Die schweigende Mehrheit vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche durch ihre Opfer bewahren

Ich weiß kein verhärteteres Kollektiv in der ganzen Welt“, schrieb Horkheimer über Deutschland in seinen ‘Notizen’. Ein Ausdruck dieser Härte ist es, wenn in diesem tierlieben Land wider die Natur die Väter ihre Söhne überleben.

Wie Springer, so verlor der Generalbundesanwalt Rebmann, der oberste Verfolger seiner im Durchschnitt 30 Jahre jüngeren Feinde, vergangenes Jahr durch Selbstmord seinen Sohn. Der Tod des Sohnes hat den Fahndungseifer dieses Vaters, der durchweg Personen verfolgt, welche im Alter seiner Kinder sind, nicht erschüttern können. Woanders vielleicht mahnt der Tod zum Eingedenken, zur Frage in diesem Fall, ob eine Welt, in welcher sich die Söhne erfolgreicher Väter das Leben nehmen, denn wirklich mit Hochsicherheitstrakten und finalen Rettungsschüssen gegen alle Versuche, sie zu verändern, verteidigt werden soll; zum grüblerischen Zweifel am Wert jener Anstrengungen und Aufbauleistungen, deren Resultat der Sohn, der statt des Erbes den Freitod wählt, verschmäht; zur Skepsis, ob eine ganze Generation von Eltern, welche ihren Kindern eine Welt geschaffen hat, die sie nicht ertragen können, obendrein auch noch das Recht besitzt, diese Kinder zu verfolgen und zu richten. Hier aber wird der Tod nicht als Mahnung zum Eingedenken, sondern – exemplarisch nach dem Bombenanschlag aufs Münchener Oktoberfest – als Nagelprobe auf den Durchhaltewillen begriffen. Wir, die wir vom Hausmeister bis zum Vorgesetzen so ziemlich alles und jeden fürchten, wir lassen uns vom Tode anderer, von anderen Toten also, nicht erpressen. Die Toten von München: taktlose Spielverderber, Querulanten, Außenseiter. Sich mitten auf der
Festwiese von einer Bombe zerfetzen zu lassen, um uns den redlich verdienten und hart erarbeiteten Spaß zu versauen. Von wegen, das Fest ging weiter.

Besonders die Kriegsgeneration, die mit der hohen Kampfmoral im Schlußverkauf, ist unverwüstlich. Vielleicht von jenen Leichenbergen, die sie in den Konzentrationslagern und an den Fronten schuf, nährt sich ein gnadenloser Überlebenswille. Es scheint, als habe dieses Monstrum die Lebenskräfte seiner 50 Millionen Opfer vampirhaft ausgesaugt, um diese Kräfte in solche der eigenen Zählebigkeit zu verwandeln.

Der alte Kannibalenglaube, daß man durch den Verzehr des getöteten Feindes dessen Kräfte erwirbt, erklärt im 20. Jahrhundert, wo den Überlebenden die Mägen platzen müßten, äßen sie alle getöteten Feinde auf, ein Mysterium eigener Art: das deutsche Wirtschaftswunder.

Wie jener Rentner, der in der Berliner Gedächtniskirche Dutschke mit seiner Krücke niederstreckte, macht diese Generation aus jedem Holzbein eine Waffe. Im 77-jährigen Greis, der sich – am 8. Oktober 1980 in Hannover – über das Benehmen eines 50 Jahre jüngeren Mannes geärgert hatte und ihn deshalb im Nahkampf mit dem Messer totstach, erscheint ein bösartig gewordener Selbsterhaltungstrieb. Er klammert sich; ans Leben, nicht weil er es liebt, sondern weil er will, daß alle anderen vor ihm sterben. Sein Triumph ist das Vergnügen, kurz vor dem unvermeidlichen eigenen Untergang noch den der anderen zu sehn. Sein letzter Blick sucht nicht wie der von Moses das gelobte Land, um mit der Gewißheit, daß die Kinder und Enkel dort glücklich leben werden, in Frieden zu sterben. Er möchte, bevor er stirbt, am liebsten ringsum die Atomblitze zucken sehn. Wenn er die Welt,
 bevor er sie verläßt, zur Hölle macht, dann hat er die Hölle im Jenseits nicht zu fürchten. Das war die Endlösungshoffnung und die Eschatologie der Nazis, die in dem Wörtchen Endsieg steckt. Kein Schwerbeschädigter, der seinen Ausweis: nicht wie einen Haftbefehl, und kein Rentner, der seine Platzkarte nicht wie eine Dienstmarke präsentieren würde. Sie legen nicht Wert auf den Sitzplatz, sondern auf die Befehlsgewalt, andere, die weder Krüppel noch verwelkt und verbittert sind, zu vertreiben. Wenn es nur möglich wäre, riefen sie gleich die Polizei und ließen alle verhaften.

