BLESSED IS THE FLAME (1)

Übersetzt von Jan Heintz

Gesegnet sei das Streichholz, verzehrt

in der entfachten Flamme.

Gesegnet sei die Flamme, brennend

in der eilenden Festung des Herzens.

Gesegnet sei das Herz mit Stärke,

sein Schlagen um des Glanzes willen anzuhalten.

Gesegnet sei das Streichholz, verzehrt

in der entfachten Flamme.

               – Hannah Szenes, Jüdische Partisanenkämpferin

Und möge die Flamme, die

in uns brennt,

alles um uns herum

in Brand setzen.

               – Panayiotis Argyrou, Stolzes Mitglied der Verschwörung der Zellen des Feuers

Einführung

Wir werden zum Schlachthof geführt. Das wurde auf tausend Arten theoretisiert, in Umwelt-, sozialen und politischen Begriffen beschrieben, prophezeit, abstrahiert und in Echtzeit erzählt, und dennoch sind wir unsicher, was wir damit anfangen sollen. Der zugrunde liegende Punkt ist, dass der Fortschritt der Gesellschaft uns nichts zu bieten hat, sondern ganz im Gegenteil: uns alles wegnehmen will. Oft fühlt es sich an, als würden wir es ohne Gegenwehr weggeben: Wenn wir unsere Zeit für Geld verkaufen, zulassen, dass unsere Leidenschaften kommerzialisiert werden, uns für die Verbesserung der Gesellschaft einsetzen oder uns von den Beutezügen der ökologischen Zerstörung ernähren, nehmen wir offen und stumm (wenn auch nicht einvernehmlich) an unserer eigenen Zerstörung teil.                             

Die Frage schwebt mit einer ätherischen und gespenstischen Stimme im Raum: Warum lasst ihr euch wie Schafe zum Schlachten führen? Wie Hermann Langbein in Against All Hope: Resistance in the Nazi Concentration Camps anspricht, wurden die Überlebenden dieser explizitesten Menschen-Schlachthäuser seit Jahrzehnten von dieser Frage geplagt, auf die einige einfach antworteten: Das haben wir nie.[1]                                                           

 Was können Geschichten des Widerstands innerhalb der Nazi-Konzentrationslager uns über unsere eigenen Situationen lehren? Wie können wir uns mit dem Widerstand derer identifizieren, die in “den furchtbarsten und hoffnungslosesten Kampf, den die Welt je gesehen hat”, eingetaucht sind?[2]     Unter der allgegenwärtigen Metapher vom Schaf zum Schlachthof verbirgt sich eine tiefgreifende historische Möglichkeit: Wo immer die Nazis Herrschaft und Gewalt aufzwingen wollten, leisteten die Menschen Widerstand. Hinter den Bildern von Menschen mit Armbinden, die in Züge steigen und ruhig in Gaskammern gehen, verbirgt sich eine reiche Geschichte der „Widerspenstigkeit“ und des Aufstands.[3] Innerhalb der Nazi-Konzentrationslager, Orte, die sorgfältig darauf ausgelegt waren, Menschen zu unterwerfen und zu vernichten, organisierten sich Menschen, verschworen sich, sabotierten und kämpften reflexartig gegen ihre UnterdrückerInnen zurück. Auch wenn es sicherlich Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg darüber gibt, wie ganze Bevölkerungen zahm gemacht werden können, gibt es auch Lehren darüber, was es bedeutet, sich in außergewöhnlich düsteren Umständen der Beruhigung zu widersetzen. Wenn wir diese Art von Geschichten vergessen, vergessen wir unsere eigenen Möglichkeiten des Widerstands. Dieser Text handelt davon, diese Geschichten zu erzählen und sie zu einem Teil unserer eigenen Kämpfe werden zu lassen.                                                                                 

