissenschaften explizit zum Thema“ gemacht hatte (261). – Da uns besonders der Kapitalbegriff interessiert, sei hier wenigstens skizziert, was es bei Bourdieu damit auf sich hat…

Kapital sei weit mehr „als nur eine produktive Ressource“, sondern „eine der sozialen Welt innewohnende Macht, eine Kraft, die deren Strukturen und Funktionsweisen prägt“. „Bourdieu streicht nicht nur den Zusammenhang zwischen Kapital und der Reproduktion von sozialer Ungleichheit heraus, er macht auch die hinter der Kraft des Kapitals verborgene Arbeit als menschliche Praxis wieder sichtbar, indem er das Kapital als akkumulierte Arbeit sieht.“ (231) Aber er sagt auch: Kapital kann „Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen“, was (wie Streckeisen hervorhebt) „nach Kapitalfetischismus“ klingt oder „nach dem mystischem Ding, das Früchte trägt wie ein Baum“ (232). Ist Kapital ein Ding oder ein Verhältnis? „Die universelle Wertgrundlage, das Maß aller Äquivalenzen, ist dabei nichts anderes als die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes.“ (232) – „Im weitesten Sinne des Wortes“?

Außer dem ökonomischen Kapital gibt es für Bourdieu eine Mehrzahl von anderen Kapitalarten wie z.B. das kulturelle und das soziale Kapital (233). „Die Stärke eines Agenten“ (heißt es EE 192/193) ist abhängig „von Volumen und Struktur seines Kapitalbesitzes in den verschiedenen Formen: finanzielles Kapital (aktuell oder potentiell), kulturelles Kapital (nicht zu verwechseln mit dem „Humankapital“), technologisches Kapital, juristisches Kapital, Organisationskapital (einschließlich des Kapitals an Information und Kenntnissen über das Feld), kommerzielles Kapital. Das finanzielle Kapital ist der direkte oder indirekte (durch Zugang zu den Banken vermittelte) Zugriff auf finanzielle Ressourcen, die (zusammen mit der Zeit) die Hauptbedingung für die Akkumulation und Konservierung aller anderen Kapitalarten ergeben.“ Hier fragt Streckeisen: „Wenn für Pierre Bourdieu das ökonomische Kapital letztlich den anderen Kapitalarten zu Grunde liegt, auch wenn diese eine eigene spezifische Wirksamkeit aufweisen, warum macht er es dann nicht zum Gegenstand seiner Untersuchungen?“ Und sagt: „Die fehlende Analyse des ökonomischen Kapitals zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Pierre Bourdieus. In einem Interview hat der französische Soziologe diese Auslassung so begründet: ´Was das ökonomische Kapital angeht, verlasse ich mich auf andere, das ist nicht meine Arbeit; ich kümmere mich um das, was von den anderen beiseite gelassen wird, entweder aus Desinteresse oder wegen fehlenden theoretischen Rüstzeugs: das kulturelle und das soziale Kapital.´ Wer aber sind die anderen, auf die Bourdieu sich da verlassen will?“ (233) Eins ist sicher: Marx nicht. Aber mit Gary Becker scheint er auch nicht konform zu gehen – allerdings ohne zu erklären, inwiefern nicht. Bourdieus „Schweigen zum ökonomischen Kapital hinterläßt eine Leerstelle, die sich als zentraler Schwachpunkt seiner Kapitaltheorie erweist“ (233/34) – sofern hier von „Kapitaltheorie“ überhaupt die Rede sein kann.

Es reicht ja nicht zu sagen, daß Bildung oder Vitamin B bei der Kapitalakkumulation von Vorteil sein kann; es reicht auch nicht zu behaupten, daß man „das Funktionieren des Kapitals in seiner Logik, die Kapitalumwandlungen und das sie bestimmende Gesetz der Kapitalerhaltung“ nur verstehen könne, wenn man den „Ökonomismus“ („der alle Kapitalformen für letztlich auf ökonomisches Kapital reduzierbar hält und deshalb die spezifische Wirksamkeit der anderen Kapitalarten ignoriert“) und den „Semiologismus“ (der „durch den Strukturalismus, den symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie vertreten wird“) „bekämpft“ – weil letzterer „die sozialen Austauschbeziehungen auf Kommunikationsphänomene“ reduziert und „die brutale Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf die Ökonomie“ ignoriert (234). Als ob die fehlende Kapitaltheorie sich mit „einer praxeologischen Sozialtheorie, deren Schlüsselbegriff der Habitus ist“ (234) herbeizaubern ließe…

Da Bourdieu den Begriff des ökonomischen Kapitals nicht näher bestimmt, bleiben seine Analogien und/ oder Homologien (auch das ist ja völlig ungeklärt!) zum Ökonomischen ebenfalls unbestimmt. Stattdessen lamentiert er über das Paradoxon, daß „die Ökonomen“ auf Geldprofite reduzieren und die Profite von schulischen, kulturellen und Bildungs- & Sozialkapitalinvestitionen nicht zu würdigen wüßten – ohne zu erklären, wie sie das tun sollten (oder „messen“ könnten). Ist es nicht eher „paradox“, sich ökonomischer Kategorien zu bedienen ohne zu sagen, was die mit Ökonomie zu tun haben? Bestimmt hat „die ökonomische Theorie“ eine „imaginierte Anthropologie“ (243) zur Voraussetzung (mathemat. Formalisierung, geschichtsloses Bewußtsein, atomistische Subjekte u.a.); interessant ist aber nicht, daß und wie abstrus „die Ökonomie“ Mensch und Gesellschaft denkt, sondern warum sie so denkt/ denken kann oder denken muß. Interessant ist auch nicht, daß „das kapitalistische Interesse an der Profitmaximierung ein soziales Konstrukt ist“ (243), sondern warum die Wirtschaft kapitalistisch pervertiert ist und unterm Diktat der Profitmaximierung steht? Weil „das Handeln der Wirtschaftsakteure nicht auf bewußtem rationalen Kalkül beruhen muß“ (243/244)? Sondern auf unbewußtem irrationalen „Kalkül“? Warum haben wir „eine Ökonomie für sich“ (245)? Wollen wir keine Ökonomie für uns? Wollen wir dem Kapital dienen? Warum sagt er immer nur „Ökonomie“ – warum sagt er nicht „Kapitalismus“? Ist es deswegen, daß Bourdieu zur Bildung und Akkumulation von ökonomischem Kapital und zur Produktion und Aneignung desselben nur Tautologisches formuliert wie: „Die Ökonomie der ökonomischen Praktiken… hat ihren Ursprung nicht in ´Entscheidungen´ des rationalen Willens und Bewußtseins oder in von äußeren Mächten ausgehenden mechanischen Determinationen, sondern in den Dispositionen, die in Lernprozessen bei einer langwährenden Auseinandersetzung mit den Regelmäßgkeiten des Feldes erworben wurden; diese Dispositionen können selbst ohne jedes bewußte Kalkül Verhaltensweisen und sogar Antizipationen erzeugen, die eher vernünftig als rational zu nennen sind…“ (245)

(Die Kritik von Streckeisen an Bourdieu ist noch sehr viel umfangreicher – reduziert sich letztlich aber darauf, daß Bourdieu nicht nur keine Kapitaltheorie hat, sondern das Kapital sogar fetischisiert, weil er es eher als Person, Ding oder Sache sieht denn als Verhältnis; Marx´ Wertform bleibt völlig außen vor, Kritik der politischen Ökonomie – Fehlanzeige.)

