Zur Frage der strukturellen Staatsfachisierung

Auszüge aus einem Vortrag, gehalten am 17.4.2018 auf einer Veranstaltung im KOZ/Frankfurt

Im Normalfall, in dem die Bevölkerung in das kapitalistische System voll integriert ist, reagieren Staaten bei kurzfristigen Krisenprozessen mit Reformen und einer entsprechender Rhetorik, mit dem Aufbau von Krisenreserven in allen Bereichen sowie mit ökonomischer Intervention und politischen wie auch militärischen Maßnahmen überall dort, wo die Verwertung und der freie Fluss von Waren und Kapital gestört werden könnten. Seit einigen Jahren finden tiefgreifende Veränderungen im institutionellen Gefüge des Staates statt. Angefangen bei den Parteien: Sie sind längst nicht mehr die Interessenverbände unterschiedlicher Klassen und repräsentieren diese im Parlament, sondern sie transformieren zu professionellen Wahlvereinen für die sich selbst reproduzierende Exekutive. Agamben nennt dies das reine Regierungshandeln. Die politischen Parteien verändern sich in ihrer Struktur und Funktion. Die Parteiführungen sitzen nicht mehr in der Regierung, weil sie die Vertreter ihrer Parteien im Parlament sind, sondern sitzen an der Spitze ihrer Parteien, weil sie in der Regierung sind.

Neben dem Einflussgewinn informeller Gremien, privater Konzern-Lobbyisten, nicht gewählter supranationaler Institutionen und der exekutiven Organe hat sich in den letzten Jahren das strategische Netzwerk des Staates, dessen Teil der Block an der Macht ist, weiter transformiert. Dieses exekutiert bestimmte politische Optionen durch extralegale Organe, Praktiken und Transaktionen, was unter Stichworten wie »Tiefer Staat« und »permanente Regierung« diskutiert wird. Es entsteht ein Parallelstaat der informellen Absprachen, Institutionen und der Verwaltung, der zunehmend den formalen Staatsapparat durchdringt. In Anbetracht dessen, dass die administrativen Institutionen ohnehin unabhängig von einzelnen Regierungswechseln arbeiten, handelt es sich beim ‘Deep State’ um ein verdichtetes Netzwerk aus Regierungspersonal, Bürokratie, Geheimdiensten, Militär, informellen Organisation des Kapitals, multinationalen Konzernen und der Finanzindustrie. Dieses steht unter politisch-ökonomischer Dominanz der letzteren und benötigt zumindest als Drohkulisse den militärischen Schutz der bewaffneten Formationen. So mutiert der Staat selbst zu einer Art paramilitärischem Unternehmen. Dies ist insofern interessant, insofern jetzt zum einen das finanzielle Kapital den Staat in eine Unternehmensform mit-transformiert, wobei die jeweiligen Kräfteverhältnisse zwischen Finanz und Staat zu beachten sind (der Staat ist bspw. selbst ein ökonomischer Akteur, der als Emittent von Staatsanleihen auf den Finanzmärkten auftritt), zum anderen die Polizei im weiteren Sinne eine stärkere Rolle in den staatlichen Apparaten einnimmt. Dabei ist davon auszugehen, dass das finanzielle Kapital und die großen multinationalen Unternehmen über intensive Lobbyarbeit und die Wirkungsweise Märkte die Staaten dazu anhalten, den Bedingungen des Kapitals zu folgen und dessen Interessen einzuhalten. Man könnte heute von einer globalen Governance ohne Souveränität, aber nicht ohne Staaten sprechen.

In einem Text von 1973 hat Manfred Clemenz im Kursbuch den Begriff des strukturellen Staatsfaschismus eingeführt. Wir knüpfen an diesen Text an, weil der gegenwärtige Staat mit Begriffen wie autoritärer Neoliberalismus, autoritäre Demokratie oder ‘Deep Staate’ nicht zur Genüge erfasst wird. Der kommende Faschismus, der als „Faschismus« in Anführungszeichen gesetzt werden muss, nimmt heute vielleicht jene Gestalt an, nach der in den 70er Jahren noch gefragt wurde. Auf dem Kampffeld der Theorie sind es neben den genannten Begriffen insbesondere Totalitarismustheorien und der Begriff des Populismus, mit denen heute der Faschismusbegriff zunehmend eliminiert werden soll. Dabei gilt es aber auch zu beachten, dass der Faschismusbegriff oft genug gerade dort einspringt, wo Monstrositäten, Ausnahmen und Frakturen adressiert werden sollen, für die Begriffe allerdings noch fehlen. Wir befinden uns also auf einem schwierigen Terrain. Wenn also in der Begriff des Faschismus heute in den Kämpfen um Theorien und Diskurse ausgespart oder zmgekehrt sozusagen als Pissmarke gesetzt wird, dann entsteht längst kein diskursiv leerer Raum.