 Ein anderer Ansatz: Wir sind bereits zum Schlachthof geführt worden – er ist überall um uns herum. Die Welt, in der wir existieren, ist ein langgezogener Tod, eine Art ökonomisch aufrechterhaltener Limbus, in dem Herzen nur schlagen dürfen, soweit sie den aufsteigenden Strom des Kapitals erleichtern können. Die Plage der Zähmung hat in jeden wilden Raum gegriffen, und die Linien der Kolonisation haben öfter überquert, als wir zählen können.[4] Jeder unproduktive Aspekt der Biosphäre wurde für die Ausrottung markiert, von den “vom Schleppnetz durchzogenen Ozeanböden” über die “gesprengten Riffe” bis zu den “ausgehöhlten Bergen”; die höchsten Kaliber der Technologie sind in einem ewigen Tötungsrausch verriegelt, der in einem “monotonen Rhythmus des Todes” dahinrattert.[5] Wir, die noch Luft in unseren Lungen haben, sind die lebenden Toten und kämpfen täglich darum, uns daran zu erinnern, wie es ist, lebendig zu sein, festhaltend an dem “Verlangen nach Wildheit, das das Elend eines Gehaltsschecks nicht beschwichtigen kann.[6] Wir durchstreifen die trostlose Architektur unserer Schlachthäuser (“das Gefängnis der Zivilisation, in dem wir leben”) wie Geister, die fühlen, aber die Banalität unserer Existenz nicht ganz begreifen können.[7] Um einige passende Formulierungen der Verschwörung der Zellen des Feuers (eng. Conspiracy of Cells of Fire, kurz: CCF) zu entlehnen: Wir sind vollständig in “ein System integriert, das uns täglich niederdrückt”, das “unsere Gedanken und Wünsche durch Bildschirme kontrolliert” und uns “beibringt, wie man glücklich versklavt ist”, während es uns “glauben lässt, dass wir frei sind, weil wir wählen und konsumieren können”, und dabei sind “wir wie fröhliche Sisyphusse immer noch unseren Sklavenstein tragend und denken, dass dies das Leben sei.”[8] Wie ein ehemaliger amerikanischer Irak-Kriegsveteran, der zum Strategieberater wurde, 2013 in der New York Times schrieb: “Das größte Problem, dem wir gegenüberstehen, ist ein philosophisches: zu verstehen, dass diese Zivilisation bereits tot ist.”[9] Der Umfang, in dem wir die Rhythmen, Werte und Geschichten dieser Zivilisation internalisiert haben, “verbindet unsere Zukunft mit diesem untoten und alles verschlingenden System.”[10]

Vielleicht wäre dann eine bessere Frage: Warum werden wir kontinuierlich wie Schafe zum Schlachten geführt?, auf die viele von uns einfach antworten: Wir werden es nicht.

Anarcho-Nihilism

Ein Nihilist ist eine Person, die sich vor keiner Autorität beugt, die kein Prinzip auf Glauben akzeptiert, wie sehr auch dieses Prinzip verehrt werden mag. -Ivan Turgenjew

Die anarcho-nihilistische Position ist im Wesentlichen die, dass wir fucked sind.[11] Dass die gegenwärtige Manifestation der menschlichen Gesellschaft (Zivilisation, Leviathan, industrielle Gesellschaft, globaler Kapitalismus, was auch immer) jenseits der Rettung liegt und unsere Reaktion darauf eine der uneingeschränkten Feindseligkeit sein sollte. Es gibt keine Forderungen zu stellen, keine utopischen Visionen aufrechtzuerhalten, keine politischen Programme zu befolgen – der Weg des Widerstands ist einer der reinen Verneinung. Kurz gesagt, “dass die Bedingungen in der sozialen Organisation so schlecht sind, dass Zerstörung für sich allein wünschenswert ist, unabhängig von jedem konstruktiven Programm oder jeder Möglichkeit.”[12] Aragorn! verfolgt die Geschichte des Nihilismus bis ins Russland des 19. Jahrhunderts, wo das “erstickende” Umfeld des Zarenreichs einen Nährboden für einen rein negativen Strang des Sozialismus schuf. Was als philosophische Ablehnung konventioneller Moral und Ästhetik begann, legte den Grundstein für eine von der Jugend getragene Gegenkultur von Hedonismus, Kommunalismus und Proto-Hipster-Mode.[13] Dies hat letztendlich eine revolutionäre Kraft geboren, die die absolute Zerstörung von “staatlichen Traditionen, sozialer Ordnung und Klassen in Russland” anstrebte, nicht als Teil eines Programms für sozialen Wandel, sondern basierend auf dem “tief verwurzelten Glauben, dass Zerstörung an sich lohnenswert war.”[14] Obwohl der russische Nihilismus schließlich vom Staat niedergeschlagen wurde, verbreiteten sich die Ideen und erlebten kürzlich ein Wiederaufleben innerhalb anarchistischer Strömungen.       