Nitzan & Bichler: Capital as Power

Im letzten Abschnitt geht es Streckeisen um die Frage, wie das Kapital gesellschaftlich durch Formbestimmungen wirkt; er nennt drei Ebenen der kapitalistischen Formbestimmung:
– Realabstraktion

– objektiv gültige Gedankenformen

-Fetischcharakter
Mit Marx und über Marx hinaus ließe sich soziale Un/Gleichheit als historisch besondere gesellschaftliche Form verstehen, die soziologisch problematisiert werden müsse. (265)

Für Nitzan&Bichler (N&B) ist Kapital keine ökonomische Einheit, sondern eine Form von Macht. Kapital als Machtform greife über Ökonomie und Politik hinaus. Darum müsse man statt mit Wert (Marx) oder Nutzen (Neoklassik) mit Kapital/isierung beginnen… Nomos (Aristoteles) stünde bei N&B im Zentrum der Kapitaltheorie – und damit meinen sie den in Zahlen ausgedrückten Preis der Dinge als grundlegende Einheit und ordnendes Prinzip der Kapitalisierung (den „algorithm“ als „key logic of the capitalist nomos“; 267). „It is the ´generative order´ … through which the capitalist order, denominated in prices, is created und re-created, negotiated and imposed.“ Mit dem Begriff creorder (eine Verkürzung aus creation of order) rücke der Nexus zwischen Qualität und Quantität ins Zentrum, der den kapitalistischen Nomos prägt: jene Prozesse, die qualitativ Unvergleichliches quantitativ vergleichbar machen: „Capitalization .. converts and reduces qualitatively different aspects of social life into universal quantities of money prices.“ Das Kapital hat/ ist Macht, weil es sich die Kreativität unterwirft und die Produktivität kontrolliert. (268) Macht ist nicht bloß Instrument, sondern das Ziel kapitalistischen Handelns. Eine „normale“ rate of return ist Voraussetzung.

„Kapital als Macht“ findet Streckeisen aber nicht ungefährlich (269), denn er sieht bei N&B eine ökonomistische und klassentheoretische Verkürzung der Staatsanalyse, eine unzureichend fundierte Extrapolation der Kapitalanalyse. Die dem Kapital unterworfenen Subjekte blieben im Dunkeln (270) und N&B würden die form- und fetischtheoretischen Ansätze von Marx ignorieren, weshalb Streckeisen die Begriffe „abstrakte Arbeit“ und „fiktives Kapital“ eigens aufgreift (271ff.).

Abstrakte Arbeit

N&B lieferten eine Kritik der Arbeitswertlehre in drei Schritten:

1. bezüglich des sog. Transformationsproblems: keine konkreten Waren-/Marktpreise aus xy Quanten verausgabter Arbeit bzw. gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit ableitbar (271)

2. keine klare Grenze zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit (272)

3. „abstrakte Arbeit“ als Konzept zur Quantifizierung von Arbeitswerten – hier könne man von Marx ausgehend anders weiterdenken…

Besonders problematisch sei die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit – zum einen, weil sie naturalistisch sei (Energie, Hirn, Nerven, Muskel – ein Widerspruch zu Arbeit als gesellschaftlicher Kategorie), und zum anderen, weil diese Differenz noch mit der Unterscheidung von einfacher und komplizierter Arbeit vermischt werde; dabei gebe es zwei Diskussionsstränge:

1. letztlich ist alle Arbeit doch bloß einfache Arbeit (als Ziel) und

2. komplizierte Arbeit ist ein x-faches von einfacher Arbeit

Beide Stränge führten in die Irre, beides sei substantialistisch und werde der Komplexität der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht – und (das hätten N&B übersehen) damit würde soziale Ungleichheit legitimiert und naturalisiert: qualifizierte und unqualifizierte Lohnabhängige – wer mehr bekommt, dessen Arbeit ist anspruchsvoller bzw. der produziert mehr Wert. Das Fazit von Streckeisen lautet: Es „scheint nichts dafür zu sprechen, den Begriff der abstrakten Arbeit beizubehalten.“ Übersieht er hier nicht den Kommensurabilitätsfaktor? Aber weil der Begriff „im Marx´schen Werk eine derart zentrale Stellung“ einnehme (eine ziemlich merkwürdige Begründung, als ob Streckeisen nicht recht klar wäre, warum?), lohne es sich, „nochmals darüber nachzudenken“.

Abstrakte Arbeit sei nicht nur „Arbeit in Wertform“ (273), sondern „Arbeit, die möglichst viel Wert für das Kapital schafft und schaffen muß“. Das ist recht ungenau: Was meint „möglichst viel“? Geht es hier um Mehrwert? Diesen Begriff sucht man bei Streckeisen hier vergeblich! Abstrakte Arbeit ist für Mehrwertproduktion nur notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung; für den Mehrwert braucht es unbedingt unbezahlte Mehrarbeit. Und um zu sagen, ab wo von irgendeinem „Mehr“ überhaupt die Rede sein könnte, wäre von gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit zu reden, wovon Streckeisen hier allerdings auch nicht spricht: „Von abstrakter Arbeit zu sprechen bedeutet, das Augenmerk darauf zu legen, dass es im Kapitalismus nicht in erster Linie auf die konkreten Eigenschaften der Arbeitenden und ihrer Tätigkeiten ankommt, sondern auf die Produktion von Wert und die Verwertung von Kapital durch den Einsatz menschlicher Arbeit. Genauer gesagt ruft die Akkumulation des Kapitals danach, die konkreten Eigenschaften der Arbeitenden und ihrer Tätigkeiten dem abstrakten Ziel der optimalen Wertschöpfung und maximalen Rentabilität bedingungslos zu unterwerfen.“ (273) Das ist leider eher ungenauer bzw. unvollständig gesagt, weil Akkumulation mehr erfordert: unbezahlte Mehrarbeit. Abstrakte Arbeit heißt, alles meßbar, berechenbar und quantifizierbar zu machen, indem man alles in die Wertform bringt, kommensurabel/ vergleichbar macht – mit Akkumulation hat das aber noch nichts zu tun. Weil Streckeisen hier ungenau ist, sagt er Falsches und Richtiges zugleich: „Es geht nicht darum zu definieren, welche Arbeit produktiv ist und welche nicht“ – und ob es darum geht! Aber es geht eben auch darum „zu analysieren, wie der Kapitalismus die Grenzen zwischen … bezahlter und unbezahlter Arbeit immer wieder neu zieht und verschiebt.“ Streckeisen will herausfinden, „welche Tätigkeitsmuster (?!?) die kapitalistische Produktion erzeugt… und wie Lohnunterschiede entstehen“ (273/74) – als ob das ohne die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit möglich wäre. (Streckeisens Verwechslung des Begriffs der abstrakten bzw. gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit mit dem Begriff bzw. der Frage nach gesellschaftlich notwendiger Arbeit (sinnvoll und nützlich) wird uns noch beschäftigen… 282f. Bei Kapitalakkumulation geht es nicht um die Frage, ob eine Arbeit gesellschaftlich sinnvoll & nützlich, richtig & wichtig und unverzichtbar ist – sondern einzig darum, daß sie bezügl. Kapitalvermehrung (G´) „produktiv“ ist.)