Der Begriff strukturelle Staatsfaschisierung, wir wir ihn vorläufig verwenden, basiert auf historischen Voraussetzungen, die in den 1970ern Jahren so noch nicht gegeben waren. Zu nennen sind vor allem die sich transformierenden und verschärfenden Verwertungskrisen des Kapitals, die Implementierung neoliberaler Maßnahmen und Projekte wie Finanzialisierung, die globale Fragmentierung der Produktionsprozesse, die sog. Deregulierung, Austeritätspolitik, Privatisierung etc. Die daraus entspringenden Wirkungen kommen heute global einem ökologischen und sozialen Katastrophenprogramm gleich: So sind in den Peripherien immer mehr Menschen gezwungen, in den Slums der Großstädte oder in failed states dahinvegetieren zu müssen. Wir gehen davon aus, dass diese Krisenentwicklung in Frequenz und Intensität weiter zunehmen wird, und damit einhergehend auch die soziale Polarisierung in den Metropolen, zugleich aber eine Rückkehr zum national-sozialstaatlichen Kompromiss des Fordismus, d. h. einer historischen Sonderperiode, die durch Systemkonkurrenz, Korporatismus und keynesianische Wirtschaftspolitik gekennzeichnet war, heute nicht mehr möglich erscheint. Aus den genannten Gründen wird die Regulation gesellschaftlicher Fragmentierung zunehmend auch polizeilich statt durch materielle Gratifikation gelöst. In dem Maße, in dem der Staat sozial abbaut, muss er repressiv aufrüsten: Austerität und Autoritarismus gehören zusammen. Oder, um es anders zu sagen, der Markt und starker Staat schließen sich zwar in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig aus. Das widerspricht sich also überhaupt nicht.

Staatsfaschisierung bedeutet in diesem Kontext, dass der Staat allerdings nicht nur auf Krisen und Konflikte reagiert, sondern diese antizipiert und daher einer Präventivlogik folgt, gerade indem er ein permanentes und proaktives Krisenmanagement nach innen und außen betreibt.

Prävention ist zunächst ein Zeitschema; es soll etwas getan werden, bevor ein unerwünschtes Ereignis eintritt, wobei vorausgesetzt wird, dass sich aus gegenwärtigen Indikatoren künftige unerwünschte Zustände und Ereignisse prognostizieren lassen, diese prognostizierten Fehlentwicklungen ohne die zuvorkommenden Gegenmaßnahmen wahrscheinlich auch eintreten werden und folglich möglichst frühzeitige Eingriffe die größtmögliche Risikominimierung versprechen. Prävention will also nicht schaffen, sie will verhindern. Und man kann nie genug und nie früh genug vorbeugen. Wir haben es hier mit einer Versicherheitlichung zu tun, in der ständig Bedrohungslagen und Risikofaktoren aufgespürt werden, um die Legitimation präventiven Handelns herzustellen, und dies wird dann auch durchgesetzt und kann bis zur Liquidierung vermeintlicher Volksschädlinge oder Klassenfeinde gehen. Die Logik der Prävention ist die der antizipierten Säuberung. Auf jeden Fall benötigt die Prävention eine umfassende Datenerhebung und -verarbeitung (Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung), um zum einen die Bevölkerung zu konstituieren und zugleich zu kontrollieren, und zum anderen Unsicherheiten jeglicher Art in ein wahrscheinliches Risiko zu übersetzen, um schließlich den Sicherheitsstaat zu errichten. Dabei kann zum Risiko alles werden, was von den vorgegebenen Solllwerten abweicht oder, um es genauer zu sagen, was sich als Vorzeichen solcher Abweichungen identifizieren lässt. Damit wird die Prävention selbst zum Motor eines repressiven Normalismus, der zudem noch anfängt jedwede Art von Abweichungen zu pathologisieren. Normalistische Steuerungsmechanismen, die auf die Zukunft ausgerichtet sind, fangen nun an die Gesetze und die bestehenden normativen Reglementierungen zu überlagern. Heute ermöglichen Big Data und weitere Technologien die Kontrolle und Granularisierung der Normalitätsfelder und Normwerte, die sich je schon ändern können. Wer vorbeugen will, darf niemals aufhören zu kontrollieren. Somit geht es bei der Prävention nicht nur um die Risikovermeidung, sondern um ein detailliertes Risikomanagement, das einerseits katastrophisch, andererseits wahrscheinlichkeitstheoretisch angelegt ist. Daraus folgt zum einen, dass man immer vom Schlimmstmöglichen ausgeht und auf Dispositive der Furcht setzt, zum anderen bei der Risikofindung eine Umkehrung der Beweislast notwendig ist. Nachgewiesen werden muss nicht das Risiko, sondern dass keines existiert.