Nach zwei Jahrhunderten gescheiterter Revolutionen hat der Nihilismus vielleicht noch weniger Interesse an konventionellen sozialistischen Programmen und radikalen Milieus. Er wurde auch mit Jahrzehnten anarchistischer und post-strukturalistischer Theorie bewaffnet, die dazu beigetragen haben, seine Kritiken an (Klassen)herrschaft, Meta-Narrativen, teleologischen Strukturen, Geschlecht und Zivilisation insgesamt zu pflegen. Ströme von Mitteilungen von anarcho-nihilistischen Gruppen, die Brandanschläge detaillieren, wurden von einer Flut von Publikationen begleitet, die nihilistische Ansätze zum Problem der (Klassen)herrschaft in der heutigen Welt erforschen. Beides hat zu (gelegentlich nützlichen) Dialoglinien zwischen NihilistInnen und anderen AnarchistInnen geführt. Obwohl einige Strömungen des Nihilismus sicherlich an einem Punkt der Lähmung ankommen, neigt der Strang, der auf Anarchismus trifft, dazu, einer explosiven Kreativität und rücksichtslosen Aktion zu folgen. Auf dem Weg der Verneinung weist der Anarcho-Nihilismus positive Programme für sozialen Wandel ab, stellt dominante Zeitmodelle infrage und entdeckt eine taktische Freiheit, indem er ererbte Moralvorstellungen und politische Traditionen als gegenstandslos betrachtet, neben anderen Positionen.

Kollision

Wir sind Anarchisten nicht durch Bakunin oder die CNT, sondern durch unsere Großmütter.                                                                                                          -Julieta Paredes

Ich begann über diesen Text in Toronto nachzudenken, wo meine 93-jährige Großmutter im siebten Stock eines Hochhauses mit Blick auf den Highway 401 lebt.[15] Wenn man an den bodentiefen Fenstern in ihrer Küche steht, wird der Horizont von zwölf Fahrspuren aus Beton und einem endlosen Strom von Verkehr verschluckt, gleichermaßen beängstigend und hypnotisch. Wie viele grausame Geschichten sind in diese eine Landschaft geschrieben? Die Betonstraße erzählt die Geschichte der Kolonisierung von Turtle Island, der Pendelverkehr erzählt die Geschichte der Massendomestikation unter den Rhythmen des Kapitalismus, der aufsteigende Smog erzählt eine Geschichte von einer Zukunft, die fast zu beängstigend ist, um sie zu glauben. Meine Großmutter, die ruhig Tee trinkt, lässt sich von diesem bedrohlichen Zug nicht beeindrucken – es ist die Welt, die sie jetzt kennt und akzeptiert. In einem früheren Kapitel ihres Lebens konfrontierte und überlebte sie eine sehr unterschiedliche Infrastruktur des Todes: Als junge Erwachsene definierten Bunker, Fabriken und Krematorien von Auschwitz fast ein Jahr ihres Lebens. Ihre Erfahrungen mit dem Holocaust sind mir nahe, wenn ich auf dieses leuchtende Band des Todes hinabschaue und mit den Ideen des Nihilismus ringe.  Inwieweit bleibe ich an dieser Gesellschaft, die ich verachte, gebunden? Was würde es bedeuten, diese Bindungen zu kappen?           

