Riots und Nachbarschaftsorganisierung

Als Kulisse dieser Überlegungen lodern noch die Barrikaden im Hamburger Schanzenviertel: Duft der Freiheit, rauschhafte Grenzüberschreitung, polizeilicher Kontrollverlust. Augenblicke, im Aufbegehren gegen den G20 Gipfel nicht enden wollende Momente, die eine andere Welt sinnlich spürbar machen. Nicht als Konstruktionsplan – wer in welcher Verkrümmung auch immer die Gleichsetzung von Anarchie und Chaos stützt, kann nur gedanklich stolpern, weil der zweite Schritt vorab in den ersten grätscht. Das Aufflackern der anderen Welt im brennenden Auto oder Mülleimer ist die Eröffnung eines Möglichkeitenspielraumes: Die Staatsgewalt wurde zurückgeschlagen, die Regeln miteinander auf den Straßen diskutiert.

Das System der Herrschenden hat sich verwundbar gezeigt. Und zwar nicht abstrakt, es hat in der Herausforderung, eine renitente Minderheit mit enormen Mitteln der Repression in Zaum zu halten, schlichtweg versagt. Das ist die eigentliche, ermächtigende Erfahrung von Hamburg: angekündigt angegriffen und gewonnen – zumindest das System verwundet. Die Zerstörung als kreativer Akt, Notwendigkeit um das Neue zu erschaffen. Liebe Mitmenschen: Hier entsteht Platz für Affirmation. Das Neue wird auf den Ruinen des Alten gemeinsam zu kreieren sein. Alles andere ist nur Renovierung der niedergebrannten Paläste. Zum Teufel mit allen Avantgardist*innen, die aus dem Aufstand die Durchsetzung ihrer Wahrheiten ableiten.

Die Energie des Feuers von Hamburg speiste sich aus spontanen Verschwisterungen. In den Straßen traten Menschen aus unerwartet vielen sozialen Milieus kollektiv in Aktion. Arbeiteten unverabredet zusammen, ergänzten sich, passten auf sich auf und lernten voneinander. Die Dichte und Intensität der Offenbarung gesellschaftlicher Konfliktlinien dieser Tage in Hamburg scheint als Ausnahmesituation programmiert: Organisierte Militanz, ausgegrenzte Subjektivität, postmoralischer Hedonismus, selbstbefreiende Reaktion, solidarische Umverteilung sowie gemeinsames Feindbild. Alles gilt für beide Parteien der Schlacht, die Herrschenden wie die Aufbegehrenden. Die einen allerdings vermögen bisher, ihre Exzesse alltäglich durchzuziehen. Während wir anderen nur punktuell in der Lage sind, diese Gemengelage so zu verschieben, dass die Dinge in unsere Richtung kippen. Die improvisierte Performance von Hamburg in den Alltag übertragen, den Riot als nachbarschaftliche Kampfform entwickeln, organisieren: das ist also die Lehre, die nun zu üben ist.

Um so mehr, als noch nicht herausgehoben wurde, wie entscheiden der zugewiesene Battleground für den symbolischen Sieg von Hamburg war. Das vermutlich einzige, was polizeitaktisch weitestgehend gelungen ist, war der vermutlich größte Fehler polizeilicher Strategie: die Schlacht in Sankt Pauli zu halten. Nur auf diesem widerständigen Territorium war dieser – immer noch hart umstrittene – Sieg zu erkämpfen: Durch den Rückhalt einer kampferfahrenen solidarischen Nachbarschaft. Rückzugsräume die geschmückt waren mit tausenden Transparente, Soundsystems die aufrührerisches Liedgut an alle verteilten, Versorgungsstellen für Wasser und Essen, überall rote Punkte an den Klingelschildern, die signalisierten, dass dort Fluchtwege offenstehen. Und von der erhobenen kämpferischen Faust über Applaus bis zum dezenten Zunicken alles, was an zwischenmenschlichem Respekt zollen und aufmuntern im Vorbeigehen möglich ist.