Schließlich scheint Streckeisen der Begriff der abstrakten Arbeit aber doch „unersetzlich“ zu sein: „Er vermittelt zwischen qualitativer Formtheorie und quantitativer Ungleichheitsforschung und erinnert daran, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht – wie N&B behaupten – durch Zahlen organisiert ist, sondern durch das Kapital, das die Menschen mit Zahlen vergesellschaftet. Abstrakte Arbeit ist deshalb kein Gegenstand der Mathematik, sondern der Soziologie.“ (274) (Zum Argument mit den Zahlen: „Die im engeren Sinn ökonomische Frage, ob und wie sich Arbeitswerte messen, quantifizieren oder berechnen lassen, tritt in den Hintergrund zu Gunsten der soziologischen Frage, wie es im Kapitalismus denn dazu kommt, dass alle möglichen Arbeitstätigkeiten – andere allerdings wiederum nicht – in Wertform gebracht und verwertet werden, und wie sich dies auf die Arbeitenden und ihre Tätigkeiten auswirkt.“ (273) – Als ob es dabei um Entweder-Oder ginge…)

Fiktives Kapital

„Eine ähnliche Umformulierung der Problemstellung ist m.E. beim Konzept des fiktiven Kapitals angebracht.“ (274) Danach sieht es allerdings nicht aus. Es fällt aber auf, daß Streckeisen sich wenig bis gar nicht für die ökonomischen Besonderheiten beim fiktiven Kapital interessiert, die z.B. Achim Szepanski ausführlich dargestellt hat (vgl. Kapitalisiserung Bd. I : 280-289). Ihn interessiert vor allem die schon von Marx betonte (scheinbare) Verdoppelung und Verdreifachung des Kapitals (MEW 25:484) und die daraus seiner Meinung nach entstehende „Kapital-Mimesis“ (279). Anhand der schon von Marx behandelten Beispiele (Aktienkapital, Staatsschulden und Arbeitskraft) referiert er diese (von Lohoff&Trenkle 2012 bearbeitete) fiktive Kapitalverdoppelung.

Das Geld für den Aktienkauf geht ins Unternehmenskapital, wird also (was Streckeisen übersieht) produktiv eingesetzt (zwecks Mehrwertproduktion); der Geldgeber glaubt vielleicht, mit den von ihm erworbenen Aktien Kapital zu besitzen, hat aber de facto nur „Eigentumstitel, die Ansprüche auf Beteiligung am durch das Unternehmen realisierten Mehrwert darstellen“ (276). Dieser Aspekt wirkt wie G – G´, d.h. als ob die Aktien die Quelle des Dividendenstroms seien (Kapitalfetisch).

Bei den Staatsanleihen stellt der Fetischismus sich anders dar. Der Staat verwendet das Geld, „um bestimmte Staatsaufgaben zu erfüllen“ (276); bei Investitionen in die Infrastruktur z.B. handelt es sich nicht um (unproduktive) Ausgaben oder Kosten (die überhaupt kein Kapital wären), weil man auf Einnahmen mit Multiplikatoreffekten hofft. Die Zinsen für den Geldgeber kommen aber nicht (direkt) aus diesen Investitionen, sondern aus verschiedenen Steuern – aber auch hier könnte es so wirken, als ob die erworbenen Staatsanleihen Kapital seien und die Zinserträge ein Einkommen daraus.

Die größte „Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise“ ist allerdings das Humankapital: „statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären“ wird „umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt, daß Arbeitskraft selbst dies mystische Ding, zinstragendes Kapital ist“ (25:483). „Gegen diese ´gedankenlose Vorstellung´ (edb.) führt Marx zwei Argumente ins Feld: Zum einen muß der Arbeiter – im Gegensatz etwa zum Aktionär und Gläubiger – arbeiten, um seinen Zins (den Lohn) zu erhalten. Genauer gesagt muß er seine Arbeitskraft dem Kapital zur Verfügung stellen und zur Anwendung bringen, damit sie ihm etwas einbringt. Zum anderen kann der Arbeiter ´den Kapitalwert seiner Arbeitskraft nicht durch Übertragung versilbern´ (ebd.: 484). Anders als das Aktienkapital und die Staatsschuld nimmt die Arbeitskraft keine Form an, in der sie von einer bestimmten Person entkoppelt wäre und auf dem Markt frei verkauft und weiter verkauft werden könnte.“ (277) Die den Mehrwert schaffende Arbeitskraft bleibt völlig außen vor…

„In allen drei Fällen – Aktienkapital, Staatsschuld, Arbeitskraft – erscheinen Dinge als Kapital, die kein Kapital sind: Im ersten Fall verwandeln sich Eigentumstitel in Kapital; im zweiten Fall verwandelt sich darüber hinaus der Staat in ein Unternehmen; im dritten Fall verwandelt sich der Arbeiter gewissermaßen in sein Gegenteil und wird selbst Kapital. Und könnte nicht auch mit Bezug auf Arbeitskraft von einer Verdopplung gesprochen werden? Aus der Sicht des Unternehmers ist die Arbeitskraft variables Kapital (23:214ff.).“ Im Unternehmen geistert es „als Verfügungsgewalt über menschliche Arbeitstätigkeit“ herum „und im Arbeiter als Forderung, sein Leben so zu gestalten, daß seine Arbeitskraft für das Kapital möglichst viel wert ist.“ (278)

Wie man sieht, interessiert Streckeisen sich besonders für die Wirkungen, die vom Kapitalfetisch ausgehen: Eigentumstitel bekommen „eine eigenständige Dynamik, als ob sie selbst Kapital wären, und erzeugen Druck auf das Unternehmenskapital“; die Staatsanleihen erzeugen „Druck auf die Regierungen, den Staat unternehmerisch zu führen“; und „die Einverleibung menschlicher Arbeit in den kapitalistischen Produktionsprozeß“ wirkt sich „auf die Lebensentwürfe und die Lebensführung der Lohnabhängigen aus – denken wir an aktuelle Diskussionen über das unternehmerische Selbst oder den Arbeitskraftunternehmer“ (278).