 Wenn dies Nazi-Deutschland wäre, das sich vor mir ausdehnt, wie würde ich mein Leben leben?  Was wäre, wenn ich mich 1943 an meiner Großmutter Stelle befände? Was bedeutet es, sich gegen ein so katastrophal umfassendes und überwältigendes System zu widersetzen?                                                                                                                                      

 Diese Kollision von Anarcho-Nihilismus und Widerstand im Konzentrationslager entstand hauptsächlich als Zufall literarischer Hingabe. Gleichzeitig vertiefte ich mich in Bæden, eine queere nihilistische Zeitschrift (nach wie vor eine der besten nihilistischen Texte, die ich gefunden habe), stolperte ich auch über meine erste Erinnerung an den Widerstand im Warschauer Ghetto. Wie so oft sprangen Verbindungen von den Seiten, und es schien ideal, diese beiden Themen gleichzeitig zu verfolgen. Seitdem habe ich festgestellt, dass sie eindringlich miteinander sprechen, und wenn sie zusammengehalten werden, scheinen sie eine stereoskopische Tiefe zu erzeugen, die mir geholfen hat, das Gewicht beider Themen gleichzeitig zu bewältigen.      

Ich gebe von Anfang an zu, dass ich geringe Ambitionen für dieses Projekt habe. Mein Ziel ist es nicht, den Nihilismus oder Anarchismus umfassend zu erklären, neu zu erfinden oder zu kritisieren. Vielmehr möchte ich diese Ideen erforschen und sehen, wie weit sie mich bringen können. Wie die Autoren der nihilistischen Zeitschrift Attentat interessiere ich mich dafür, “Werkzeuge, keine Antworten, mit Schwerpunkt auf dem Aufbau” zu finden.“[16] Ebenso habe ich keine Ambitionen, neues Licht auf den Holocaust zu werfen oder neue, überraschende Interpretationen anzubieten – trotz all meiner Recherchen fühlt sich das Thema immer noch irgendwie unantastbar an: ein Ende eines Gesprächs und nicht ein Anfang. Wenn schon nichts anderes, möchte ich einige Geschichten des Widerstands ausgraben, die nicht oft erzählt werden, und dabei den Holocaust auf eine sinnvolle Weise in den Bereich anarchistischen Denkens bringen, damit wir zumindest etwas dazu zu sagen haben. Ich hoffe, die Türen für andere AnarchistInnen zu öffnen, die eine persönliche Verbindung zu diesen Geschichten haben oder ein Interesse teilen, damit wir sie auf produktive Weise in unser Leben integrieren können.                                                                     

Im Kern geht es bei diesem Buch darum, die instinktive Auflehnungsbereitschaft anzuzapfen, die unter jeder Organisation, Affinitätsgruppe, jedem Projekt und jeder Handlung liegt, an der wir teilnehmen; diesen reflexiven Geist des Widerstands, der in dem grundlegenden existenziellen Verständnis wurzelt, dass Widerstand einfach eine sinn- und freudvollere Form der Existenz ist als die Gehorsamkeit. Zu oft werden unsere aufständischen Impulse von ideologischen Kostümen, rhetorischen Vorgaben und hobbyistischen Paradigmen behindert. Wir leiten unsere Energien in zweifelhafte Kanäle vorgefertigten Dogmas und brennen zwangsläufig aus oder werden schon beim bloßen Erwähnen der Revolution lustlos.[17] Formen des Widerstands, die auf sozialen Verpflichtungen und Lebensstilentscheidungen basieren, verblassen allzu oft zu Leben der Verzweiflung, Entfremdung, Langeweile oder materiellen Bequemlichkeit. Es spricht für die Natur unserer Domestizierung, dass wir uns nur für Widerstand entscheiden, solange es sich anfühlt, als könnten wir gewinnen.  Dort kommt der Nihilismus ins Spiel. Mich interessiert die Art von Widerstand, den wir verfolgen, nicht unbedingt, weil wir glauben, dass er gewünschte Veränderungen hervorbringen oder uns in eine bessere Zukunft führen wird, sondern weil er die sinnvollste Reaktion auf diese Welt ist, die wir uns vorstellen können. Weil wir uns einfach nicht vorstellen können, passiv gegenüber einem so brutalen System zu sein, unabhängig davon, wie weit wir von unseren Träumen entfernt sind. Der Nihilismus drängt AnarchistInnen dazu, unsere Gefühle von Zynismus gegenüber radikalen Milieus, unsere Langeweile mit vorgeschriebenen Widerstandsmethoden und unsere Hoffnungslosigkeit in der gegenwärtigen Landschaft der (Klassen)herrschaft zu akzeptieren und sich an Formen des Aufstands zu beteiligen, die sofortige Freude und Momente der Befreiung kultivieren. Und genau da wird der Holocaust besonders interessant.                                                                                                    