Das Gärbecken für eine explosive Mischung: Anwohner*innen und die bei ihnen auf der Couch schlafenden Angereisten wollten diesen Gipfel so nicht ablaufen lassen. Autonome und Partypeople schmissen ihre Flaschen auf ein ziellos machtexekutierendes Szenario aus Wasserwerfern, Räumpanzern und prügelnden Robocop-Hundertschaften. Organisierte Aktivist*innen und unorganisierte Nachbar*innen bauten Barrikaden und plünderten den Rewe. Und unverzichtbar: Jung und Alt, Kartoffeln wie Kanaken bepöbelten die patrouillierenden Einheiten – permanent tagelang. Der Song der Demoralisierung schallte unentwegt durch die Gassen: Ganz Hamburg hasst die Polizei! Gleichsam essenzieller Ausdruck des Minimalkonsenses dieser Hamburger Melange, welche den mächtigsten Fratzen des Systems die Show gestohlen hat.

Die ‚internationalen Krawalltouristen‘, die perspektivisch dennoch ihre eigene Terrordatenbank gewonnen haben, konnte sich also mit ihrem >Tout le monde detèste la Police< nicht dursetzen – vermutlich weil es melodischer aber daher auch weniger aggressiv aufheizend ist. Dennoch: die Initiative der organisierten drei Großen A‘s – Autonome, Antiautoritäre und Anarchist*innen (merke: Organisierung ist ungleich Organisation) bleibt selbstverständlich das entscheidende Moment für den Verlauf der Auseinandersetzungen. Auch wenn die hunderttausendfach geklickten Youtube-Videos mit Bullengewalt gegen Camps und Demonstration die antistaatliche Grundhaltung nachhaltig verbreitert und vertieft haben: Wer nun behauptet, die polizeiliche Eskalation sei verantwortlich für den Riot unterschätz entweder die eigene Handlungsfähigkeit oder stützt die herrschende Geschichte von guten und bösen Protestierenden. Sicher gilt, die spontanen Ausdrücke der Unzufriedenheit wären ohne die Choreographie von Anlässen und Anlaufstellen nicht möglich gewesen: campen, cornern, raven, in der Hölle willkommen heißen, fingern, schulstreiken, blockieren, demonstrieren und anderes präfiguratives Tun. Diese Dauerbespielung ließ die massive polizeiliche Besatzungsmacht als dehydrierte Irrläufer enden.

Warum es nun so wenig positive Bezugnahme auf diesen von unten hergestellten Ausnahmezustand gibt, aber so viele Distanzierungsansätze, bleibt rätselhaft. Gute Riots – schlechte Riots? Und alles immer möglichst differenziert? Ernsthaft? Distanzieren sie sich auch von Riots in den Banlieues oder Brotaufständen im Maghreb, weil ein alter als Barrikade Kleinwagen brannte? Wer immer noch den öffentlichen Diskurs der Mainstream-Medien verschieben will, hat offenbar – vor lauter kritischer Distanz – vergessen auf den Beat von Hamburg zu tanzen. Das kollektive Subjekt, das dort spontan in Aktion trat, die Schwingungen, die zwischen den leuchtenden Augen hin und her waberten, das unausgesprochene Einverständnis und überhaupt das Verständnis füreinander: mit einem mal wie weggeblasen der unerklärliche Erklärungsdruck über das ‚praktische politische Engagement‘, der oft gegenüber ‚fremden‘ Menschen auftritt. Die Barrieren zwischen ‚radikalen Linken‘ und vielfältigen Anderen lösten sich auf in den Barrikaden an den Kreuzungen, endlich standen wir gemeinsam auf einer Seite, e i n e soziale Bewegung.