„Der Blick auf das fiktive Kapital zeigt, daß Kapitalisierung und Verdoppelung zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Reduktion menschlicher Fähigkeiten oder sozialer Prozesse auf den Kapitalwert erwarteter zukünftiger Einkommen führt dazu, daß das Kapital nicht nur in diesem sich verselbständigenden Kapitalwert, sondern auch in den kapitalisierten Fähigkeiten und Prozessen lebt und diesen bis zu einem gewissen Grad seine Funktionslogik aufdrängt. Während das wirkliche Kapital im Feld der Wertschöpfung agiert, bewegt sich das fiktive Kapital im Bereich der Wertabschöpfung (Zinsen, Dividenden) und der Kapital-Mimesis.“ (279)

Wiederholt spricht er von einem „ökonomischen Imperialismus“ (u.a. S.201) und meint damit insbes. neoliberale Theorieansätze, die versuchen, die im Alltagsverhalten vermeintlich aktualisierte Kapital-Mimesis mittels ökonomischer Begriffe zu beschreiben. Dabei benutzen sie zumeist einen (von Streckeisen so nicht benannten) verkürzten bzw. entstellten Kapitalbegriff, der statt auf Ungleichheit auf Äquivalenz aufbaut. So wird in Human- oder Sozialkapital investiert und im Gegenzug anschließend eine angemessene Summe Geld erhalten. Das hat mit ökonomischem Kapital nichts zu tun, wo aus einer investierten Geldsumme mehr Geld wird. Auch die mit dieser Theoriebildung einhergehende Naturalisierung des Kapitalbegriffs wird unzureichend kritisch hinterfragt.

„Für Marx hat die Verdopplung des Kapitals auch etwas mit Vernebeln und Vergessen zu tun. Kapital-Mimesis beruht auf Kapital-Anmesie: Wo das Kapital außerhalb des ökonomischen Feldes auch noch wirkt, ist es kaum erkennbar, denn es tarnt sich als natürliche Eigenschaft der Dinge und der Menschen.“ Auf diesem Feld der Vervielfachung der Kapitalformen und der Kapital-Mimesis bewegt sich die soziologische Kapitaltheorie „ohne über das Kapital an sich nachzudenken“ (279). Streckeisen spricht hier von „Formvergessenheit“ in Anlehnung an den von Marx formulierten Vorwurf an die klassische politische Ökonomie, der es „nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. (…) Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise… Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.“ (23:95 Anm. 32) Das sei der „Kern des Problems, das die soziologischen Kapitaltheorien unbeabsichtigt aufwerfen. Die Amnesie der gesellschaftlichen Form ist eben nicht nur ein politisches Problem, da sie gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert, sondern vor allem auch ein analytisches Defizit: Sie beraubt die SoziologInnen der Möglichkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen der Diffusion ihrer eigenen Kapitalbegriffe zu verstehen. (…) Ihre Kapitaltheorien tragen vulgärökonomische Züge.“ (280)

„Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren.“ (25:825)

Formbestimmungen

Streckeisen hat (wie auch Szepanski, a.a.O.; beide 2014) mit der Gleichsetzung von Kapital und Macht durch N&B (Capital as Power) ein Problem – und schlägt vor, „das Kapital als Kraft, als gesellschaftliche Kraft und vergesellschaftende Kraft“ zu verstehen, um zwei Phänomene auseinanderzuhalten: einerseits die Akkumulations- und Kapitalisierungsdynamiken des Kapitals und andrerseits Macht und Herrschaft: „In unserer Gesellschaft sind Macht und Herrschaft natürlich („natürlich“?) auf vielfältige Weise mit Kapital verbunden, aber sie gehen nicht in den Formen der Kapitalverwertung auf.“ (281) Ob Szepanski mit seinem Fazit dasselbe meint, bleibe dahingestellt: „Kliman resumiert an dieser Stelle, daß die Identifikation von Kapital und Macht sicherlich nicht korrekt sei, aber wie Bichler/Nitzan ja selbst zugeben würden, handelt es sich hier doch nur um eine ´figurative identity´.“ (a.a.O. 289)

„Als vergesellschaftende Kraft wirkt das Kapital wesentlich durch Formbestimmungen …“

Streckeisen hält die Kapitalform („nicht die Warenform, wie die Kritische Theorie postuliert“) für „die am höchsten entwickelte und wirkungsmächtigste Wertform“. Als Analyseraster für soziologische Untersuchungen gesellschaftlicher Phänomene hatte er bereits drei Ebenen der kapitalistischen Formbestimmung genannt (265): Realabstraktion, objektive Gedankenform und Fetisch. Zum Schluß skizziert er „mit Bezug auf Arbeit, Bildung, Entwicklung und Zeit einige Aspekte solcher Formbestimmungen. Dabei steht die Realabstraktion für Prozesse, die qualitativ Verschiedenes vergleichbar machen und ungleich bewerten“ (281). „Solche Prozesse gehen in der gesellschaftlichen Realität vor sich, es handelt sich nicht um gedankliche Abstraktionen. Sie bringen aber entsprechende Gedankenformen hervor, die gesellschaftlich gültig sind – objektive Gedankenformen, die in unserer Gesellschaft auf vielfältige Weise institutionalisiert und festgeschrieben werden. Schließlich verleiht die Kapitalform ihrem je spezifischen Inhalt einen Fetischcharakter: Sie verwandelt von Menschenhand Gemachtes in Übermenschliches oder Übersinnliches, das den Menschen undurchsichtig bleibt oder geheimnisvoll erscheint und sie in ihren Bann zieht.“ (282)

Arbeit

In diesem Abschnitt schlingert Streckeisen von einer Leitplanke gegen die andere: „Was die Arbeit im kapitalistischen Unternehmen auszeichnet ist, daß sie in eine bestimmte gesellschaftliche Form gebracht wird: Sie muß für das Kapital wertschöpfend sein, und alles andere ist von zweitrangiger Bedeutung.“ (282) „Wertschöpfend“ reicht nicht; wenn Profit das Ziel ist, ist mehr erforderlich: Mehrarbeit, Mehrprodukt, Mehrwert – darum der „Heißhunger nach Mehrarbeit“/ „überschüssiger Arbeitszeit“ (23:249). Aber warum muß es mehr sein? Im folgenden einige Ungenauigkeiten, die vielleicht der Grund sind, warum Streckeisen nicht erklären kann, warum es mehr sein muß – und im Lamento darüber stecken bleibt.