Widerstand im Konzentrationslager stellt den Nihilismus vor die Herausforderung, zu überlegen, wie düster dieser bereit ist zu werden. Der Widerstand jener in den Lagern,[18] die jeglicher Hoffnung beraubt waren, jedes Quäntchens Inspiration und jeden Hauchs Trost, wirft wichtige Fragen darüber auf, wie viel Hoffnungslosigkeit wir bereit sind zu ertragen, um die Möglichkeit zu haben, zurückzuschlagen. Es erinnert uns daran, dass Widerstand nicht nur darum geht, Ergebnisse zu erzielen, sondern auch um unsere reflexiven Reaktionen auf unterdrückerische Situationen. Ob es uns gelingt, unsere UnterdrückerInnen zu stürzen und eine bessere Zukunft herbeizuführen, kann nur sekundär sein im Vergleich zum viszeralen Bedürfnis, gegen die beschissenen Bedingungen unseres Lebens zu rebellieren.                                 

Beide Themen – Anarcho-Nihilismus und Widerstand im Konzentrationslager – fordern Anarchisten heraus, einen Geist des Widerstands zu verwirklichen, der schreckliche Bedingungen überstehen kann, der den Stürmen absoluter Nutzlosigkeit standhalten kann und der immer noch eine überschwängliche Lust zum Aufbegehren aufbringen kann.

Das unaufhörliche Lager

“Die Holocaust-Erfahrung ist eine sehr komprimierte Version von dem, worum es im Leben im Wesentlichen geht.” – Dori Laub

Dies ist kein Buch über Happy Ends. Fast jede Geschichte endet mit Massenfolter, Abschlachtung und Versklavung. Als die Befreiung der Lager erfolgte, geschah dies nicht, weil der interne Widerstand die Nazis in die Knie gezwungen hatte, sondern aufgrund des Eintreffens eines anderen Teams imperialer Staatsarmeen.[19] Ein typisch linksgerichteter Ansatz zu diesem Thema könnte versuchen, die Wirksamkeit des Widerstands in Konzentrationslagern zu betonen, Porträts von HeldInnen zu zeichnen, die das Ende des Krieges beschleunigt haben, oder nur die Momente erfolgreicher Flucht zu feiern. Ein nihilistischer Ansatz könnte genauso zufrieden sein, alle Zeiten zu betonen, in denen Handlungen nichts erreicht haben, alle Zeiten, in denen rebellische Strategien versagt haben, all die Akte des Widerstands, die nicht einmal überlebt haben, damit wir von ihnen hören können – mit all diesen Informationen zurückzutreten und immer noch sagen zu können: das ist großartig! Aus einer nihilistischen Perspektive können wir die “Misserfolge” des Widerstands feiern, denn in ihnen finden wir eine Art Widerstandsfähigkeit und Substanz, die uns in unseren gegenwärtigen Situationen möglicherweise besser dient als bloße Triumphgeschichten.                                                                    