Gerade im Zuge des Terrorismus hat man sog. Precautionary principles eingeführt, die von den worst case scenarios ausgehen und alle möglichen Bedrohungen zu imaginieren. Der Aktivismus der Prävention generiert damit sozusagen das, was er bekämpfen will, man folgt einer Logik einer Politik im Konjunktiv. Und wenn es dann noch gilt, das Schlimmste zu vermeiden, dann erscheint fast alles erlaubt. Das Regime der Prävention kreist damit immer auch um das Problem des staatlichen Ausnahmezustands, der nun auf Dauer gestellt wird. Das Recht wird zumindest partiell suspendiert oder es wird ständig umgeschrieben, um angebliche politische Ereignisse abzuwenden, welche die bestehende Rechtsordnung zerstören könnten. Im Namen eines Exzeptionalismus beansprucht der Aushahmestaat die Herrschaft über Leben und Tod und radikalisiert die Mechanismen disziplinarischer Zurichtung und postdisziplinärer Kontrolle. Die vorweggenommene Katastrophe wird nun zum Vehikel protofaschistischer Sicherheitspolitiken, die vom Staat selbst ausgehen.

Agamben hat darauf hingewiesen, dass längst Sicherheitsgründe (raisons de sécurité) den Platz dessen eingenommen haben, was man früher die Staatsräson (raison d’état) nannte. Für Agamben einstehen damit eine Reihe von Tendenzen, die im Ausnahmestaat resultieren, der von ihm als eine Regierungstechnik begriffen wird, wobei im Kern der liberalen Demokratie schon die Aufhebung des Rechts lauert. Es geht hier zum ersten darum, neue Beziehungen in der Bevölkerung herzustellen, die aus einer ständigen Überwachung bestehen – deswegen die Konzentration auf Einrichtungen, die eine lückenlose Kontrolle von elektronischen und Kommunikationsdaten der Einzelnen erlauben. „Die Forderung nach Transparenz bedeutet in ihrer übersteigerten und letztlich totalitären Form, dass jede und jeder von uns legitimerweise in allen Aspekten des Lebens dauerhaft überprüft, beobachtet, klassifiziert und bewertet wird.” Zugleich wird die Teilhabe der Bevölkerung am politischen Leben immer mehr auf die Beteiligung an Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen reduziert. Diese Tendenz ist für Agamben umso beunruhigender, als sie durch Nazi-Juristen in theoretische Form gegossen worden ist: Diese haben das Volk als politisch ohnmächtiges Element definiert, dessen Schutz der Staat garantieren muss. Wenn man die Bürger entpolitisiert, dann können diese aus ihrer Passivität nur noch durch die Angst vor einem fremden Feind mobilisiert werden. Eine weitere Tendenz besteht in der Hinführung zu einem Zustand, in dem Terrorismus und Sicherheitsstaat eine symbiotische Beziehung eingehen: So wird bei den Beschreibungen terroristischer Verbrechen auf eine Tatsachensicherheit im juristischen Sinne zunehmen verzichtet

Diese neuartige strukturelle Staatsfaschisierung entsteht, wie schon dargelegt, nicht ausschließlich als Reaktion auf Krisenprozesse, sondern antizipiert die kommenden ökonomischen, sozialen und politischen Krisen und Konfliktpotentiale, was in entsprechenden offiziellen Verlautbarungen auch klar benannt wird. Der kapitalistisch durchstrukturierte Staat trifft häufig in der Form eines Ausnahmestaats auf, der Tendenzen zur Staatsfaschisierung enthalten kann. (Allerdings ist die wirkliche Ausnahme eher der bürgerliche Staat, den es in seiner Reinform kaum gibt.) Für Poulantzas ist der durchaus fragile Ausnahmestaat, der also eher brüchig als stark ist, mit einer Hegemoniekrise innerhalb des Blocks an der Macht oder mit dem sich verschärfenden Klassenkampf der subalternen Klassen verbunden, er hebt die Rechtsstaatlichkeit und unter Umständen auch das Mehrparteiensystem auf, verändert Verwaltung und Verfassung, um Krisen zu glätten. Um es vielleicht etwas genauer als Poulantzas auszudrücken, es handelt sich beim Ausnahmestaat oder dem faschisierten Staat nicht um eine neuartige Staatsform, sondern um einen konjunkturellen oder situativen Wandel des Regierens, um eine Verdichtung und Verschiebung nicht nur der Klassenkämpfe, sondern der Neuordnung von Staatsapparaten und Governance/Regierungsformen, die noch keine endgültige Gestalt gefunden haben, sodass der gewöhnliche Kapital-Staat auch nicht ganz aufgehoben ist. Aufgrund eines spezifisch codierten Krisenszenarios oder einer Präventivlogik werden Maßnahmen ergriffen, die den Charakter des normalen kapitalistischen Staates nachhaltig verändern und seine Rechtsstaatlichkeit soweit abbauen, dass sie mit der grundlegenden Verfassung nicht mehr in Einklang gebracht werden können, ohne diesen Ursprung zu leugnen.

 Siehe dazu: Achim Szepanski / J. Paul Weiler
Einige Anmerkungen zur strukturellen Staatsfaschisierung. in: Riot: Was war da los in Hamburg. Theorie und Praxis der kollektiven Aktion.

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