Das kollektive Schaffen, die Momente der Vereinigung im Tun, die Solidarisierung in der gemeinsamen Grenzüberschreitung, sind nicht das die Ergebnisse, die wir in unserer politischen Alltagspraxis anstreben müssen, wenn wir in die Gesellschaft wirken wollen? Die Situationen kreieren, in denen die massive aufgestaute Wut – die (nicht zu vergessen) eine große Mehrheit der Bevölkerung auf die ein oder andere Weise teilt – einigermaßen zielgerichtet ausgelebt werden kann, wäre das nicht tatsächliches Empowerment? Müsste auf den Einladungsflyern zum Treffen von ‚Stadtteil Solidarisch‘ neben dem Üblichen: >Mieterhöhung? Zwangsräumung? Stress mit dem Arbeitgeber oder Jobcenter?< nicht ebenso >Kein Geld für die neue Playstation?< stehen? Und muss dabei der Riot nicht offensiv als mögliche Aktionsform in Stellung gebracht werden?

Die besitzstandswahrend rassistischen, nationalistisch-reaktionären, neofaschistischen Bewegungen experimentieren bekanntlich schon lange mit dem nachbarschaftlichen Riot: Hunderte brennende Flüchtlingslager singen ein klares, durchsetzungsmächtiges Lied davon. Umso dringlicher ist Initiative mit emanzipatorischem Anspruch gefragt. Nicht blos zum Riot, klar ist der Aufbau solidarischer nachbarschaftlicher Alltagspraxis strategisch wichtig, weil wie gesehen ein widerständiges Territorium die Kräfteverhältnisse in der Auseinandersetzung zu unseren Gunsten verschiebt. Aber eben auch für Riots oder andere Aktionsformen sind vorbereitende Gespräche und Übereinkünfte sowie vor allem das Erlebbarmachen unabdingbar. Der Aufbau einer echten Nachbarschaft wächst seinem Verlauf folgend organisch, die Notwendigkeit zum Abwehrkampf kann uns jedoch jederzeit ereilen. Gut, weil ein Sankt Pauli, eine widerständiges Territorium, eine rebellische Nachbarschaft kann nur kämpfend erschaffen werden. Im Vergleich mit defensiven, statischen Aktionsformen, wie etwa passiver Widerstand durch den Versuch der Blockade einer Zwangsräumung, haben Riots das Potential, aktiv die Situation zu bestimmen – und scheinen damit wesentlich anschlussfähiger für Menschen zu sein, die (noch) nicht aus tiefer antikapitalistischer Überzeugung handlen. Und die anhaltende Debatte bietet die traumhafte Chance, den Riot als politische Handlungsoption im direkten Austausch mit der – (bewusst oder unbewusst) sehnsüchtig auf Befreiung aus der alltäglichen Demütigung wartenden – Nachbarschaft auf den Plan zu rufen.

Sankt Pauli dieser Tage war eine Heterotopie, wenn auch noch maßgeblich bestimmt durch die bewaffneten Arme der Regierung, welche gewaltsam versuchten, die herrschende Ordnung sowie die Maske der angeblich heilen Welt aufrecht zu erhalten. Aber die Riots waren ja kein Phänomen (und sind es nie), das rund um die Uhr das Geschehen bestimmte. All die gelebte Solidarität inzwischen, der Endorphin-Rausch der vereinten Reproduktionsarbeit, wird diesen anderen Ort mindestens genauso weit hinaus über die Geographie Hamburgs und den Kalender der G20 verbreiten, wie die Adrenalin-Infusion, als wir kollektiv die Verantwortung für unseren Lebensraum übernahmen. Nicht weniger als die Gestaltung eines widerständigen Territoriums sollte das Ziel nachbarschaftlicher Organisierung sein. Die darüber hinausgehende Imagination eines sich selbst regierenden Stadtteils bietet positive Anknüpfungspunkte, die unser Manko der vorherrschenden Anti-Haltungen aufbrechen könnten. Den Riot in diesem Wirken wichtig nehmen, als strategische Option ein kollektives WIR zu formen, bietet die Chance, die Entwicklung einer tatsächlichen Gegenmacht von unten sprunghaft zu beschleunigen.

Foto: Robby Basler

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