 Obwohl es lächerlich wäre, einen Vergleich zwischen unserer heutigen Situation und den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs überzubetonen, spiegelt die institutionalisierte Brutalität und die systematische Entmachtung, die viele von uns empfinden, sicherlich wider. Viele von uns, die die Schrecken der modernen Gesellschaft erleben oder zumindest erkennen können, können sich mit denen vor uns identifizieren, die “in Zahlen verwandelt, der letzten Reste menschlicher Würde beraubt und zu völlig unterwürfigen Objekten umgewandelt wurden.”[20] Die meisten von uns heute erleben bei weitem nicht die Brutalität von Treblinka; jedoch persistieren die Mechanismen, die verwendet wurden, um Häftlinge[21] zu unterwerfen, die Gefängnisse, die verwendet wurden, um sie einzusperren, und die zugrunde liegende Logik des Nazi-Deutschlands, die die Lager möglich machte, in Hülle und Fülle. Diejenigen, die die (fortlaufende) fünfhundertjährige Kolonisation von Turtle Island überlebt haben, werden sicherlich viele davon als die gleichen Methoden erkennen, die dazu verwendet wurden, ihr Volk zu verdrängen und auszurotten, und die weiterhin koloniale Staaten zu ihren Lasten dienen. Die Kolonisierung dieses Landes war schließlich eine große persönliche Inspiration für Hitler selbst.[22]   Aus verschiedenen Gründen hat die Geschichte diesen bestimmten Völkermord außergewöhnlich gemacht, aber ich habe verstanden, dass er Teil eine ununterbrochenen Kontinuität der (Klassen)herrschaft ist, die weder mit Hitler begann noch mit ihm endete. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Nazis nicht alle ihre eigenen Lager bauen mussten (einige dieser Arbeiten wurden von den sozialdemokratischen Regierungen zuvor erledigt), noch mussten sie alle nach dem Krieg außer Betrieb setzen (die Sowjets nutzten einige davon gut).[23] Lasst uns auch nicht vergessen, dass die Nachkriegsprozesse gegen Nazi-Ärzte unter der ausdrücklichen Erkenntnis durchgeführt wurden, dass die meisten Regierungen der Welt schuldig sind an perversen, nicht einvernehmlichen Menschenversuchen. Besonders die Vereinigten Staaten, aus denen viele der Nürnberger Richter kamen, waren im 20. Jahrhundert an solchen brutalen, wissenschaftlichen Experimenten beteiligt, indem sie Gefangene mit Malaria-Plasmodien infizierten, zum Tode verurteilte Gefangene mit Pellagra infizierten oder die Auswirkungen von Kernstrahlung an allgemeinen Bevölkerungen testeten.[24] Die Nazis wurden nur deshalb für schuldig befunden (oder als diese in Erinnerung haften), weil sie den Krieg verloren haben. Ihre Lager waren nicht grundsätzlich einzigartig, obwohl sie sicherlich eine verheerende industrielle Note in das gesamte Konzept einbrachten. Giorgio Agamben hat treffend argumentiert, dass das Konzentrationslager das prägende Merkmal der modernen Politik ist, da es einen “Ort der Ausnahme” von der aufgeklärten Fassade der zivilisierten Gesellschaft darstellt.[25] In der Tat sehen wir heute überall, wohin wir schauen, Nazis am Werk, obwohl diese Parallelen oft zu kontrovers sind, um ausgesprochen zu werden. Und dennoch für diejenigen, die bereit sind, es zu sehen, vom Gazastreifen bis zum Toronto Immigration Holding Centre, von den Fabrikfarmen bis zu den Athabasca-Ölsande[26] , zeigt die Logik dieser Zivilisation weiterhin ihre wahren Farben.

Damit einige sicher leben können, müssen andere als Ballastexistenzen (Dt. im Original)[27] erklärt und gefesselt, verletzt und getötet werden. Damit Menschen gedeihen können, muss die Erde mit all ihren anderen BewohnerInnen unterworfen und verwüstet werden. Obwohl sich die Uniformen verändert haben und die Taktiken weiterentwickelt wurden, dauert der grundlegende Kampf gegen die (Klassen)herrschaft weiter an. Der Ausdruck “nie wieder”, oft von Opfern und Nachkommen des Nazi-Holocaust wiederholt, klingt mit jedem vergehenden Moment hohler.[28]


[1]     s. Langbein, S. 2.

[2]     s. Garlinski, S. 158. Die gelegentliche Verwendung von Superlativen in diesem Text sowie meine ausschließliche Konzentration auf den Nazi-Holocaust soll diese bestimmte Geschichte nicht über andere Erfahrungen des Leidens oder Völkermords stellen. Die Geschichte hat uns tragischerweise viel zu viele “furchtbare und hoffnungslose” Kämpfe gegeben, um solche kleinlichen Spiele zu spielen.

[3]     “Widerspenstigkeit”: Widerstand gegen Autorität oder Kontrolle; nicht gehorsam oder nachgiebig; schwer zu ‚managen‘.

[4]     s. Dark Mountain, S. 23.

[5]     s. Goldstein, S. 68. Hier beschreibt Goldstein den endlosen Strom von Leichen, der das Warschauer Ghetto verlässt.

[6]     s. Zlodey, S. 213.

[7]     s. A Conversation Between Anarchists. S. 15.

