Unsere Leichen leben noch

Sebastian Lotzer

I have changed my name so often

I′ve lost my wife and children

But I have many friends

And some of them are with me

Leonard Cohen, The Partisan

Ein kühler Samstagabend in Kreuzberg. Das niedersächsische SEK lungert mittlerweile in Bereitstellungsräumen herum, in den Medien jeden Tag neue RAF Pornos, in denen der Voyeurismus der stumpfen Massen mit intimen Details über schmuddelige Sofaüberwürfe und schlechten Möbelgeschmack gefüttert wird. Der Ausnahmezustand, der im Corona Modus zum permanenten wurde, erlebte seine Wiederauferstehung im besiegten Nachfolgestaat des NS in den 70er Jahren bei der Killfahndung nach den Kadern der Stadtguerilla, bzw. im polizeilichen Kreuzfeuer, dass das Leben von etlichen Unbeteiligten forderte, die fälschlicherweise für solche gehalten wurden. Dass der Prozess der Staatsfaschisierung eben auf jeden fundamentalen Widerstand zielte, erlebte im Herbst 1977 auch die Anti-AKW Bewegung, als bundesweit über 10.000 Bullen, teilweise mit Maschinenpistole im Anschlag um die 75.000 (!) Fahrzeuge durchsuchten, um eine Demonstration gegen den schnellen Brüter in Kalkar zu verhindern, die dann trotz Verbot und Ausnahmezustand mit 50.000 Menschen direkt am Bauzaun stattfand.

Die Erfahrung des grundsätzlichen staatlichen Angriffes auf alles, was antagonistischer Widerstand ist, die Sehnsucht nach einer realen organisierten Gegenmacht gegen diesen Apparat ließ die Herzen der Westberliner Hausbesetzerbewegung für die Illegalen und die Gefangenen aus dem bewaffneten Widerstand schlagen, auch wenn sie politisch wenig mit dem leninistischen Politik-und Geschichtsverständnis der RAF verband. Nun, da sowohl die Bewegung als auch die Stadtguerilla seit Jahrzehnten Geschichte sind, für viele nur noch blasse Schatten oder ein popkulturelles Zitat, hat die Festnahme von Daniela Klette in Kreuzberg am 26. Februar all das Verschüttete, auch und gerade der eigenen Geschichte, wieder ans Licht gezerrt. All der Ekel über die staatliche und mediale Hatz auf Daniela Klette, Ernst Volker Staub und Burkhard Garweg, die Wut über die Überfälle der Sondereinheiten mit Blendschockgranaten auf Wagenplätze und Ferienwohnungen, das grundsätzliche Bedürfnis nach einer Solidarität unter Genossen und Genossinnen, dass nicht nur ein Lippenbekenntnis, ein leere Blase reproduziert, das fundamentale Bedürfnis danach, die eigene Geschichte zu bewahren und zu verteidigen hatte nun an diesem Samstagabend über 700 Menschen aus drei, vier Generationen von politischen Militanten in Kreuzberg zusammengebracht.

“RAF, PKK, autonome Antifa”. Schnellen Schrittes setzt sich die Demonstration am Mariannenplatz in Bewegung, Parolen und Pyrotechnik, die Berliner Bullen fahren den heutigen Einsatz komplett mit eigenen Kräften, sicher ist sicher. Die besten Einsatzhundertschaften laufen von Anfang an auf beiden Seiten der Demo Spalier. Aber etwas ist anders als sonst. Das hier ist keines der sonstigen Politik-Events, für die die Haupstadtszene mittlerweile bekannt ist. Jeder und jede, der oder die heute hier ist, weiß genau warum. Man kann es an der Körperspannung der Masse ablesen, die anders ist als bei den ritualisierten Demos und Kundgebungen. Man merkt es am Verhalten der Bullen, die massiv auftreten, aber im Gegensatz zu sonst brav auf den Bürgersteigen bleiben, keine der sonst üblichen billigen Provokationen, kein ständiges Aufstoppen der Demo, die Führer des Einsatzes kleben hinter den Bullenketten direkt an der Demo dran, es liegt Spannung in der Luft. Eine Spannung, die sich an diesem Abend nicht entladen wird, weil es die Kräfteverhältnisse und der Organisierungsgrad nicht hergeben, die aber pulsiert und die Lungen und Herzen mit Sauerstoff flutet. Nach einer Stunde kreuz und quer durch den Kiez die überraschende Selbstauflösung der Demo an dem taktisch günstigsten Ort. Im Gegensatz zu den sonstigen Gewohnheiten schafft es diesmal der gesamte Frontblock geschlossen am Lausitzer Platz durch die Bullenketten zu fluten und zur Seite in die Dunkelheit auszubrechen. Eine überforderte Bulleneinheit versucht nachzueilen, wird aber mit Pyrotechnik auf Abstand gehalten. Sinnlos werden Bullenketten verschoben, rasen Wannen in die Seitenstraßen auf die Jagd nach Phantomen. Unsere Leichen leben noch…

Kundgebung in Solidarität mit Daniela Klette zum “Tag des politischen Gefangenen” am 17.März 2024 um 14:00 Uhr vor dem Frauenknast Vechta

Treffpunkt Parkplatz Franziskanerplatz/ Kleine Kirchstr.

Sebastian Lotzer aus dem Kreuzberger Nebel –  Berlin, den 10. März 2024

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