1. Die Grenze, wo Kapital reproduziert, aber noch nicht akkumuliert worden ist, bleibt unklar: „Aus soziologischer Sicht verläuft die relevante Trennlinie … zwischen kapitalistischen Betrieben … und den Klein- und Kleinstunternehmen … sowie den staatlichen Betrieben und Verwaltungen…“ (283/284). Ab wo Mehrwertproduktion und wo nicht?

2. Lohnarbeit und abstrakte Arbeit, behauptet Streckeisen, seien „nicht dasselbe, und die soziologische Arbeitsforschung kann diese Differenz präzisieren, indem sie die Prozesse der Realabstraktion zum Gegenstand der Analyse macht“ (284). Ist Lohnarbeit nicht immer in Wertform gebrachte Arbeit – und daher auch immer schon abstrakte Arbeit? Die Grenze zur unbezahlten Mehrarbeit wäre die Stelle, wo die Arbeitskraft ihren Tauschwert reproduziert hat und die Mehrwertproduktion beginnt. – Es ist eben nicht jede (Form der) Lohnarbeit produktiv(e Arbeit).

3. Streckeisen warnt vor „faszinierter Marx-Lektüre“ (vor auf Ausbeutung fixierter; 283/84), weil darin eine Gefahr liege, „das Andere der abstrakten Arbeit zu übersehen“ (284). Er sagt aber nicht (bzw. erst 297), was „das Andere“ ist – meint aber (vermutlich/ im Kontext gelesen) die konkrete Arbeit (die zur Erklärung des Mehr-Motivs allerdings nicht taugt). (297 erklärt er „die unbezahlte Reproduktionsarbeit“ zum „Anderen der abstrakten Arbeit“! Siehe unten den Abschnitt Bildung, Entwicklung, Zeit)

4. „Realabstraktion bedeutet … Grenzziehungen zwischen der Arbeit, die als wertvoll – weil wertschöpfend – gilt und der Arbeit, der diese gesellschaftliche Bewertung nicht zuteil wird.“ (284) Hier bekräftigt sich der Verdacht (der sich im Kontext bestätigt), daß Streckeisen tatsächlich nicht dasjenige meint, was für die Mehrwertproduktion relevant wäre – produktive vs. unproduktive Arbeit; bezahlte, gesellschaftlich notwendige (abstrakte) Arbeitszeit vs. unbezahlte Mehrarbeitszeit –, sondern sozusagen noch weniger als den Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Arbeit, nämlich die Unterscheidung zwischen Erwerbsarbeit vs. Nicht-Erwerbsarbeit, also z.B. zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Hausarbeit. Diese Differenz ist aber nicht identisch mit der Differenz von bezahlter vs. unbezahlter Arbeit bei der Lohnarbeit! Weil er diese Differenz übersieht, hat er auch keinen Blick dafür, daß Kapitalismus geradezu davon abhängig ist, daß es unbezahlte Arbeit gibt – und dreht den Spieß auch noch um: diese unbezahlten Arbeiten seien „auf vielfältige Weise von der abstrakten Arbeit abhängig und können zum Gegenstand von Kapital-Mimesis werden – etwa wenn es darum geht, den Familienhaushalt unternehmerisch zu führen“ (284) – als ob so ein Haushalt Kapital akkumulieren könnte…

So scheint sich der Verdacht, daß Streckeisen das Thema gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit (vs. unbezahlte Mehrarbeitszeit) mit dem Thema gesellschaftlich sinnvoller und wichtiger (statt unsinniger und überflüssiger, Mensch und Umwelt schädigender) Arbeit verwechselt.

Das Thema einfache vs. komplizierte Arbeit hatte ihn ja auch schon beschäftigt (272) – ihm mißfällt die „ungleiche Bewertung“ (285). Die kommt nun allerdings nicht von der Wertform (auch die sog. einfache Arbeit wird nach ihrem Wert bezahlt), sondern von der Kapitalform.


Beim Thema Fetisch bemängelt er an Marx, daß er (im Gegensatz zu seinem Schwiegersohn Paul Lafargue) den Arbeitsfetisch nicht zum Thema gemacht hätte – das ist nun allerdings ein anderer Fetisch als derjenige, den Marx mit dem Fetischcharakter der Ware meinte (wo „die Warenform der Arbeitsprodukte .. die gesellschaftlichen Prozesse und Verhältnisse verschleiert, die ihr zu Grunde liegen“; 286). Daß es hier um die Differenz „Arbeit“ des Fetischs vs. „Fetisch“ der Arbeit geht, sagt er nicht. Wenn die Arbeit „in Wertform gebracht wird“ (287), nimmt sie selbst einen Fetischcharakter an… Wenn das Produkt der Arbeit „in Wertform gebracht wird“, nimmt es auch einen solchen Fetischcharakter an… So kommen wir dann beim Waren- und Konsumfetischismus aus, sehen aber nicht, warum etwas „in Wertform gebracht wird“ – oder sogar werden muß bei auf Privateigentum beruhender Privatproduktion (und ob die Wertform bei vergesellschafteter Arbeits- und Produktionsweise verzichtbar ist, wissen wir (noch) nicht… vgl. MEW 19:19).

Man fragt sich: Warum verliert Streckeisen seinen Ausgangspunkt vom Kapital aus dem Blick?

Mit der Trinitarischen Formel, mit der Marx die Produktionsfaktorentheorie attackiert, kritisiert er „auch die Vorstellung, Arbeit als natürliche Quelle von Reichtum zu betrachten“ (287). Er erinnert an die gesellschaftlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Arbeit wertschöpfend wird – die Verbindung von Kapital und Arbeit mit Boden (Natur). Anstatt zu fragen, ob und warum Arbeit kapitalisiert werden muß, lamentiert er über gerechten Lohn: „Die Vorstellung eines gerechten Lohns“ (gleicher Lohn für gleiche Leistung) beruhe auf der Illusion, „der je individuelle Beitrag könne gemessen und entlohnt werden“ (288) – er meint auch: angemessen entlohnt werden. Er sagt hier nicht, warum das eine Illusion ist, warum Qualität nicht eindeutig quantifiziert werden kann… Dazu hieß es 273 nur, daß berechnen vermessen ist – hier fehlt der Nachweis der Lücke zwischen Referent/ Signifikat und Signifikant; vgl. Harald Strauß: Signifikationen der Arbeit). Er sagt aber, daß diese Illusion „stets wieder neu hergestellt und befestigt wird“ (und werden muß), „nicht zuletzt durch eine Sozialpolitik, die sich heute am Prinzip orientiert, niemand dürfe etwas ohne Gegenleistung erhalten“ (288). (Zur Frage, ob der bei einem Verein freier Menschen vorgestellte Sozialismus an dieser Vorstellung etwas zu ändern vermag, vgl. Hannes Giessler Furlan). Wie auch immer: Dieser Mechanismus der Uneindeutigkeit, der aus dem fehlenden Signifikat herrührt bzw. daher, daß immer ein Signifikant fehlt (dem einen reicht der Lohn für die Arbeit nicht, dem andern sind die Arbeitskosten zu hoch) ist allenfalls die notwendige Bedingung für Mehr – fehlt (nur!) noch die hinreichende…