Im Blick, mit dem die Alten ihre Kinder, die Chaoten, Randalierer, Terroristen und Verfassungsfeinde mustern, sticht eine mitleidlose Härte zu, welche die Deutschen sich vielleicht damals erworben haben, als sie es duldeten, daß Frau Hermine Braunsteiner in Majdanek kleine Kinder auf Lastwagen schmiß und in Gaskammern verlud und dafür mit dem Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet wurde. Vielleicht, weil sie in ihren Kindern die Racheengel jener nicht im Blutrausch von einer Soldateska, sondern wider alle Gesetze einer elementaren, fast kreatürlichen Menschlichkeit von besonnenen deutschen Frauen umgebrachten Kinder fürchten, vielleicht deshalb können die Alten hier nicht mit sehnsüchtiger Liebe und wehmütigem Verzicht auf die Jüngeren schauen und mit Trauer und Schmerz wie dem Wunsch zu verzeihen auf das, was sie für die Entgleisungen und Verirrungen der Jüngeren, für ihr Unglück halten müssen. Sondern vergriffen und verhärtet, wie sie sind, wollen sie das, was die Jüngeren ihnen voraus haben, auch besitzen, und wenn sie es trotz Seniorenkost, Reformhausnahrung und Knoblauchpillen nicht besitzen können, dann wollen sie es vernichten. Die Mordabsichten gegen jeden Funken nicht verhärteten Lebens, denen damals die Juden und Zigeuner zum Opfer fielen, erklären heute die ungewöhnlich hohe Kindersterblichkeit im hiesigen Straßenverkehr, und sie erklären die gerade unter Rentnern besonders verbreitete deutsche Version
des Bürgersinns: das Denunziantentum und das Spitzelwesen.

In Kriegsschilderungen aus fremden Ländern ragt oft aus der allgemeinen Barbarei die Geschichte einer Frau hervor, die vor den eigenen Leuten den feindlichen Soldaten verbirgt und ihm das Leben rettet, weil er sie an den Sohn, den Bruder, den Gatten erinnert, der sich, auf der anderen Seite der Front, in einer ähnlichen Situation befinden mag. Und als im November 1973 griechische Militärpolizei die Athener Studenten durch die Straßen hetzte, da standen viele Türen offen. Für die Bevölkerung waren die verfolgten Studenten nicht mehr politische Partei, deren Anhänger oder Gegner man sein kann, sondern sie waren die eigenen, in große Not, in Lebensgefahr geratenen Kinder. Die Berliner Studenten hingegen, an denen die Polizei gerade die neue Leberwursttaktik ausprobiert hatte, waren, wie Adorno es formulierte, „die Juden der Stadt“. Und keine Scheu vor dem Gedanken, es könne der eigene Sohn oder die eigene Tochter sein; kein Mitleid mit dem Schmerz der Mütter und Väter hindert die Alten daran, durch systematische Denunziation die Jüngeren dem finalen Rettungsschuß, der Putativnotwehr oder dem lebenslänglichen Hochsicherheitstrakt zuzuspielen.