[8]     s. In Cold Blood, S. 9.

[9]     s. To Our Friends, S. 29.

[10]   s. Bæden, Vol. II, S. 8.

[11]   Ich habe den Term Anarcho-Nihilismus gewählt, um die spezifische Kollision anarchistischen und nihilistischen Denkens zu spezifizieren. Einige glauben, dass Nihilismus eine Strömung des Anarchismus ist (Aragorn!), während andere argumentiert haben, dass die anti-kapitalistische Position inhärent nihilistisch ist (Uncontrollable), was beide die Phrase “anarcho-nihilistisch” überflüssig macht. Phrasen wie “politischer Nihilismus”, “strategischer Nihilismus”, “bewusster Nihilismus”, “anarchistischer Nihilismus”, “nihilistischer Anarchismus”, “aktiver Nihilismus” und “schwarze Anarchie” scheinen alle auf den Moment hinzuweisen, wenn der Nihilismus aus seiner Langeweile heraustritt, um das Existierende anzunehmen. Da ich mich dem Nihilismus aus anarchistischer Perspektive genähert habe, schien mir die Phrase “Anarcho-Nihilismus” gut geeignet, obwohl ich an einigen Stellen aus Lesbarkeitsgründen diese Tendenz einfach als “Nihilismus” bezeichnet habe.

[12]    s. Nihilism, Anarchy, and the 211 Century, S. 19.

[13]   “Beide Geschlechter bevorzugten blau getönte Brillen und hohe Stiefel. Andere gemeinsame Merkmale waren ein schwerer Gehstock und eine Decke, die sie sich bei kaltem Wetter über die Schultern warfen; sie nannten es ein Plaid, aber es musste nicht zwangsläufig ein Tartan sein. Dazu kamen bei den Männern riesige Bärte und bei den Frauen Bobs, eine unersättliche Lust auf Zigaretten, ein ungepflegtes, schmutziges Erscheinungsbild sowie unhöfliches und unverblümtes Verhalten, was die neuen Menschen zu einem Anblick machte, den es sich zu betrachten lohnte.” (Nihilism, Anarchy, and the 21′1 Century, S. 7)

[14]   s. Nihilism, Anarchy, and the 21′1 Century, S. 8, 12.

[15]   Wikipedia behauptet derzeit, dass es sich um die verkehrsreichste und breiteste Autobahn der Welt handelt!

[16]   s. Attentat, S. 150.

[17]   Ein Wort, von dem sich der Anarcho-Nihilismus größtenteils gelöst hat.

[18]   “Lagers” (Dt. im Original, Anm. Übersetzer): Nazi-Konzentrationslager.

[19]   s. Wayne Prices The Meaning of World War II für eine nützliche anarchistische Interpretation des Zweiten Weltkriegs.

[20]   s. Langbein, S. 2.

[21]   Dt. im Original, Anm. Übersetzer.

[22]   s. Churchill, S. 308 .

[23]   s. Agamben, S. 167.

[24]   s. ebd., S. 157-159.

[25]   s. Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben.

[26]   Die Athabasca-Ölsande sind eine Ölsandlagerstätte im Bezirk Wood Buffalo in der Provinz Alberta im Westen Kanadas. Es gilt unter ÖkologInnen als eines der „größten Umweltverbrechen in der Geschichte.“ (Fußnote Übersetzer)

[27]   Hitlers bevorzugter Begriff für “unerwünschte und unnötige” Mitglieder der Gesellschaft.

[28]   Riesiger Respekt vor jenen Holocaust-Überlebenden, die ihre Erfahrungen in Solidarität mit anderen unterdrückten Völkern, insbesondere mit den PalästinenserInnen, verwandelt haben. Reuven Moskovitz, der die Blockade des Gazastreifens gebrochen hat, sagte: “Es ist für mich als Überlebender eine heilige Pflicht, gegen die Verfolgung, die Unterdrückung und die Inhaftierung so vieler Menschen im Gazastreifen zu protestieren, darunter mehr als 800.000 Kinder… Ich als Holocaust-Überlebender kann nicht damit leben, dass der Staat Israel ein ganzes Volk hinter Zäunen einsperrt.“

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