Zu Webers Lamento über Erwerbsarbeit: „Der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens…“ (288) – interessant: Was wäre denn ein „unbefangenes“ Genießen? Und wenn es möglich wäre: Warum „vermeiden“ wir es? Oder spielt sich das Genießen vielleicht auf einer ganz anderen Ebene ab? (Vgl. dazu unseren Beitrag https://non.copyriot.com/egocracy-howard-rouse-sonia-arribas-oder-kapitalmacht-zu-lacans-kapitalistischem-diskurs/)

Der Erwerb „so rein als Selbstzweck gedacht…“, d.h. Erwerben nicht „als Mittel zum Zweck der Befriedigung (..) materieller Lebensbedürfnisse…“, sondern immaterielle Ansprüche und Begierden als Selbstzweck? Auch hier werden wir ständig mit (unausgesprochenen) sprachlichen Oppositionen konfrontiert sowie mit der Grenzaufhebung bzw. -übertretung derselben, als ob Kapitalismus oder genauer: das kapitalistische (und als überflüssig oder sogar schädlich empfundene) Mehr in der „Natur“ oder Struktur der Sprache gründet…

Aber Webers „so stark thematisierte religiöse Wurzel des kapitalistischen Arbeitsethos – oder Arbeitsfetischs – war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits abgestorben“ meint Streckeisen; Webers „düsterer Ausblick in die Zukunft eines säkularisierten Kapitalismus“ habe „nicht in Rechnung gestellt, daß die Vergesellschaftung durch das Kapital auch wiederum eine ´verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt´ hervorbringt, d.h. eine eigenständige ´Religion des Alltagslebens´“ (288/89 und 25:838). Wäre hier nicht an die “Gefahr einer faszinierten Marx-Lektüre” zu erinnern? Es bedarf schon eines stark fokussierten Blicks, um die Reduktion auf nichts als Quantität als „Verzauberung“ darzustellen.

Bildung, Entwicklung, Zeit

Um diese Zusammenfassung nicht zu lang werden zu lassen, seien aus den Abschnitten zu Bildung, Entwicklung und Zeit nur ein paar Aspekte herausgegriffen. Auch beim Thema Bildung reduziert Streckeisen auf den Aspekt, daß „nur spezifische Formen von Bildung als solche gelten und andere entwertet sind“, und daß Bildung in die Wertform gebracht werden muß, um verkaufbar zu sein (291). Das Bildungssystem „produziert abstrakte Bildung, die sich in Noten messen und in Titeln zertifizieren läßt“. Statt über die Entwertung bestimmter „Kulturformen“ zu lamentieren, wäre zu erklären gewesen, warum sie für die Kapitalakkumulation uninteressant sind… Daß die Kapitalform „einen bestimmten Typus von Mensch evoziert“ (292), kann man sich denken – aber warum erfährt man nichts Genaueres über diesen Subjekttypus? Schließlich geht es „um die Herstellung nützlicher Subjekte für den Kapitalismus und um die Erhaltung gesellschaftlicher Klassenverhältnisse“ (293). „Der Fetischcharakter von Bildung“ ist ein interessantes Thema – aber für die Kapitalakkumulation relevanter ist sicher die Aus-/Bildung dieses Fetischcharakters… Statt hier von Bildung als Kapital-Mimesis zu reden und auch noch zu behaupten, daß sie „ähnliche gesellschaftliche Formen wie Kapitalakkumulation hervorbringt, „da sie auf Kapitalverdopplung beruht – auf fiktivem Kapital“, wäre daran zu erinnern gewesen, daß diese Redeweise dem sehr zurecht kritisierten Kapitalfetisch entspringt. Daß Schulnoten Zensur ausüben und dazu da sind, die Wertform einzuüben, ist kein Geheimnis; aber daß wir uns hier auf der Ebene der Geld- und Kapitalform befänden, ist ein Irrtum. Und von den im Kapitalismus „verordneten Bildungsmaßnahmen“ eine andere „Sinnhaftigkeit“ zu erwarten als die Befähigung für den Dienst am Kapital – ist einfach nur naiv.

„Wie das Bildungssystem Noten und Titel produziert, bringen Einrichtungen wie die Weltbank Daten und Konzepte hervor, durch die das Entwicklungsdenken so weit verdinglicht wird, daß es fetischartige Züge aufzuweisen beginnt.“ (300) Das sind nun allerdings nicht die „Aspekte eines Fetischs im Sinne der Marx´schen Ökonomiekritik“, wenn man (wie Streckeisen) den Kapitalismus als Fetischismus mit „quasi-religiösen Eigenschaften“ (300) banalisiert. Er erklärt (vgl. 284) „die unbezahlte Reproduktionsarbeit“ zum „Anderen der abstrakten Arbeit“ und dementsprechend „die informelle Ökonomie der sog. Entwicklungsländer“ zum „Anderen der formellen kapitalistischen Ökonomie“: „Beide sind gesellschaftlich notwendig, aber nicht als solches gesellschaftlich anerkannt“. „Im Begriffspaar formelle/informelle Ökonomie steckt das Wort Form drin(!): Kapitaltheoretisch markiert es die Differenz zwischen zwei gesellschaftlichen Formen der Ökonomie, zwischen Kapitalakkumulation und Kapital-Mimesis, denn längst hat sich das fiktive Kapital in der moralischen Ökonomie der einst kolonisierten eingenistet und wirksam gemacht.“ (297) Zweifellos hat die Kapitalakkumulation unbezahlte Reproduktionsarbeit zur Voraussetzung, aber diese ist nicht (wie oben schon angemerkt) „das Andere der abstrakten Arbeit“ (d.i. die konkrete Arbeit; diese kann aber sowohl unbezahlt als auch bezahlt sein). Und wenn man vom Gegensatzpaar formelle vs. reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital ausgeht, dann ist die formelle deutlich weniger „kapitalistisch“ als die reelle; andrerseits könnte die sog. informelle Ökonomie auch „das Andere“ einer feudalistischen oder sozialistischen Ökonomie sein… Es ist erstaunlich, zu welchen Verwirrungen es hier kommt: 299 steht zu lesen, daß der Orientalismus „die Menschen stets in abstrakten Kategorien anordnet und charakterisiert und nicht in der Lage ist, sie als Individuen zu betrachten“, was Streckeisen „an Marx´ Polemik gegen den abstrakten Menschen des Deutschen Idealismus sowie des Materialismus von Feuerbach“ erinnert, „dem er die Suche nach dem wirklichen Menschen entgegenstellte“ – als ob einem Signifikanten wie „Individuum“ ein Signifikat (oder Referent) wie „konkreter Mensch“ entsprechen könnte…