Die rüstige Rentnerin, ohne deren Anruf bei der Polizei Günter Sonnenberg keinen Kopfschuß davongetragen hätte, prahlte nach vollbrachter Tat gut gelaunt vor dem Interviewer mit ihrer Beobachtungsgabe und ihrer Erfolgsbilanz. Denunziation ist ihr Hobby, ihr Seniorensport ist die verdeckte Menschenjagd. Sie, die jene stillschweigende Konvention gebrochen hat, auf welcher alles erklärte Recht basiert – sie würde anderswo geächtet und angespien. Die Verwandtschaftsgrade, die mit ihrem Namen ein Verhältnis intimer, schützender Nähe verallgemeinern,
bis hin zur Vorstellung, daß alle Menschen Gottes Kinder und einander deshalb Brüder und Schwestern sind, bleiben zwar hilfloser Appell; ohne sie aber existierte weder die partikulare Humanität, die erst erlaubt, die davon verschiedene Barbarei des Ganzen zu erkennen, noch existierten der Begriff der Menschheit und damit die Idee ihrer Befreiung. Die Volksgemeinschaft aber, die damals, auf die verbindende Kraft des Blutes schwörend, Ahnenforschung
trieb und heute schon wieder vor der Asylantenwelle und der Überfremdung warnt – diese Volksgemeinschaft kennt zwar Muttertage und Mutterkreuze, Müttergenesungswerke und Kindergeld und als Pendant unter dem Titel ‘Vernichtung lebensunwerten Lebens’ den konzessionierten Mord an den eigenen Kindern; in Wahrheit aber kennt sie wie der Hitlerjunge, der seine Eltern bei der Partei verpfiff, weder Brüder noch Schwestern, weder Eltern noch Kinder, sondern sie unterscheidet nur zwischen sich selbst als dem verstaatlichten Zwangs-kollektiv, der Verfolgergemeinschaft, und; ihren auszumerzenden Feinden. Als Brückner die triviale Wahrheit aussprach, daß die Mitglieder der RAF nicht vom Himmel gefallen, sondern Landeskinder waren; als er, nur das Kausalgesetz, den Grundsatz von Ursache und Wirkung bemühend, daran erinnerte, daß die Aktionen der RAF durch ihre Entstehungsbedingungen, nämlich die bundesrepublikanischen Verhältnisse, begründet sind – da wurde er von der Regierung ausgebürgert aus der Universität.

Kein Grund zur Hoffnung also, ein Appell an die Humanität könne hier etwas bewirken. Der Generalbundesanwalt, der durch Selbstmord seinen Sohn verloren hat, verfolgt Personen, die im Alter seines verstorbenen Sohnes sind, mit ungebrochener Härte weiter. Die Verbreitung der Erklärung jener politischen Gefangenen, die am 2. Februar in den Hungerstreik getreten sind, wird von der Bundesanwaltschaft als »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“
gewertet. Menschlichkeit bleibt strafbar.

Für die Freilassung der politischen Gefangenen gibt es einen anderen Grund. Im „Spiegel“ berichtete Peter Jürgen Boock, die RAF plane die Sprengung des Heidelberger Schlosses als „finale Aktion“. Ganz gleich, was von den Angaben Boocks zu halten ist: Genau diese Aktion haben alle – die Reaktion der Öffentlichkeit beweist es – insgeheim von der RAF erwartet. Den geheimen Wünschen der schweigenden Mehrheit aber kann niemand, der ihr durch Haft und permanente Verfolgung vollkommen schutzlos ausgeliefert ist, auf Dauer widerstehn. Die schweigende Mehrheit vor der Verwirklichung ihrer geheimen Wünsche durch ihre Opfer bewahren kann in diesem Falle nur ein Mittel, nämlich die Amnestie. Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, wäre ein passendes Datum. Gegen die Kanzlerphrase des ehemaligen Hitlerjungen, der Rechtsstaat müsse Flagge zeigen, erinnert der 8. Mai daran, daß die historische Vernunft in diesem Land sich niemals zusammen mit der Flagge zeigte, sondern nur dort, wo es kapitulierte. Dies erstmals in der Geschichte freiwillig zu tun wäre ein bescheidener Beitrag zur „Bewältigung der Vergangenheit“ und die einzige Rettung vor dem nächsten Endsieg.

Konkret 4 / 1981

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