Zur Zeit als objektive Gedankenform sagt Streckeisen: „Sie ist Voraussetzung dafür, daß Zeit in kapitalistische Wertform gebracht und zum Fetisch werden kann – ein Prozeß der Realabstraktion, der sich etwa im geflügelten Wort ´Zeit ist Geld´ äußert.“ (301) Auch hier spricht er wieder von der „gesellschaftlich notwendigen Arbeit“ (303) ohne zu erwähnen, daß diese bezahlt ist, und von „der gesellschaftlich notwendigen, aber unbezahlten Arbeit“ (304); mit ersterer meint er das Äquivalent für den Lohn, mit letzterer die (meist den Frauen überlassene) unbezahlte Reproduktionsarbeit (eine Form unbezahlter Mehrarbeit, die aber nicht mit der für den Mehrwert erforderlichen unbezahlten Mehrarbeit zu verwechseln ist). „Kapital-Mimesis bringt Menschen zudem auch außerhalb der Arbeitszeit dahin, den oben skizzierten Umgang des Kapitals mit der Zeit nachzuahmen: Oft streben sie danach, Zeit zu gewinnen, um diese wiederum in Arbeit zu verwandeln, d.h. um etwas Nützliches damit anzufangen.“ (305) Carpe diem. „Hier schlägt die Kraft der gesellschaftlichen Realabstraktion, d.h. der Be- und Entwertungsprozesse unterschiedlicher menschlicher Tätigkeiten durch: Es ist in der Regel die unbezahlte Arbeit, die ihre Zeit anpassen muß.“ Also die Hausarbeit…

Diese „gesellschaftlich notwendige, wenn auch nicht als solche anerkannte Arbeitszeit“ bezeichnet Streckeisen als „Mimesis der Kapital-Zeit“ (305). Soll das heißen, daß die unbezahlte Arbeitszeit der Reproduktion ebenso kapitalisiert ist/ wird wie die unbezahlte Mehrarbeitszeit der Produktion?

Die Form der Un/Gleichheit

Das Kapital („als Kraft der Vergesellschaftung“) bringt menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten „in Wertformen“ (307). Eine „an der Wirkungsmacht gesellschaftlicher Formen orientierte Kapitaltheorie .. betrachtet diese Formen als historisch eigentümliche, verkehrte und verrückte Wirklichkeiten, die einen Fetischcharakter aufweisen“ und interessiert sich „dafür, wie die Form auf den Inhalt wirkt“ (307/08) – als ob der Inhalt auch ohne Form wäre, als ob die Form nicht den Inhalt macht bzw. der Inhalt nicht überhaupt erst durch die Form existiert! Der Schlüsselbegriff sei „nicht die Ware oder der Tausch, sondern das Kapital“. Streckeisen interessiert sich nicht für „das Bild einer verwalteten Welt oder einer Tauschgesellschaft, sondern des Kapitalismus: der Gesellschaft des Kapitals“. „Es geht um Formen der Vergesellschaftung durch das Kapital, d.h. um die Frage, welche Formen menschlichen Denkens und Handelns in kapitalistischen Gesellschaften vorherrschen.“ Er will aber, trotz „der außerordentlichen Kraft, mit der das Kapital auf unser Leben einwirkt“, Gesellschaftstheorie nicht auf Kapitaltheorie reduzieren. Es seien ja noch „andere Kräfte wirksam“. „Um nur zwei zu nennen: Geschlecht oder Macht stehen für eigenständige Modi der Vergesellschaftung, die sich auf keine Kapitallogik reduzieren lassen…“ „Aufgabe der Soziologie ist es zu verstehen und erklären, wie das Kapital wirkungsmächtig wird.“ (308) Das Kapital sei „ganz und gar von Menschenhand fabriziert. Es entsteht und wirkt unter der Bedingung, daß das Denken und das Handeln unzähliger Menschen bestimmte Formen annehmen. Wirkungsmächtig geworden, hält es die Menschen an, weiterhin und noch mehr sich in diesen Formen zu bewegen. Die Genesis des Kapitals als vorherrschende Kraft der Vergesellschaftung“ setzt (lt. Marx) „die Existenz bestimmter Klassenverhältnisse“ voraus (Stichwort: ursprüngliche Akkumulation). „Für Weber war es der kapitalistische Geist“ (309).

Überdenkt man all diese Äußerungen, rückt das Kapital bei Streckeisen in ein merkwürdiges Licht: als „Kraft“ auf der einen und als etwas von Menschenhand „Fabriziertes“ wirkt es kaum noch wie ein Verhältnis, sondern quasi wie ein Fetisch – wie er selbst sagte: Es „besteht beinahe zwangsläufig die Gefahr, selbst der Magie des Kapitals zu erliegen und dessen heimlicher Verehrer zu werden.“ (308/09). Nach dem Motto von Marx: Erst macht der Mensch sich einen Gott, und dann behauptet er, dieser Gott habe den Menschen gemacht (oder so ähnlich). Das Kapital als (apriorische) Form der Formen… Und was „zeichnet diese Wertformen aus, durch die das Kapital menschliches Denken und Handeln vergesellschaftet? Es handelt sich offensichtlich nicht um konkret greifbare Formen, sondern um formlose, zumindest abstrakte Formen“ (309) – als ob abstrakte Formen „formlos“ wären.. Jedenfalls sei es „gerade die Unsichtbarkeit der Wertform, auf der die Wirkungsmacht des Kapitals beruht: Nur weil die Menschen die gesellschaftlichen Kräfte, die sich an einem Gegenstand äußern, mit der konkreten Form des Gegenstands verwechseln, entfaltet sich der Fetischcharakter der Dinge.“ Weswegen es „die erste Aufgabe der soziologischen Kapitaltheorie“ sei, „diese Formen sichtbar zu machen“ – ohne „Rückfall in die ökonomische Arbeitswertlehre“ (309).

Es ginge also darum, „die Wertformen als gesellschaftliche Formen sichtbar (zu) machen, welche die konkrete Form der Dinge verzaubern und gleichzeitig von dieser abstrahieren, weil sie für die Akkumulation des Kapitals an sich bedeutungslos ist“ (310). Die konkrete Form „der Dinge“ sei für die Akkumulation des Kapitals bedeutungslos? Das leuchtet ein für den GW von Produktwaren, aber nicht für den GW der Ware Arbeitskraft: der ist ja nun gerade nicht bedeutungslos, sondern ganz im Gegenteil höchst bedeutsam, weil Bedingung der Möglichkeit für jedwede Akkumulation! „Weil das Kapital nicht nur Gegenstände, sondern auch menschliche Tätigkeiten und Fähigkeiten vergesellschaftet, werden Menschen ebenfalls vergleichbar und ungleich gemacht: Der universelle Maßstab dieser Ungleichheit liegt in der Skala der Erwerbseinkommen, die den einzelnen Menschen und als Ergebnis ihrer Arbeit verklärt werden.“ (310) „Gegenstände“ mußten schon zu Zeiten von Aristoteles kommensurabel gemacht werden; die Arbeitskräfte waren Sklaven, die wie diese Gegenstände gehandelt, ge- und verkauft wurden. Die Arbeitskräfte der Neuzeit sind (im doppelten Sinne) frei – und dürfen sich frei vermarkten; ihr Marktwert orientiert sich an ihrem Beitrag zur Mehrwertbildung, zur Akkumulation des Kapitals. Diese „historisch besondere Form des menschlichen Lebens“ kommt „in einer Gesellschaft zum Tragen.., in der soziale Beziehungen durch das Kapital vergesellschaftet sind“ – was allerdings völlig unverständlich bleibt, wenn der Kapitalbegriff derart fetischistisch „verzaubert“ bleibt, wenn die Besitz- und Eigentums-, wenn die Herrschafts- und Machtverhältnisse – also die gesellschaftlichen Verhältnisse – ausgeblendet sind. Aus exoterischer Sicht mag es so scheinen, als ob „soziale Ungleichheit“ auf „Realabstraktionen“ beruht; aus esoterischer Sicht besteht sie natürlich aus krassesten Schieflagen bei Verteilungsfragen jeglicher Art. Hier war die von Streckeisen so vehement abgelehnte Kritische Theorie weiter… Und auch Marx: denn wenn nicht zwischen Geld als Zirkulationsmittel und Geld als Kapital unterschieden werden kann, wundert es auch nicht, dass die Frage der Erklärung von Einkommensunterschieden der Lohnabhängigen für ein wesentliches Forschungsthema der Soziologie gehalten wird, ohne die zentrale Differenz zwischen Geld als Tauschmittel und Geld als Kapital überhaupt zu erwähnen.

Streckeisens fetischistischer Kapitalbegriff kommt auch wie folgt zum Ausdruck: „Für Marx verwandelt sich Geld in Kapital, wenn es sich vermehrt und diese Vermehrung zum Selbstzweck wird. Dies muß auf dem Markt geschehen.“ Auf dem Markt? „Es kann aber nicht auf dem Markt geschehen, wenn Äquivalente getauscht werden.“ Sondern? „Um das ´Geheimnis der Plusmacherei´ zu enthüllen, müssen wir dem Kapitalisten und dem Arbeiter ´in die verborgne Stätte der Produktion´ folgen…“ Hier geht es bekanntlich um Differenzproduktion: TW-Arbeitskraft gegen MW produzierenden GW derselben: „Am Beispiel der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft stellt Marx heraus, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Freiheit und Zwang im Kapitalismus verbunden sind.“ So wird buchstäblich im letzten Augenblick der Verdacht entkräftet, daß die Vermehrung „auf dem Markt“ geschieht. Unklar bleibt jedoch, warum überhaupt sie geschieht: Warum muß es MEHR sein? Erfährt man wenigstens, warum es MEHR sein kann? „Vor dem Gesetz sind der Unternehmer und der Arbeiter gleich, in Wirklichkeit sind sie ungleich. Sie könnten nicht ungleich sein, wenn sie nicht gleich wären, denn Gleichheit und Ungleichheit setzen dieselbe Vergleichbarkeit voraus. Es ist eine Realabstraktion durch gesellschaftliche Wertformen, welche die Menschen vergleichbar macht, gleich und ungleich zugleich. Soziale Ungleichheit ist die gesellschaftliche Form, in die der Kapitalismus die Vielfalt der Menschen bringt… Wenn sich die Kapitalismuskritik am Grundsatz der Gleichheit orientiert, bleibt sie in den objektiven Gedankenformen des Kapitals gefangen.“ (311/12) Was dann mit dem soeben noch (308) zurückgewiesenen Adorno begründet wird: Man „sollte die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren“, sondern „den besseren Zustand .. denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ (312) – womit das Kapital allerdings kein Problem haben dürfte, denn Streckeisens Studie leistet nichts zur Klärung der Frage, ob – und wenn ja wie – man auf diese Art und Weise einem „besseren Zustand des menschlichen Zusammenlebens etwas näher .. kommen“ könnte.

Somit bleibt er Hinsichtlich der „Ungleichheitsforschung“ (311) ganz und gar dem Quantitativen, der Quantifizierung verhaftet. Er möchte Kapitalismuskritik mit Adorno nicht am Grundsatz der Gleichheit orientieren, sondern an einer „Versöhnung der Differenzen“ (Adorno – der dabei vermutlich nicht an quantitative Differenzen gedacht hat). Die Idee, die absolute Vorherrschaft der Quantifizierung als solche zu problematisieren und als spezifisch kapitalistisch zu begreifen, kommt ihm nicht in den Sinn.

Für Streckeisen scheint das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware… der entscheidende Teil der drei Kapitalbände. Dort findet er Realabstraktion, objektive Gedankenform sowie Fetischbegriff, die er für die Soziologie nutzbar machen will. Pointiert ließe sich sagen, seine Kapitallektüre beschränkt sich auf eben dieses Kapitel. Hinsichtlich weitergehender Lektüren scheint er das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn er einen „Bruch mit dem theoretischen Feld der Ökonomie“ für notwendig erachtet und damit „einen grundlegenden Bruch“ mit jeder Form von Arbeitswertlehre anstrebt. Dabei versteht er die Arbeitswertlehre als mathematisches Modell, womit insbesondere eine Lösung des Transformationsproblems angestrebt würde. Dass eine Arbeitswertlehre auch weiter gefasst (werden könnte), der Wert als imaginäre Größe begriffen werden könnte und sich so eine (möglicherweise modifizierte) Arbeitswertlehre ohne explizites Transformationsproblem aufrechterhalten ließe, kommt ihm nicht in den Sinn. Die gesamte diesbezügliche Literatur wird von ihm konsequent ignoriert.

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